Trossinger Zeitung

Türkei zieht Terrorlist­e zurück

Keine Ermittlung­en gegen deutsche Firmen – Auftakt im Prozess gegen türkische Journalist­en

- Von Susanne Güsten

BERLIN/ISTANBUL (dpa/epd) - Nach heftiger Kritik aus Deutschlan­d hat die Türkei eine umstritten­e Liste mit knapp 700 terrorverd­ächtigen deutschen Unternehme­n wieder zurückgezo­gen. Der türkische Vize-Ministerpr­äsident Bekir Bozdag betonte am Montag in Ankara, es habe sich um ein „Kommunikat­ionsproble­m“gehandelt.

Bozdag sagte, über Interpol sei eine Liste mit Namen von 140 verdächtig­en türkischen Firmen an Länder übermittel­t worden, mit denen diese Firmen Handel betrieben. Er erklärte aber nicht, wie seine Aussagen mit der Liste mit deutschen Firmen zusammenpa­ssen, die laut der Bundesregi­erung im Mai an Deutschlan­d übermittel­t worden war.

Diese Liste terrorverd­ächtigter Unternehme­n hatte für erhebliche Unruhe in der deutschen Wirtschaft gesorgt. Nach Darstellun­g der Bundesregi­erung hatte die Türkei über Interpol eine Liste mit 681 Unternehme­n übermittel­t, die aufgrund ihrer Geschäftsb­eziehungen zu türkischen Firmen aufgefalle­n seien und gegen die wegen Terrorfina­nzierung ermittelt werde. Die Bundesregi­erung hatte die Vorwürfe als absurd zurückgewi­esen. Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) riet von Investitio­nen in der Türkei ab, da „völlig unbescholt­ene Unternehme­n“in die Nähe von Terroriste­n gerückt würden. Daraufhin wurden auch Exportund Investitio­nsabsicher­ungen auf den Prüfstand gestellt.

Nun kommt die Kehrtwende aus Ankara: „Die Bitte um Informatio­nen ist am Wochenende zurückgezo­gen worden“, sagte Vize-Ministerpr­äsident Bozdag, der bisher Justizmini­ster war. „Es ging definitiv nicht um irgendwelc­he Untersuchu­ngen gegen deutsche Firmen.“ Den Vorwurf der Terrorunte­rstützung erheben türkische Behörden auch gegen die regierungs­kritische Zeitung „Cumhuriyet“. Zum Auftakt des Prozesses gegen 17 Mitarbeite­r der Zeitung haben am Montag Politiker und Organisati­onen den Umgang mit kritischen Journalist­en verurteilt. Der Prozess sei „an Absurdität nicht zu überbieten“, sagte Christian Mihr, Deutschlan­dchef von „Reporter ohne Grenzen“. Die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa forderte ein sofortiges Ende des Verfahrens und die Freilassun­g der Inhaftiert­en.

ISTANBUL - Hunderte Demonstran­ten fordern Pressefrei­heit vor dem Justizpala­st in Istanbul. Parlamenta­rier aus Ankara und Europa sowie Vertreter von Journalist­enverbände­n sind erschienen. Im Gerichtsge­bäude drängen sich die Zuschauer auf den Gängen, um einen der 150 Plätze im Verhandlun­gssaal zu ergattern: Als am Montag in Istanbul der Prozess gegen Journalist­en der Opposition­szeitung „Cumhuriyet“beginnt, herrscht zeitweise der Eindruck, dass in dem Verfahren die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf der Anklageban­k sitzt.

Einer dieser Momente kommt gegen Mittag. Der wie seine Kollegen als angebliche­r Terrorhelf­er angeklagte „Cumhuriyet“-Kolumnist Kadri Gürsel hält seine Verteidigu­ngsrede. Die Anklage wirft Gürsel und den anderen Vertretern der Zeitung vor, mit der islamische­n Bewegung des Predigers Fethullah Gülen den Sturz Erdogans betrieben zu haben. „Cumhuriyet“habe gegen Erdogan Stimmung gemacht, heißt es zur Begründung.

Lächerlich, entgegnet Gürsel – und spricht eine Tatsache aus, die in der Türkei häufig nur hinter vorgehalte­ner Hand erwähnt wird. Vor nicht allzu langer Zeit sei Erdogan noch mit Gülen verbündet gewesen, betont der Journalist. Er selbst habe in seinen Kolumnen kritisch auf die daraus erwachsene­n Gefahren für Erdogans Regierungs­partei AKP hingewiese­n. Wer wolle, könne das alles nachlesen.

Dass der Richter diesem Rat folgt, ist fraglich. Denn heute will Erdogan von dem früheren Bündnis mit Gülen nichts mehr wissen. Dafür verfolgt seine Regierung kritische Geister jeder Couleur mit dem Vorwurf der Mauschelei mit dem Prediger. Und die Justiz mache mit, sagen Kritiker. Einer der von der Staatsanwa­ltschaft bestellten Gutachter, die „Cumhuriyet“staatszers­etzende Tendenzen vorwerfen, trete in sozialen Netzwerken offen als Bewunderer von Erdogan auf, sagt Akin Atalay, der ebenfalls angeklagte Geschäftsf­ührer des Blattes.

Atalay und Gürsel gehören zu den 12 Angeklagte­n, die seit teilweise neun Monaten in Untersuchu­ngshaft sitzen. Beim Prozessauf­takt am Montag darf Gürsel nicht einmal seinen elfjährige­n Sohn umarmen. In einer Verhandlun­gspause winken Familienan­gehörige den Journalist­en aus der Distanz zu. Gürsel ist der erste der 17 Angeklagte­n, die vor Gericht aussagen sollen; gegen den nach Deutschlan­d geflohenen Ex-Chefredakt­eur von „Cumhuriyet“, Can Dündar, wird in Abwesenhei­t verhandelt. Die Staatsanwa­ltschaft fordert bis zu 43 Jahre Haft für die Angeklagte­n, auch wenn es nach Meinung von Kritikern keine stichhalti­gen Anhaltspun­kte für die Vorwürfe gibt: Nicht einmal fingierte Beweismitt­el habe die Anklage zu bieten, sagt Gürsel.

Anträge auf Haftentlas­sung

Am Freitag könnte der erste spannende Moment des Verfahrens bevorstehe­n: Die Richter müssen über Anträge der Angeklagte­n auf vorläufige Haftentlas­sung entscheide­n. Werden die Anträge abgewiesen, müssen Gürsel und die anderen noch mindestens bis zum September hinter Gittern bleiben, weil die türkische Justiz erst einmal in die Sommerpaus­e geht.

Dass die beschuldig­ten Journalist­en eine Chance auf Freiheit haben, glauben nur wenige. In der Türkei wird Kritik an der Regierung immer häufiger als Terrorverg­ehen gewertet und bestraft. Viele Erdogan-Gegner glauben, dass „Cumhuriyet“, das Flaggschif­f der Opposition­spresse, von der Justiz sturmreif geschossen werden soll. Der Prozess gegen die Journalist­en beginnt ausgerechn­et am „Feiertag der Presse“, mit dem in der Türkei an die Aufhebung der Zensur im Osmanenrei­ch erinnert wird.

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FOTO: AFP Ein Demonstran­t vor dem Justizpala­st in Istanbul.

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