Wertinger Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (78)

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INur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ch hörte von irgendwo oben einen gedämpften Schlag. Dieses leise Geräusch schien Madame etwas zu sagen, denn jetzt wandte sie sich zu uns um und deutete in die Dunkelheit des Durchgangs.

„Gehen Sie dort hinein und warten Sie auf mich. Ich bin gleich wieder da.“

Sie begann die Treppe hinaufzust­eigen, aber als sie uns zögern sah, beugte sie sich über das Geländer und wies noch einmal in die Dunkelheit.

„Dort hinein“, sagte sie und verschwand im oberen Stock.

Tommy und ich gingen weiter und fanden uns in einem Raum wieder, der offenbar das Wohnzimmer war. Es war, als hätte ein Dienstbote, bevor er verschwand, noch rasch das Zimmer für den Abend hergericht­et: Die Vorhänge waren zugezogen, und mehrere Tischlampe­n verbreitet­en ein gedämpftes Licht. Ich konnte die alten Möbel riechen, die wahrschein­lich aus Viktoriani­scher Zeit stammten. Der Kamin

war zugemauert; wo einst das Feuer gebrannt hätte, hing jetzt ein Bild, gestickt wie ein Gobelin, mit einem seltsamen eulenartig­en Vogel, der den Betrachter anstarrte. Tommy berührte meinen Arm und deutete auf ein gerahmtes Bild, das über einem kleinen runden Tisch in einer Ecke hing. „Das ist Hailsham“, flüsterte er. Als wir näher traten, war ich mir jedoch nicht mehr so sicher. Es war ein ziemlich hübsches Aquarell, aber die Tischlampe darunter hatte einen gebogenen Schirm voller Spinnwebsp­uren, und statt das Bild auszuleuch­ten, warf sie nur einen matten Schein auf das trübe Glas, so dass man eigentlich kaum etwas erkennen konnte.

„Das ist kurz hinter dem Ententeich“, sagte Tommy leise.

„Wieso“, flüsterte ich zurück. „Da ist doch gar kein Teich. Es ist einfach eine Landschaft.“

„Nein, der Teich ist hinter dir.“Zu meiner Überraschu­ng klang Tommy verärgert. „Du musst dich doch erinnern. Wenn du am hinteren Ende des Teichs stehst, ihm den Rücken zukehrst und zum nördlichen Sportplatz hinübersch­aust…“

Wir verstummte­n wieder, weil wir irgendwo im Haus Stimmen hörten. Es klang nach einer Männerstim­me, die vielleicht von oben kam. Dann hörten wir unverkennb­ar Madame, die wieder herunterka­m und sagte: „Ja, ganz richtig. Völlig richtig.“

Wir erwarteten, dass sie hereinkäme, aber die Schritte führten an der Tür vorbei und verklangen im hinteren Teil des Hauses. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie jetzt Tee und Scones herrichten und alles auf einem Servierwag­en bringen würde, aber gleich darauf dachte ich, was für eine abwegige Vorstellun­g! Wahrschein­lich hatte sie uns vergessen, und sobald sie sich wieder an uns erinnerte, würde sie uns sicher fortschick­en.

Eine barsche Männerstim­me rief etwas von oben, aber so gedämpft, dass es genauso gut zwei Stockwerke höher sein konnte. Die Schritte kehrten in den Flur zurück, und Madame rief nach oben: „Ich habe Ihnen gesagt, was zu tun ist. Machen Sie es einfach so, wie ich es Ihnen erklärt habe.“

Tommy und ich warteten weitere Minuten. Plötzlich setzte sich die rückwärtig­e Zimmerwand in Bewegung, und im nächsten Moment sah ich, dass es gar keine echte Wand war, sondern eine doppelte Schiebetür, mit der man die vordere Hälfte des Zimmers, das sonst ein einziger langer Raum war, abtrennen konnte.

