Als Hitlers Radikalität die Deutschen reizte
Der Schock über die deutsche Kapitulation von 1918 trieb der NSDAP Mitglieder in Massen zu. Wie keine andere Partei stand sie für Gewalt und Kompromisslosigkeit. Ein Historiker hat Aussagen ihrer Anhänger ausgewertet
Herr Kellerhoff, kaum eine Phase der Menschheitsgeschichte ist so intensiv erforscht wie die NS-Zeit. Warum gab es bisher keine umfassende Betrachtung der NSDAP? Sven Felix Kellerhoff: Mich hat das schon im Studium vor 25 Jahre gewundert. Aber das überlieferte Material ist sehr disparat. Man muss also einen praktikablen Zugang finden, und das sind die Berichte aus dem Nachlass des Soziologen Theodore Abel.
Die sind auch unter Historikern eher unbekannt. Kellerhoff: Sie liegen seit Jahrzehnten in der Hoover Institution der Stanford University in Kalifornien und wurden bisher fast nur quantitativ ausgewertet. Bei meiner inhaltlichen Untersuchung hat sich gezeigt, wie die Nazis ihre Partei verstanden haben. Ich komme also von den Mitgliedern her.
Abel hat seine Umfrage 1934 gemacht. Kellerhoff: Zu einem Zeitpunkt, als die Verfasser dieser Berichte der Meinung waren, sie seien auf der Siegerstraße. Das heißt, es gab einen „positiven Anschub“. Nach 1945 haben sich frühere NSDAP-Mitglieder entweder nicht oder sehr verschwurbelt geäußert, das kann man in Entnazifizierungsakten nachlesen. Da geht es immer um Rechtfertigung, das ist nicht zu gebrauchen.
Die NSDAP ist wie keine andere Partei mit einer einzigen Person – Adolf Hitler – verbunden. Der musste sich nichts völlig Neues mehr einfallen lassen, das ultrarechte Feld war bereits gut beackert. Kellerhoff: Inhaltlich schon, aber was bei Hitler dazukommt, ist diese radikale Kompromisslosigkeit, die er vorgelebt hat und die anziehend wirkte. Daraus resultiert meine Hauptthese: der Reiz der Radikalität. Wir erleben auch gegenwärtig, dass Radikalität und das Versprechen einfacher Lösungen für komplexe Probleme attraktiv erscheint.
Nach dem Ersten Weltkrieg fühlen sich vor allem enttäuschte Frontkämpfer von den Ultrarechten angezogen. Kellerhoff: Die Enttäuschung ist ein ganz wesentliches Element. Diese Leute haben vier Jahre lang – ich beschreibe ihre eigene Wahrnehmung – Einschränkungen hingenommen und alles gegeben, um den großen Sieg zu erringen, und dann zerstäubt das alles im Herbst 1918. Noch im September rechnen viele Deutsche mit einem moderaten Frieden. Bis auf wenige Ausnahmen ist im Ersten Weltkrieg ja nicht auf deutschem Gebiet gekämpft worden. Das führt dazu, dass viele diesen Schock der beinahe panischen Bitte um Waffenstillstand nicht verkraftet haben.
Neben der Frustration ziehen sich das Radikale und die Gewalt durch die ganze Geschichte der NSDAP. Kellerhoff: Man hatte damals auch einen ganz anderen Begriff von Gewalt. Sie war akzeptiert.
Auch bedingt durch den Krieg? Kellerhoff: Ganz sicher. Nahezu alle Männer hatten militärische Erfahrung, man kann auch sagen: eine Ausbildung zur Gewalt. Frauen wiederum waren vom Militärischen, auch von den Uniformen begeistert. Auch innerfamiliäre Gewalt war völlig normal. Kein Mensch wäre im Kaiserreich auf die Idee gekommen, einem Mann zu verbieten, seine Frau oder seine Kinder zu schlagen. Im Gegenteil, das wurde als Züchtigung eher positiv gesehen. Auch das Zusammenleben der Menschen war anders. Es gab kein Fernsehen, Kino war teuer, man saß in Kneipen zusammen, trank und prügelte sich gelegentlich mit anderen Leuten. Es gab auch keine wirkliche Diskussionskultur, schon gar nicht in rechten Kreisen. Kellerhoff: Die NSDAP hat niemals politische Konzepte oder Lösungen formuliert, sie befand sich vielmehr im kontinuierlichen Wahlkampf. Das war die eigentliche Aufgabe der Partei – andauernde Propaganda.
Was hat die Leute neben der Radikalität so angezogen? Kellerhoff: Es gibt zwei Motive: Das negative war Abgrenzung, etwa gegen Juden. Der Antisemitismus spielte eine Rolle, war aber keineswegs auf die NSDAP beschränkt, sondern kann bis in die Sozialdemokratie und beim Zentrum nachgewiesen werden. Dann auch die Abgrenzung von den Marxisten: Da wurden SPD und KPD einfach zusammengeworfen, was völliger Unsinn ist. Um eine Gruppe zusammenzuhalten, muss aber noch etwas Positives kommen, ich nenne es Verheißung. Hier fällt der Begriff des „nationalen Sozialismus“, die Aussicht auf eine neue Gesellschaft, in der es gerechter zugehen soll.
Es ging allerdings nicht um die Umverteilung von Besitz. Kellerhoff: Der Kernpunkt des NSProgramms lautet „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Das klingt erst mal gut. Wenn man aber darüber nachdenkt, merkt man schnell, wie gefährlich dieser Gedanke ist. Irgendjemand muss ja festlegen, was Gemeinnutz ist. Und das funktioniert nur in einer Diktatur. Damit haben Sie automatisch Feindschaften, Ausgrenzung und so weiter.
Für die Partei wurde erstaunlich freimütig Geld gegeben. Kellerhoff: Die Mitglieder der NSDAP haben sehr viel ihres meist knappen Geldes für die Partei investiert, das heißt, für Reisen zu Parteitagen und Aufmärschen, Eintritte, Publikationen oder für Uniformen. Die NSDAP hat sich aus sich selbst heraus finanziert.
Und was ist mit den immensen Spenden des Großkapitals? Kellerhoff: Sie kennen sicher das geniale Plakat von John Heartfield: „Millionen stehen hinter mir“. Da bekommt ein kleiner Hitler von einem riesigen Anzugträger Geldscheine zugesteckt. Das Bild ist eingängig, aber falsch. Hitler hat zwar persönlich Spenden kassiert, aber die Masse des Geldes kam von den Mitgliedern.
Unter bayerischen Politikern gab es 1922 die Überlegung, Hitler nach Österreich auszuweisen. Dagegen hat der Sozialdemokrat Erhard Auer „demokratische und freiheitliche Grundsätze“ins Feld geführt. Kellerhoff: Mit ihren Mitteln kann sich die Demokratie nicht völlig gegen solche Herausforderungen schützen. Da kommt es dann auf Menschen an, die sich auf dem schmalen Grat zwischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einerseits und entschiedenem Handeln andererseits bewegen können.
Auer wollte korrekt sein. Kellerhoff: Überkorrekt, und er wollte nicht sehen, dass wirklich Gefahr drohte. Aber das war damals auch schwierig, und hinterher ist man immer schlauer.
Interview: Christa Sigg
Die Aufgabe der Partei war Propaganda, nicht Konzepte