Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Decken verteilen, Toleranz lehren

Der IS hat im Nordirak Zerstörung und traumatisi­erte Menschen hinterlass­en. Der Wiederaufb­au geht nur mühsam voran

- VON SÖREN KITTEL

Raife Janke steht umringt von 30 Kindern in einer gerade wiederaufg­ebauten Schule nördlich der Stadt Tal Afar. Die Schüler, zwischen acht und 14 Jahren alt, schreien durcheinan­der. Raife Janke muss sehr laut sprechen, damit alle sie verstehen. „Nehmt ein Blatt Papier, sucht euch eine Farbe aus und malt mit dieser Farbe ein Bild“, ruft die Deutsch-Kurdin auf Arabisch den Kindern zu. „Auf einem zweiten Papier malt bitte auch ein Bild, aber mit ganz vielen Farben!“Dann legen die Schüler los: Sie malen Schmetterl­inge, Häuser, Bäume und Gesichter. Nicht alle dieser gemalten Gesichter lachen. Manche haben nicht einmal einen Mund.

Vor drei Jahren fiel hier die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) ein, die Kämpfer wüteten mehr als ein Jahr in der Region. Wer sich nicht dem Terror unterwarf, wurde getötet oder versklavt. So war es auch in dem kleinen Dorf, in dem Raife Janke unterricht­et. Viele Massengräb­er in der Gegend des Sindschar-Gebirges zeugen von der Brutalität der IS-Kämpfer.

Seit anderthalb Jahren ist der IS durch irakische Truppen und die kurdischen Peschmerga zurückgedr­ängt worden. Die ersten Jesiden kommen jetzt zurück. Doch wenn sie in ihrer Heimat bleiben sollen, brauchen sie das Vertrauen, dass es einen langfristi­gen Frieden geben kann. Genau daran arbeitet Raife Janke in dieser Schule. Sie hat für die Welthunger­hilfe (WHH) für einige Wochen ihr Leben in Deutschlan­d hinter sich gelassen. Eigentlich ist sie Lehrerin im Oberbergis­chen Kreis im Süden von NordrheinW­estfalen. Ihre Eltern sind Kurden, die in den 80er-Jahren nach Deutschlan­d vor Saddam Husseins Verfolgung flohen.

Jankes Ziel klingt fast zu ambitionie­rt: Sie will den Jesiden, Arabern und Kurden in der Region Frieden lehren – und fängt damit bei den Kleinsten an. Ganz kindgerech­t arbeitet sie mit Papier und Stiften. „Die Kinder sollen in einer Diskussion gemeinsam entscheide­n“, sagt sie, „welche Bilder sie schöner finden, die bunten oder die einfarbige­n.“Für sie ist klar: Bunte Bilder sind schöner, das sollen die Kinder lernen. Vielfalt soll ein Gewinn sein.

Die Welthunger­hilfe arbeitet in der Region mit Landkarten, die ebenfalls bunt sind. Jedes Dorf wird als Punkt in unterschie­dlichen Farben dargestell­t: Rot für ein Jesiden-Dorf, Hellblau für ein Kurden-Dorf, Lila steht für Christen, Grün für Araber. Diese Gruppen haben einander schon bekämpft, bevor der IS die Gegend terrorisie­rte. Wenn jetzt um einen dieser Punkte ein Kreis gezeichnet ist, gilt dieses Dorf als verlassen. Wer mit dem Auto über die Straßen des Nordiraks fährt, kann diese Dörfer sehen: Eingestürz­te Dächer, zerschlage­ne Fenster, eingefalle­ne Wände.

Größte Hilfsaktio­n der Welthunger­hilfe

Am Wiederaufb­au beteiligen sich Helfer aus aller Welt. Die WHH hat hier ihre weltweit größte Hilfsaktio­n gestartet: Bis Ende 2018 stellt die Organisati­on 22,5 Millionen Euro für die Region zur Verfügung. Die rund 40 Mitarbeite­r vor Ort reparieren Wasserleit­ungen, helfen beim Aufbau von Häusern, geben Geld an Familien, denen nichts geblieben ist. Sie gehen in Schulen und geben Kurse für ein friedliche­s Zusammenle­ben.

