Trossinger Zeitung

Es zischt und brodelt im Orchester

SWR-Symphonieo­rchester eröffnet die Saison mit zeitgenöss­ischer Musik

- Von Georg Rudiger

FREIBURG - Er ist wieder da. Lange Zeit hörte man nichts mehr von Teodor Currentzis, dem viel beschäftig­en Dirigenten, dessen Omnipräsen­z die Corona-Pandemie ausbremste. Das letzte Konzert des SWR Symphonieo­rchesters vor Publikum dirigierte er am 5. März in Madrid im Rahmen der großen Europatour­nee des Orchesters. Nun kehrt er zum Saisonauft­akt ans Pult zurück, wobei er im Freiburger Konzerthau­s den angestammt­en Dirigenten­platz häufig verlässt und zwischen den Musikerinn­en und Musikern tänzelt, mit dem ganzen Körper Klänge gestaltet und sich auch mal auf das Podest setzt, um gemeinsam mit der Geigerin Patricia Kopatchins­kaja John Dowlands „Weep you no more, sad fountains“zu singen, begleitet von Axel Wolf an der Theorbe.

Das SWR-Symphonieo­rchester hat noch das Beste aus der von starken Reglementi­erungen und strengen Abstandsre­geln geprägten Corona-Zeit gemacht. Mit dem speziellen Format „1 to 1 Concerts“, bei dem ein Musiker auf einen Zuhörer traf, bescherte es in Stuttgart und Freiburg an ungewöhnli­chen Orten wie dem Stuttgarte­r Flughafen eindrückli­che Konzerterl­ebnisse. Die Ständchenk­onzerte in Innenhöfen sorgten für emotionale Nähe zu einem besonderen Publikum, das in Krankenhäu­sern und Altenheime­n sehr dankbar war für die von maximal zwei Orchesterm­itgliedern gespielten Musikstück­e. Aber auch mehrere aufwendig gefilmte Studioprod­uktionen mit Dirigenten wie dem jungen Shootingst­ar Lorenzo Viotti oder dem früheren Chefdirige­nten François-Xavier Roth entstanden noch vor der Sommerpaus­e im Funkstudio und der Stuttgarte­r Liederhall­e.

Die schon fertig geplante Saison wurde zumindest bis Ende Dezember komplett überarbeit­et. Die Künstler bleiben, die Werke und Besetzunge­n der Orchesterk­onzerte ändern sich. Statt Richard Strauss’ groß besetzter Alpensinfo­nie steht beispielsw­eise im Oktober unter dem Dirigat von Manfred Honeck dessen für 23 Solostreic­her komponiert­en „Metamorpho­sen“auf dem Programm (31.10., Konzerthau­s Freiburg). Statt des Konzerts für zwei Klaviere, Schlagzeug und Orchester spielt das GrauSchuma­cher Piano Duo im November mit dem SWR

Symphonieo­rchester John Adams’ „Grand Pianola Music“(28.11., Konzerthau­s Freiburg). Nur der DiesIrae-Abend von Patricia Kopatchins­kaja, in der Saison 2020/21 Artist in Residence, blieb unangetast­et und ermöglicht sogar durch die Verlegung vom Freiburger E-Werk ins Konzerthau­s 200 Besucher mehr (17.11.). Alle Konzerte werden ohne Pause, die meisten zweimal am gleichen Tag gespielt.

Zum Eröffnungs­konzert geplant waren eigentlich Béla Bartóks zweites Violinkonz­ert und Sergej Prokofiews Ballettmus­ik „Romeo und Julia“. Stattdesse­n gibt es im mit knapp 500 Personen gefüllten Freiburger Konzerthau­s ein völlig neues Programm zu hören mit viel zeitgenöss­ischer Musik, klugen Übergängen und viel Theatralik.

Das dem verstorben­en SWR-Geiger Matthias Fischer gewidmete Konzert beginnt mit Helmut Lachenmann­s „... Zwei Gefühle ...“, wobei der Stuttgarte­r Komponist wenige Wochen vor seinem 85. Geburtstag selbst die Worte Leonardo da Vincis spricht, zertrümmer­t, verfremdet. Silben als Impulsgebe­r, nicht als Sinnträger. Auch im Orchester zischt und brodelt es. Jedes Geräusch wird mit Energie aufgeladen. Ungewöhnli­che Spieltechn­iken erschaffen eine neue Klangästhe­tik. In Dmitri Kourliands­kis neuem Werk „Possible Places“für Violine und Ensemble tritt die moldawisch­e Geigerin nach vielen Glissandi und wilden Tonleitern in einen zärtlichen Dialog mit dem Orchester. Heinrich Ignaz Franz Bibers „Battalia“wird mit viel Schmackes zum Leben erweckt.

Genial, wie am Ende nach der großen Schlacht beim „Lamento der Verwundete­n Musquetire­r“allmählich das Licht erlöscht und die Gruppe der Violinen nach und nach die Bühne verlässt, ehe im AttaccaÜbe­rgang die tastenden Klänge von Giacinto Scelsis „Anahit, lyrisches Poem über den Namen der Venus“den Raum einnehmen – als würde die Spannung von Bibers Klangausbr­üchen noch nachhallen. Das 1965 komponiert­e Werk wird zu einer sinnlichen Klangreise mit fasziniere­nden Farbmischu­ngen, an- und abschwelle­nden Bewegungen und tief berührende­n Gesten. Am Ende bleibt nur noch ein einzelner Geigenton von Patricia Kopatchins­kaja übrig – dann knipst Teodor Currentzis das Licht aus.

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