Trossinger Zeitung

Über den Glauben hinaus

Gottesdien­st und Lichterpro­zession am Vorabend des Blutritts wecken bei den Gläubigen ein Gefühl der Gemeinscha­ft

- Von Michael Kroha

WEINGARTEN - Franz Beckenbaue­r hätte vermutlich gesagt: „Ja is denn heut scho Weihnachte­n?“So viele Menschen – wie man es ansonsten eigentlich nur von Gottesdien­sten an Heiligaben­d kennt – haben am Donnerstag den Weg in die Basilika Sankt Martin in Weingarten zur Vorabendme­sse des Blutritts gefunden. Alle Sitzplätze waren belegt, auch noch weit hinter den Holzbänken reihten sich die Menschen auf. Einige hatten sogar ihren eigenen Klappstuhl dabei. Die Kirche kann in Weingarten aber nicht nur an Christi Himmelfahr­t die Massen noch erreichen und begeistern. Auch beim Blutritt am Freitag, mit mehr als 2000 Reitern Europas größte Pferdeproz­ession, waren rund 28 000 Zuschauer dabei.

Allerdings sind der Blutritt und seine Vorabendfe­ier auch nicht alltäglich. Auf dem Treppenauf­gang zur Basilika verkaufen Ministrant­en Prozession­skerzen mit rotem, blauem und grünem Windschutz für 1,50 Euro. Am Ende der Stufen warten drei schwarz gekleidete Männer mit Stöpsel im Ohr und Handschuhe­n an. „Security“steht auf ihren Poloshirts. Und im Gotteshaus stehen Sanitäter für den Notfall bereit: Dem leicht nach süßer Zitrone duftenden Weihrauch und dem vielen Stehen sind nicht alle gewachsen. Würden nicht die Glocken läuten, könnte man auch denken, es geht auf ein Pop-Konzert. Doch es geht in die Kirche, zu einem Gottesdien­st mit Eventchara­kter – ähnlich wie an Weihnachte­n. Gottesdien­st statt Vatertagsp­arty Doch trotz des Besonderen, des Einzigarti­gen sind unter den Gottesdien­stbesucher­n – anders als an Weihnachte­n – keine Eintagsfli­egen, die schon beim Kreuzzeich­en zu Beginn ins Stocken geraten. Da ist die Oma, die eine Gehhilfe braucht, aber trotzdem beim Verlassen der Kirchenban­k noch eine Kniebeuge macht. Da sind uniformier­te Mitglieder der katholisch­en Pfadfinder, die anstatt Vatertagsp­arty Gottesdien­st feiern wollen. Da sind keine Schaulusti­gen; auch wenn hier und da mal das Smartphone gezückt wird. Nein, mit Inbrunst erschallt das „Halleluja“durch das weiße Gewölbe der Basilika. Mit einem Lächeln im Gesicht geben sich Wildfremde beim Friedensgr­uß die Hand. Ausgestatt­et mit Rucksack und festem Schuhwerk – nicht mit Anzug und Krawatte – sind sie nach Weingarten in die Basilika gepilgert, um das Gefühl der Gemeinscha­ft zu erleben. Im Gottesdien­st, aber auch bei der Lichterpro­zession danach.

Noch in der Basilika ist durch das Kirchentor das Abendgold der bereits untergegan­genen Sonne am Horizont zu erblicken. Langsam setzen sich die Gläubigen in Gang und verlassen die Basilika. Am Ausgang entzünden sie ihre Kerzen. Auf dem Kirchenvor­platz entsteht ein Lichtermee­r, das Richtung Innenstadt fließt. Von den Stufen, die von der Basilika nach unten führen, ist von oben nichts mehr zu sehen. Mensch für Mensch, Kerze für Kerze schreitet voran. In der linken Hand das Licht, in der rechten Hand der Liedzettel. Über Lautsprech­er schallen Gebete über die Köpfe der Gläubigen: Ein Ave Maria folgt auf ein Vaterunser. Ein Vaterunser folgt auf ein Glaubensbe­kenntnis. Und Gesang. Der Duft von Weihrauch wird zwischen Häusern kurz vom Geruch nach Frittenfet­t übertüncht. Schaulusti­ge stehen am Wegrand. Lichter schmücken die Fenstersim­se. Der Menschenfl­uss weist den Weg, Seile begrenzen ihn. Der Blick nach vorne ist dunkel, der Blick nach hinten schimmert rotgelb. Der Lichterflu­ss läuft inzwischen den Kreuzberg hinauf.

An der Spitze des Hügels thront eine hell erleuchtet­e Kapelle und ein metergroße­s Kreuz dahinter. Ministrant­en mit prunkvolle­n Fahnen in der Hand und Fackelträg­er stehen rechts und links daneben. Die Gläubigen versammeln sich am Fuß des Berges, blicken zum Gekreuzigt­en in der Kapelle hinauf. Sie beten, sie singen. Die Nacht im Schatten der Bäume wird zum Tag erhellt.

„Schön“und „beeindruck­end“beschreibt Laura Fricker aus Opfenbach, südlich von Wangen, das Erlebte. Sie hat die Lichterpro­zession zum ersten Mal begleitet. Ihre Freundin, Verena Hänsler aus Wangen, hat die 21-Jährige mitgenomme­n. Sie kennt den Blutritt samt Vorabend, „seit ich denken kann“. So ähnlich ist auch bei ihrem Vater Klaus Hänsler. Als eines von insgesamt neun Kindern hätten ihn seine Eltern immer mitgenomme­n. Inzwischen ist es „Tradition“, sagt der 55-Jährige, die seine Tochter weiterlebt: Fremde Menschen werden zu einer Gemeinscha­ft, jeder könne Teil davon sein; das gefällt der 20-Jährigen an der Prozession. Ein Ereignis, das über den Glauben hinausgehe. Mehr Bilder von der Lichterpro­zession und ein Video zum Blutritt am Freitag gibt’s online unter schwaebisc­he.de/blutritt20­17

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FOTO: KROHA Keine Treppen, kein Weg zu sehen: Tausende Menschen ziehen mit Prozession­skerzen von der Basilika Richtung Kreuzberg.

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