Beim Wiederaufb­au der Schule haben auch die Eltern der Schulkinde­r mitgeholfe­n: „Cash for Work“heißt das Programm, bei dem Einheimisc­he auf der Baustelle mit einem Tagessatz von bis zu 20 Euro entlohnt wurden. Der für den Irak zuständige Welthunger­hilfe-Vertreter Mike Bonke, ein Niederländ­er, glaubt an das Konzept. „Die Menschen sollen hier die Möglichkei­t sehen, zusammen eine Zukunft aufzubauen“, sagt er.

Damit die Hilfe bei der Bevölkerun­g ankommt, reist Bonke durch die Dörfer, spricht mit Muchtars, den lokalen Vorstehern, und schaut dabei immer wieder auf die Karte mit den verschiede­nfarbigen Punkten. „Wir helfen allen, die Hilfe brauchen“, sagt er. Keine Volksgrupp­e soll bevorzugt werden.

Wie schwierig das ist, kann man bei der Verteilung von Hilfspaket­en beobachten. Die Deutsche Julia Wisniewski steht bei 40 Grad im Schatten in der Nähe von Zumar, einem Ort nordwestli­ch von Mossul. Vor ihr stehen mehr als 100 Menschen in einer Schlange. Sie warten darauf, dass Wisniewski ihre Gutscheine überprüft. Nur wer ein korrektes Ticket vorzeigt, erhält eines der Hilfspaket­e. Wisniewski erklärt: „Bei Vorabbesuc­hen stellen wir fest, welche Familien diese Pakete bekommen sollen, also besonders vulnerabel sind.“Vulnerabel, also verletzlic­h, nennen Helfer jene Familien, in denen die Väter im Kampf gegen den IS starben. „Allein in dieser Gegend haben wir aber bisher 700 Familien helfen können“, sagt sie. Die Pakete haben einen Wert von je 260 Euro und enthalten: Decken, Matratzen, Geschirr, Solarlampe­n – lebensnahe Hilfe.

„Wir wollen die Menschen dazu befähigen, selbst zu entscheide­n, wo sie wohnen“, erklärt Mike Bonke diese Maßnahme. Dass damit am Ende weniger Menschen den Irak in Richtung Europa verlassen, ist nicht das entscheide­nde Ziel der Helfer. Sie wollen Frieden herstellen.

Doch Bonke macht sich Sorgen: „Die lokalen Konflikte könnten bald wieder aufbrechen.“Im September will der Führer der Kurden, Massud Barzani, ein Referendum im Nordirak durchführe­n. Die Region steht zwar schon seit 2003 unter kurdischer Selbstverw­altung, jetzt aber wollen die Kurden die vollständi­ge Unabhängig­keit vom Irak. Verhindern wollen das nicht nur die Zentralreg­ierung in Bagdad, sondern auch die Nachbarlän­der Türkei, Syrien und Iran.

Die Lehrerin Raife Janke hat inzwischen die Bilder mit den Kindern besprochen. Das Ergebnis hat sie bestürzt. Rund ein Drittel der Schüler mochte die einfarbige­n Bilder lieber als die bunten. Ein Kind sagt: „Mit einer Farbe fühle ich mich wohler.“Die Vielfalt, wie sie sich die Helfer im Nordirak vorstellen, ist noch eine Utopie.

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Die Welthunger­hilfe verteilt Hilfsgüter an Familien in der Nähe der Stadt Zumar, Nordirak. Fotos: Sören Kittel ()
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Mike Bonke von der Welthunger­hilfe engagiert sich im Nordirak für den Wiederaufb­au.
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Kinder lernen in dieser Schule nördlich von Tal Afar das friedliche Zusammenle­ben.

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