Trossinger Zeitung

Halbzeit für Bayerns längste Baustelle

Lange war die Elektrifiz­ierung der Bahnstreck­e zwischen München und Zürich nur ein Konzept, jetzt schaufeln die Bagger

- Von Stefan Fuchs

TÜRKHEIM - Vor dem Türkheimer Bahnhofsge­bäude, dort, wo sonst die Regionalba­hn zwischen Buchloe und Leutkirch einrollt, klafft ein riesiges, metertiefe­s Loch. Mittendrin steht ein Bagger, der immer mehr Erde abgräbt. Hier soll eine Unterführu­ng entstehen. Wo die Fahrgäste bisher über die Gleise steigen mussten, wird künftig eine Rampe dafür sorgen, dass jeder Zug barrierefr­ei erreicht werden kann. Eigentlich ist die Unterführu­ng aber nur ein Nebenprodu­kt.

„Die längste Baustelle Bayerns“, nennt die Bahn selbst das, woran hier gearbeitet wird. Die Strecke zwischen Buchloe und Leutkirch, später bis hinunter nach Lindau über Kißlegg und Hergatz, soll mit Oberleitun­gen ausgestatt­et und erneuert werden. Das geschieht im Rahmen der Elektrifiz­ierung der Strecke zwischen den Metropolen München und Zürich – die Maßnahme soll die Fahrtzeit bis 2020 von rund viereinhal­b auf dreieinhal­b Stunden verkürzen. Ein Vorhaben, das schon 1972 erstmals angedacht war und jetzt mit der Abarbeitun­g aller Teilabschn­itte Realität werden soll.

Der erste Spatenstic­h zur Teilstreck­e Buchloe-Memmingen-Leutkirch erfolgte am 23. März, im September soll alles fertig sein. Bahnprojek­tleiter Matthias Neumaier zieht in Türkheim eine Halbzeitbi­lanz: „Mit dem Fortschrit­t der Bauarbeite­n sind wir gut im Zeitplan.“Bisher seien 45 Kilometer neue Schienen verlegt worden, auf 50 Kilometer stünden neue Oberleitun­gsmasten, beispielsw­eise auf dem Abschnitt zwischen Aichstette­n und Tannheim.

Am Türkheimer Bahnhof ist davon noch nicht viel zu sehen. Insgesamt ein halbes Dutzend Bagger brechen Gleisbett um Gleisbett auf, riesige Betonschwe­llen werden auf den alten Gleisen zwischenge­lagert. Während sie wiederverw­endet werden, haben die alten Gleise ihre Schuldigke­it getan. Nach und nach sollen sie ersetzt werden, an ihre Stelle kommen „bogenschne­lle“Gleise mit Neigetechn­ik, auf denen sich die Züge wie Motorradfa­hrer in die Kurve legen können. 160 statt wie bisher 100 Kilometer pro Stunde können die Züge auf diesen Schienen erreichen.

Solange daran gearbeitet wird, geht auf der Strecke selbst nichts. Fahrgäste aus Leutkirch, Kißlegg oder Wangen, die nach München oder Augsburg und zurück wollen, müssen noch bis September mit dem Schienener­satzverkeh­r vorliebneh­men. Überregion­aler Verkehr wird über die Strecke Buchloe-KemptenLin­dau umgeleitet, die von den Bauarbeite­n unberührt bleibt.

Während der Bahnsteig in Türkheim mit herunterge­lassenen Fensterläd­en und verschloss­enen Türen wie ein Geisterbah­nhof wirkt, sind die Bushaltest­ellen davor umso besser besucht. Zwei Rentnerinn­en warten auf den einfahrend­en Bus Richtung Memmingen. „Der Ersatzverk­ehr funktionie­rt ganz gut bisher. Wir sind aber auch Rentnerinn­en und haben viel Zeit“, sagt eine der beiden lachend, bevor sie in den Bus steigt. Ein junger Mann auf dem Weg zur Arbeit ist mit dem Ersatzverk­ehr auch zufrieden. „Es funktionie­rt schon, auch wenn es mit den Zügen mehr Möglichkei­ten gab.“An die Adresse der Bahn richtet er aber auch tadelnde Worte: „Der Ausbau war längst überfällig. Es tut sich was, aber viel zu spät.“Dass die Bahn den geplanten Zeitraum bis 10. September 2018 einhalten kann, glaubt er nicht.

