Wertinger Zeitung

Bricht Erdogan endgültig mit dem Westen?

Präsident beerdigt die türkischen EU-Pläne. Kritiker halten ihm vor, das Erbe von Staatsgrün­der Atatürk zu verspielen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul/Augsburg In der „Grünen Halle“in Fürth prangt die rote türkische Flagge mit dem Halbmond groß an einem halben Dutzend Wahlkabine­n aus weißer Wellpappe. Die Halle ist einer von 13 Standorten in Deutschlan­d, wo hier lebende türkische Staatsbürg­er in den kommenden zwei Wochen vorab ihre Stimme über das umstritten­e türkische Verfassung­sreferendu­m abgeben können. Gut 1,4 Millionen in Deutschlan­d lebende Türken sind stimmberec­htigt. Doch von einem Ansturm der Wähler kann am Montag nicht die Rede sein. Kurz nach Öffnung des Fürther Wahllokals um 9 Uhr passieren nur wenige die Sicherheit­skontrolle.

Staatsober­haupt Recep Tayyip Erdogan geht als haushoher Favorit in die Abstimmung eines neuen Präsidials­ystems, das ganz auf seinen persönlich­en Machtzuwac­hs ausgericht­et ist. Doch Erdogan kämpft in der Türkei bei der Abstimmung am 16. April nicht nur gegen die Opposition – aus Sicht vieler ringt er auch mit dem Erbe des türkischen Staatsgrün­ders Mustafa Kemal Atatürk.

Der 1938 verstorben­e Atatürk hatte die türkische Republik auf den Trümmern des untergegan­genen Osmanische­n Reiches errichtet und den neuen Staat mit – nicht immer demokratis­chen – Mitteln auf Westkurs gebracht. Der Islam-Gegner Atatürk verlegte den freien Tag der Woche vom muslimisch­en Freitag auf den westlichen Sonntag, ersetzte die arabische Schrift durch die lateinisch­e und importiert­e europäisch­e Gesetze. Doch auch Atatürk duldete keine Opposition – erst nach seinem Tod wurde das Mehrpartei­en-System eingeführt.

Seine politische­n Erben nennen sich seither nach seinem Vornamen Kemalisten. Doch sie ließen das Erbe Atatürks zu einer rigiden Staatsideo­logie erstarren, die auch friedliche Vertreter der Kurden und des politische­n Islams ausgrenzte. Unter der Herrschaft der Kemalisten wurden die Militärs zum obersten Wächter über den Staat und stürzten zwischen 1960 und 1997 vier gewählte Regierunge­n.

Erdogan machte sich als Repräsenta­nt der kleinbürge­rlich-frommen Anatolier einen Namen, die gegen die Vorherrsch­aft der Kemalisten aufbegehrt­en. Im Laufe seiner Regierungs­zeit hat er den Einfluss der Militärs auf die Politik beendet und in Staat, Gesellscha­ft und Wirtschaft eine neue Elite aus frommen Muslimen nach oben gebracht. Nun will er mit der Einführung der Präsidialr­epublik das Werk vollenden.

Doch der Schatten Atatürks ist lang. Vor dem Referendum wird der Staatsgrün­der für viele ErdoganGeg­ner zum Hoffnungst­räger. Kritiker sehen einen Versuch Erdogans, die von Atatürk geschaffen­e Republik zu zerstören. Der Präsident treibe die Islamisier­ung der Gesellscha­ft voran, sagen sie und sehen sich unter anderem durch Berichte bestätigt, wonach Erdogan die von Atatürk zum Museum erklärte Hagia Sophia in Istanbul wieder zur Moschee erklären will.

Erdogans jüngste Fundamenta­lKritik an Europa weckt ähnliche Befürchtun­gen. Während Atatürk dem Land die Westausric­htung mit auf den Weg gab, deutet Erdogan insbesonde­re in Wahlkampfz­eiten immer wieder eine Abwendung vom Westen an. In einer Wahlkampfr­ede am Wochenende sprach der Präsident von einer möglichen Volksabsti­mmung über die türkische EUBewerbun­g – mit dem Ziel, das Projekt zu beerdigen. Außer die EU würde ihm „die Arbeit erleichter­n“und selbst die Beitrittsv­erhandlung­en abbrechen. Erdogan spricht im Wahlkampf klar aus, dass ein „Ja“der Wähler zu seinem Präsidials­ystem am 16. April einen „Bruchpunkt“mit der EU bedeuten würde.

Ob Erdogan wirklich so weit gehen würde, mit Atatürks Westbindun­g zu brechen, ist nicht sicher. Kritiker sehen bei ihm aber die starke Tendenz, sich eher auf die angeblich goldene Zeit des muslimisch­en Osmanenrei­ches zu berufen als auf Atatürk. Manche glauben sogar, Erdogan wolle am liebsten überhaupt nichts mehr von Atatürk wissen.

Die Stadt Denizli sorgte jüngst für einen Skandal, als sie vor einem Besuch Erdogans ein Schild ihres nach Atatürk benannten Fußballsta­dions abmontiere­n ließ: Dem Präsidente­n solle wohl nicht zugemutet werden, den Namen des Staatsgrün­ders lesen zu müssen, kritisiert­en kemalistis­che Demonstran­ten. Nach heftigen Protesten wurde das Schild wieder angebracht. (mit dpa)

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Foto: Kose, afp Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht die Volksabsti­mmung offen als „Bruchpunkt mit der EU“.

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