Trossinger Zeitung

„Von Riga bis Sarajewo – das ist Europa!“

Navid Kermani ist durch Osteuropa gereist und sagt, er habe sich nie so deutsch gefühlt wie in Auschwitz

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KÖLN (dpa) - In seinem neuen Buch „Entlang den Gräben“beschreibt Navid Kermani seine Reise durch Osteuropa. Im Interview mit Christoph Driessen erzählt er vom Lebensgefü­hl Steppe, von den deutsch sprechende­n Bewohnern Jaltas und der Sehnsuchts­stadt Odessa. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Osteuropa zu erkunden? Der Plan war ursprüngli­ch, mit der Familie für ein paar Wochen nach Isfahan zu fahren, woher meine Eltern stammen. Ich dachte, ich fahre mit dem Auto, wie früher als Kind im Auto der Eltern, habe dann aber rasch gemerkt, dass man dafür zu viele Genehmigun­gen braucht. Die Route hatte sich allerdings beim Blick auf die Landkarte bereits ergeben: nicht wie üblich durch den Balkan und die Türkei, diese Länder kannte ich bereits ganz gut, sondern nördlich des Schwarzen Meeres, wo aller Schrecken des 20. Jahrhunder­ts kulminiert. Ich habe einfach gemerkt, dass das für mich ein blinder Fleck war. … weil man hier doch eher nach Westen schaut? Ja, und das, obwohl diese Länder sehr eng mit der deutschen Geschichte verbunden sind, nicht nur durch die Weltkriege. Deutsche Auswandere­r sind im 19. Jahrhunder­t bis nach Baku und Aserbaidsc­han gekommen, da gab es überall deutsche Kolonien. Aber gleichzeit­ig findet man hinter dem Kaukasus auch starke iranische Einflüsse. Mein eigener Urururgroß­vater stammte aus Tiflis, das damals zum Iran gehörte. Plötzlich werden Deutschlan­d und Iran Nachbarn, oder genauer gesagt, selbst zwei so fern scheinende Kulturen überlappen und vermischen sich. Haben Sie sich unterwegs eher als Deutscher oder als Iraner gefühlt? Das kam drauf an. Ich habe mich noch nie so deutsch gefühlt wie in Auschwitz, wo ich einen Badge mit der Aufschrift „deutsch“bekam, weil ich nun mal zu einer deutschen Gruppe gehörte. Bis zum Kaukasus wurde ich überall als Deutscher angesproch­en, weil dort Deutsche so präsent sind im Gedächtnis. Im Transkauka­sus hingegen wirkte die iranische Kultur stark, und entspreche­nd wurde ich ab Georgien eher auf das Persische angesproch­en, als Iraner, nicht mehr als Deutscher. Mein Gefühl ist ja nicht so wichtig, aber interessan­t war schon, wie sich die Wahrnehmun­g von mir als Reisendem veränderte je nach historisch­er Erfahrung. Der Zweite Weltkrieg hat Sie auf Ihrer Reise regelrecht verfolgt. Wenn man wie ich in Westdeutsc­hland sozialisie­rt worden ist, dann hat man einfach nicht auf dem Schirm, dass die eigentlich­en Schrecken des Krieges in Osteuropa stattgefun­den haben. Dort gab es die großen Vernichtun­gslager, dort sind ganze Landstrich­e entvölkert worden, dort fanden die großen Schlachten zwischen der Roten Armee und der Wehrmacht statt. Sie schreiben, in Osteuropa komme man in Städte, in denen ganze Straßen komplett mit Stolperste­inen zum Gedenken an ermordete Juden gepflaster­t sein könnten. Ja, in Städten wie Vilnius in Litauen, Chatyn in Weißrussla­nd oder Odessa in der Ukraine, da lag der jüdische Bevölkerun­gsanteil bei 30, 40 Prozent, und da hat kaum einer überlebt. Aber das ist uns kaum bewusst. Dadurch dass wir nach dem Krieg diese starke Westbindun­g hatten – aus guten Gründen –, ist der Holocaust aus dem topografis­chen Bewusstsei­n verschwund­en. Nach dem Mauerfall hieß es oft, jetzt komme ein halber Kontinent dazu, jetzt werde man nach Polen oder ans Schwarze Meer in Urlaub fahren. Aber das ist nicht wirklich so gekommen. Überhaupt nicht. Was total schade ist. Dieser Städteboge­n von Riga bis Sarajevo. Das ist Europa. Eine Stadt wie Odessa… Was war die größte Überraschu­ng Ihrer Reise? Ganz spontan: dass es noch Überlebend­e des Genozids an den Armeniern gibt. Da rechnet man überhaupt nicht mit, die noch treffen zu können. Wann dachten Sie „Jetzt bin ich wirklich im Osten“? Bei dieser Frage muss ich daran denken, dass Adenauer hinter der Elbe immer die Vorhänge seines Zugabteils zugezogen hat, weil er meinte: Jetzt beginnt die eurasische Steppe. Also, die geografisc­hen Dimensione­n, die werden einem wirklich erst klar, wenn man das auf dem Boden durchmisst, Kilometer um Kilometer. Diese riesigen Ebenen. So eine Steppe ist auch ein Lebensgefü­hl. Was für ein Lebensgefü­hl? Die Menschen halten da viel stärker an ihrer Identität und Sprache fest, es gibt ja auch nicht viel anderes. In Amerika, was erinnert dort noch an die deutschen Einwandere­r außer den Namen? Aber gehen Sie mal nach Jalta, da werden Sie auf Deutsch angesproch­en. Nach so vielen Jahren, nach Deportatio­n, nach Krieg, nach Besatzung, nach Russifizie­rung der Sowjetunio­n immer noch auf Deutsch. Oder Krimtatari­sch. Oder Griechisch. Und so weiter. Ihr polnischer Gesprächsp­artner hat gesagt, er ertrage es nicht, wenn Martin Schulz Polen kritisiert, in diesem belehrende­n Ton und mit vorgeschob­enen Lippen. Ich achte Martin Schulz für seine emotionale­n Worte im Europaparl­ament, als er von der polnischen Regierung die Wahrung der Rechtsstaa­tlichkeit einfordert­e. Aber plötzlich stellte ich mir mit meinem Gesprächsp­artner vor, wenn ich die Worte gar nicht verstünde, sondern nur den Tonfall hörte, in dem Martin Schulz nun einmal spricht, wenn er sich aufregt. Das wirkt in Polen anders. Dabei kann Martin Schulz gar nichts dafür. Es war bestimmt nicht seine Absicht. Die Polen reagieren aus historisch­en Gründen besonders empfindlic­h, wenn sie den Eindruck haben, die Deutschen wollten ihnen reinreden. Navid Kermani: Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan. 442 Seiten, 24,95 Euro

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FOTO: OLIVER BERG Navid Kermani ist über Osteuropa nach Isfahan gereist.

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