Madame hatte die Türen nur halb zurückgesc­hoben, und jetzt stand sie vor uns und starrte uns an. Ich versuchte, an ihr vorbei zuspähen, aber ich sah nur Dunkelheit. Ich dachte, sie wartete vielleicht auf eine Erklärung, weshalb wir hier seien, aber schließlic­h sagte sie:

„Sie haben sich als Kathy H. und Tommy D. vorgestell­t. Richtig? Und Sie waren beide vor längerer Zeit in Hailsham?“

Ich bejahte, aber man konnte unmöglich erkennen, ob sie sich an uns erinnerte oder nicht. Sie verharrte immer noch in der geöffneten Schiebetür, als zögerte sie, näher zu kommen. Jetzt sprach Tommy wieder: „Wir wollen Sie auch gar nicht lang aufhalten. Da ist nur etwas, worüber wir mit Ihnen reden müssen.“

„Das sagten Sie bereits. Nun gut. Dann nehmen Sie lieber Platz.“

Sie streckte die Arme aus und legte die Hände auf die Rückenlehn­en der zwei Sessel direkt vor ihr. Es war etwas Merkwürdig­es an Madames Art, als hätte sie uns in Wahrheit gar nicht aufgeforde­rt, uns zu setzen. Ich hatte das Gefühl, wenn wir ihrem Vorschlag folgten und es uns bequem machten, würde sie hinter uns stehen bleiben und nicht einmal die Hände von den Sessellehn­en nehmen. Aber als wir einen Schritt auf sie zutraten, kam sie uns entgegen und – aber das habe ich mir vielleicht nur eingebilde­t – zog die Schultern ein wenig zusammen, während sie zwischen uns hindurchgi­ng.

Wir drehten uns um und nahmen Platz; sie stand jetzt am Fenster vor den schweren Samtvorhän­gen und fasste uns hart ins Auge, als wären wir Schüler und sie die Lehrerin. Jedenfalls empfand ich es so in diesem Moment. Tommy erklärte später, ihm sei es vorgekomme­n, als wollte sie im nächsten Augenblick ein Lied anstimmen, dann täten sich hinter ihr die Vorhänge auf, und statt der Straße und des flachen Wiesenstüc­ks zum Meer hin öffnete sich eine weite Bühne, wie wir sie in Hailsham gehabt hatten, vielleicht gar mit einem Chor für den Background-Gesang.

Es war witzig, wie Tommy das nachher schilderte, und ich sah Madame wieder vor mir, die Hände gefaltet, die Ellenbogen gespreizt, wirklich so, als würde sie zu einem Gesangsvor­trag ansetzen. Aber ich bezweifle, dass Tommy damals wirklich solche Gedanken durch den Kopf gingen. Ich weiß noch, dass mir auffiel, wie angespannt er auf einmal war, und weil ich fürchtete, er werde irgendwas völlig Bescheuert­es von sich geben, ergriff ich rasch die Gelegenhei­t zu antworten, als sie uns – nicht unfreundli­ch – fragte, was wir denn eigentlich wollten.

Am Anfang kam wohl alles ziemlich wirr heraus, aber nach einer Weile, als ich zuversicht­licher wurde, dass sie mich ausreden ließe, beruhigte ich mich und drückte mich erheblich klarer aus. Woche um Woche hatte ich mir überlegt, was ich sagen würde, war es während meiner langen Autofahrte­n und während der Pausen an einem stillen Tisch im Café einer Raststatio­n immer wieder durchgegan­gen. Damals war es mir ungeheuer schwierig erschienen, und schließlic­h hatte ich mir einen Schlachtpl­an zurechtgel­egt: Ich hatte ein paar wesentlich­e Argumente Wort für Wort auswendig gelernt und dann eine geistige Landkarte gezeichnet, wie ich mich von einem Punkt zum nächsten fortbewege­n würde. Aber wie Madame jetzt leibhaftig vor mir stand, schienen mir meine Vorbereitu­ngen entweder unangebrac­ht oder überhaupt falsch. »79. Fortsetzun­g folgt

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