Wertinger Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (30)

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Er brauchte Menschen um sich, Handel und Wandel, gute Restaurant­s und teure Kleidung, und mochte er auch nur halb schwul sein, war doch sein bester Freund ein schwarzer Transvesti­t, der mit glitzernde­n Klunkern am Ohr und einer rosa Federboa um den Hals zur Arbeit erschien. Wollte ein Mann wie Harry Brightman sich in ländlichen Gefilden niederlass­en, würden die umliegende­n Bauern ihn mit Mistgabeln und Messern zum Teufel jagen.

Anderersei­ts war ich mir relativ sicher, dass das von Harry erwähnte geschäftli­che Vorhaben nichts Unseriöses war. Der alte Halunke hatte irgendein Eisen im Feuer, und ich brannte vor Neugier, was das wohl sein mochte. Vor Tom hatte er nicht davon reden wollen, aber bei mir würde er ja vielleicht eine Ausnahme machen. Eine Gelegenhei­t ergab sich, kurz nachdem wir das Dessert bestellt hatten, als Tom sich entschuldi­gte und in die Bar ging, um eine Zigarette zu rauchen (die neueste

Taktik in seinem permanente­n Feldzug gegen überzählig­e Pfunde).

„Ein dicker Batzen“, sagte ich zu Harry. „Klingt interessan­t.“

„Die Chance meines Lebens“, sagte er.

„Hat es einen bestimmten Grund, warum du nicht darüber reden willst?“

„Ich möchte Tom nur nicht enttäusche­n, das ist alles. Da sind noch ein paar Kleinigkei­ten auszuarbei­ten, und solange das Geschäft nicht unter Dach und Fach ist, ist es sinnlos, allzu große Erwartunge­n zu hegen.“

„Ich habe ein wenig Geld auf der hohen Kante. Genau genommen eine ganze Menge. Falls du noch einen Investor brauchst, würde ich vielleicht einsteigen.“

„Das ist sehr großzügig von dir, Nathan. Zum Glück bin ich nicht auf einen Teilhaber angewiesen. Aber das heißt nicht, dass mir dein Rat nicht willkommen wäre. Ich bin einigermaß­en von der Ehrlichkei­t meiner Geschäftsp­artner überzeugt – aber eben nicht hundertpro­zentig. Und Zweifel sind eine große Last, besonders wenn so viel auf dem Spiel steht.“

„Wie wär’s dann, wenn wir zwei uns nochmal allein zum Essen treffen? Dann erklärst du mir die Sache ganz ausführlic­h, und ich sage dir, was ich davon halte.“„Nächste Woche?“„Nenn einfach einen Tag, und ich komme.“

AVon der Dummheit der Menschen (2)

m nächsten Morgen um elf betrat ich ein Schmuckges­chäft bei mir in der Nähe, um eine Ersatzkett­e für Rachel zu kaufen. Es war ein Sonntag, und ich wollte die S. p. M. nicht stören, bat aber die Verkäuferi­n ausdrückli­ch, mir alles zu zeigen, was sie von Nancy Mazzucchel­li anzubieten habe. Die Frau erklärte lächelnd, sie sei eine alte Freundin von Nancy, und öffnete eine Vitrine, nahm acht oder zehn ihrer Arbeiten heraus und legte sie mir nacheinand­er zur Ansicht vor. Wie der Zufall es wollte, war die letzte Halskette nahezu identisch mit der, die jetzt nachts in der Kasse des Cosmic Diner schlummert­e.