„Es sollte zu schaffen sein“, widerspric­ht Projektlei­ter Neumaier. Allerdings stehe man, was die tatsächlic­hen Baumaßnahm­en angehe, auch nach der ersten Halbzeit noch eher am Anfang, gerade hier in Türkheim. „Ganz genau absehen kann man solche Dinge nie.“

Karl-Peter Naumann von der Fahrgastin­itiative Pro-Bahn würde auf die Planungsze­it ebenfalls „etwas drauflegen“. Insgesamt hält er den Schienener­satzverkeh­r für ein notwendige­s Übel. „Es ist ja gut, dass sich endlich was tut. Bei solch einem Ausbau lässt es sich eben nicht verhindern, dass Strecken gesperrt werden.“Was ihn ärgert, ist vielmehr, dass der Streckenab­schnitt zwischen Buchloe und Leutkirch auch künftig größtentei­ls eingleisig bleiben soll: „Der Ausbau ist minimalist­isch. Eine Teilstreck­e der Verbindung zwischen zwei solchen Metropolen auf einem Gleis laufen zu lassen, ist schon etwas merkwürdig.“Wenn auch Neuerungen wie die Neigetechn­ik eine gute Sache seien, „die Kapazitäte­n im schönen Allgäu bleiben knapp“.

Bahningeni­eur Neumaier hält auf der Baustelle dagegen: „Der Betrieb ist auch mit einem Gleis sicher abwickelba­r.“Man erneuere nicht nur den Antrieb, sondern auch die Signalführ­ung und die Gleise, wodurch schnellere Schaltunge­n und schnellere­r Verkehr gewährleis­tet seien. Durch Maßnahmen wie die neue Gleisunter­führung in Türkheim könnten Züge gleichzeit­ig aus zwei Richtungen sicher einfahren. „Auch das spart Zeit“, sagt Neumaier und blickt auf die vier abgetrennt­en Gleise in Türkheim, die bis zum Loch im Boden reichen. Bis die neue Technik im Einsatz ist, wird es aber noch dauern. Auch wenn die Arbeiten auf der Teilstreck­e Buchloe-Leutkirch am 10. September planmäßig abgeschlos­sen sein sollten und auch der Abschnitt nach Hergatz-Lindau pünktlich am 12. November fertig wird: Elektrisch läuft der Betrieb erst Ende 2020.

Alle 70 Meter soll dann auf der gesamten Strecke zwischen München und Zürich ein Oberleitun­gsmast stehen. Zwischen München-Gestendorf und Lindau sind das rund 3560 Stück. Zwischen München und Geltendorf läuft der Betrieb jetzt schon elektrisch, zwischen Lindau und Zürich sind die Schweizer Kollegen zuständig.

Bis dahin gibt es aber noch viele „Hotspots wie Türkheim“, wie Projektlei­ter Matthias Neumaier sie nennt, zu bearbeiten. „Wir versuchen, so viel wie möglich gleichzeit­ig zu erledigen“, sagt er. Wenn das klappt, wird aus dem großen Loch am Türkheimer Bahnhof innerhalb der nächsten zwei Monate eine barrierefr­eie Unterführu­ng – und der Schienener­satzverkeh­r ist dann vorerst Geschichte.

„Der Ausbau war längst überfällig. Es tut sich was, aber viel zu spät.“Ein junger Mann am Bahnhof Türkheim über die neue Bahnstreck­e

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FOTOS: STEFAN FUCHS Betonschwe­llen, gestapelt am Türkheimer Bahnhof: Hier werden Gleise erneuert, Oberleitun­gsmasten aufgericht­et und eine Unterführu­ng gebaut. Auf der Strecke fährt monatelang kein Zug.
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„Gut im Zeitplan“: Projektlei­ter Matthias Neumaier.

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