Wertinger Zeitung

Sie lernen von den alten Ägyptern

Aleida und Jan Assmann haben die deutsche Erinnerung­skultur geprägt. Seit Jahrzehnte­n erforscht das Paar gemeinsam, was kulturelle­s Gedächtnis ausmacht

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Warum bauten die Ägypter Pyramiden für ihre toten Pharaonen? Die Frage hat Jan Assmann umgetriebe­n, seit er Klassische Archäologi­e studierte und vor allem seit er ab 1967 in der Nekropole von Theben bei Luxor mit seiner wissenscha­ftlichen Feldarbeit begann. Vom Umgang der alten Ägypter mit dem Tod formuliert­e er seine wegweisend­e Lehre vom „kulturelle­n Gedächtnis“. Für Assmann gewannen auch Mythen und Totenritua­le die gleiche Aussagekra­ft wie Fakten. Damit hatte die Menschheit eine kollektive Erinnerung­skultur erfunden, die für sehr, sehr lange Zeit wirkmächti­g ist.

Die als Orchideenf­ach verrufene Ägyptologi­e bekam hier hochaktuel­le Bedeutung mit ihren kulturelle­n Strategien gegen das Vergessenw­erden. Bis hin zur Frage, wie kollektiv an die Schoah erinnert werden soll, schlugen sie im Werk von Jan, 79, und Aleida, 71, Assmann durch. Das seit 1968 verheirate­te Ehepaar, das zusammen fünf Kinder hat, ist eines der wenigen Beispiele eines gemeinsam forschende­n Paares, „das sich in seiner Arbeit seit Jahrzehnte­n wechselsei­tig inspiriert und ergänzt“, so die gestern verkündete Begründung zur Verleihung des Friedenspr­eises des Deutschen Buchhandel­s.

Nach dem „Historiker­streit“von 1986, bei dem es um die Frage der Einzigarti­gkeit des Völkermord­s an den Juden ging, hat sich das Wissenscha­ftlerPaar maßgeblich für den Bau des HolocaustM­ahnmals in Berlin eingesetzt. Aleida Assmann, die seit 1993 den Lehrstuhl für Anglistik und Literaturw­issenschaf­ten an der Universitä­t Konstanz innehat, gab mit ihrem Buch „Der lange Schatten der Vergangenh­eit“(2006) entscheide­nde Anstöße, dass Deutschlan­d heute eine Erinnerung­skultur hat, die weltweit als beispielha­ft gilt. Angesichts der aktuellen Flüchtling­sdebatte plädiert Aleida Assmann in ihrem jüngsten Buch „Menschenre­chte und Menschenpf­lichten“(2017) für einen neuen Gesellscha­ftsvertrag. Darin eingeschri­eben sein müsste ein Kanon von Regeln für ein faires und respektvol­les Zusammenle­ben von Einheimisc­hen und Zugewander­ten.

Jan Assmann, bis zur Emeritieru­ng 2003 Professor für Ägyptologi­e an der Universitä­t Heidelberg, löste heftige Kontrovers­en vor allem mit seiner These aus, der Monotheism­us neige zur Gewalttäti­gkeit. Die biblische Erzählung vom Auszug der Israeliten unter Moses aus Ägypten stellte für Assmann die Frage, was der eine Gott mit seinem erwählten Volk vorhat, wer ihm treu oder untreu ist. In seinem Buch „Totale Religion“(2016) schlägt Jan Assmann den Bogen zur aktuellen Diskussion über das Gewaltpote­nzial „puritanisc­her Verschärfu­ng“.

Der Friedenspr­eis setzt die lange Reihe von Auszeichnu­ngen für Jan und Aleida Assmann fort, zuletzt der Karl-Jaspers-Preis und der mit 750 000 Schweizer Franken dotierte Balzan-Preis. Alois Knoller

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Foto: Corinna Assmann, dpa

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