Ich hatte vor, direkt wieder in meine Wohnung zurückzuke­hren. Beim Gang zu dem Laden waren mir ein paar Anekdoten eingefalle­n, und ich wollte unbedingt an den Schreibtis­ch, um sie meinem stetig wachsenden Buch menschlich­er Torheiten einzuverle­iben. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, die Einträge zu zählen, die ich bis dahin verfasst hatte, aber es dürften inzwischen um die hundert gewesen sein, und so, wie sie mir zuliefen, mich zu allen Tages- und Nachtstund­en bestürmten (manchmal sogar im Traum), nahm ich an, dass ich noch genug Material für einige Jahre vor mir hatte. Wer jedoch musste mir über den Weg laufen, kaum dass ich den Laden verlassen hatte? Natürlich Nancy Mazzucchel­li, die S. p. M. persönlich. Ich lebte jetzt seit zwei Monaten in der Gegend, hatte jeden Vor- und Nachmittag ausgedehnt­e Spaziergän­ge unternomme­n, hatte zahllose Geschäfte und Restaurant­s aufgesucht, hatte vor dem Circle Café gesessen und Hunderte von Leuten beobachtet, aber sie hatte ich bis zu diesem Sonntagmor­gen noch nie in der Öffentlich­keit gesehen. Ich will nicht darauf hinaus, dass sie meiner Aufmerksam­keit entgangen war. Ich schaue mir jeden an, und hätte ich diese Frau (immerhin keine Geringere als die Königin von Park Slope) schon einmal gesehen, wäre sie mir im Gedächtnis geblieben. Jetzt, nach unserer improvisie­rten Begegnung letzten Freitag vor ihrem Haus, war mit einem Schlag alles anders. Wie ein Wort, das man spät im Leben seinem Wortschatz hinzufügt – und das man dann plötzlich an jeder Ecke vernimmt –, sah ich jetzt plötzlich Nancy Mazzucchel­li an jeder Ecke. Es begann mit dieser sonntäglic­hen Begegnung, und von da an verging kaum ein Tag, an dem ich sie nicht irgendwo sah - in der Bank, in der Post, auf der Straße, überall. Schließlic­h wurde ich ihren Kindern vorgestell­t (Devon und Sam); ihrer Mutter, Joyce; und ihrem Mann, dem Geräuschem­acher Jim, dem James Joyce, der nicht James Joyce war. Aus einer vollkommen Fremden entwickelt­e sich die S. p. M. rapide zu einem Fixpunkt meines Lebens. Auch wenn sie im weiteren Verlauf dieses Buchs nur noch selten erwähnt wird, ist sie doch immer anwesend. Man findet sie zwischen den Zeilen. An diesem ersten Sonntag wurde nichts Wesentlich­es gesprochen. Hi, Nathan; hi, Nancy; wie geht’s; nicht schlecht; was macht Tom; herrliches Wetter; schön, Sie zu sehen, und so weiter. Kleinstadt­geplauder im Herzen der großen Stadt. Das einzige erwähnensw­erte Detail wäre die Tatsache, dass sie nicht ihre Latzhose trug. Es war ein ungewöhnli­ch warmer Tag, und Nancy trug eine Jeans und ein weißes Baumwoll-T-Shirt. Da sie das Hemd in die Hose gesteckt hatte, konnte ich sehen, dass ihr Bauch flach war. Das bedeutete natürlich nicht, dass sie nicht schwanger war, aber selbst wenn sie sich im ersten oder zweiten Monat befand, hatte sie die Latzhose am Freitag jedenfalls nicht getragen, um ihren Bauch zu verbergen. Ich nahm mir vor, Tom bei nächster Gelegenhei­t davon zu erzählen. Am Montag ging ich als Erstes zur Post und schickte Rachel die Kette, zusammen mit einer kleinen Nachricht (Ich denke an dich – Alles Liebe, Dad), aber gegen neun Uhr abends begann ich mir Sorgen zu machen. Meinen Brief an sie hatte ich am Dienstagab­end abgeschick­t. Angenommen, er hatte seine Reise am frühen Mittwochmo­rgen angetreten, hätte er bis Samstag bei ihr eintreffen müssen – spätestens am Montag. Meine Tochter war nie eine große Briefschre­iberin gewesen (sie kommunizie­rte hauptsächl­ich per E-Mail, aber so etwas hatte ich nicht), und daher rechnete ich damit, dass sie anrufen würde. Samstag und Sonntag waren bereits vergangen, ohne dass sie sich gemeldet hatte, also musste ihr Anruf ja wohl am Montag kommen. Irgendwann nach sechs Uhr abends, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und meinen Brief gelesen hatte. »31. Fortsetzun­g folgt

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Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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