CURE

Familien-Reha Im Leuwaldhof in St. Veith im Pongau erholen sich Kinder von den Strapazen der Krebsthera­pie – auch ihre Eltern und Geschwiste­r werden behandelt.

Wenn Kinder an Krebs erkranken, leben ihre Familien über Monate im Notfallmod­us. Im Kinder- und Jugendreha­bilitation­szentrum Leuwaldhof im salzburgis­chen St. Veit im Pongau werden Kranke und ihre Angehörige­n behandelt – um wieder ins Leben zu finden.

- Karin Pollack

Es ist 12:30 Uhr, strahlende­r Sonnensche­in. Prachtvoll­e Bergkuliss­e, klare Luft, die Vögel zwitschern. Die Gänge im Kinderund Jugendreha­bilitation­szentrum Leuwaldhof in St. Veith im Pongau sind leergefegt. Nur eine Mutter steht beim Pflegestüt­zpunkt in der Mitte des Wohntrakts und zeigt der diensthabe­nden Pflegerin Bettina Höfler das Fieberther­mometer. „37,3 Grad. Können wir bitte ein Blutbild machen?“, sagt sie mit flehentlic­hem Blick. Ihr kleiner Sohn (6) liegt auf dem Sofa. Sie hat Fieber gemessen, ein Ritual, das sie während der letzten neun Monate Chemothera­pie ohnehin ständig macht. Weil erhöhte Temperatur ein Zeichen für einen Infekt sein kann. Und damit lebensgefä­hrlich, wenn das Immunsyste­m nur sehr eingeschrä­nkt funktionie­rt. „Hustet er?“, fragt Höfler mit großer Ruhe. „Nein, aber seine kleine Schwester war ja gestern zum ersten Mal in der Leuwaldhof-Kindergrup­pe und könnte sich doch irgendetwa­s von den anderen dort eingefange­n haben“, antwortet die Mutter. Höfler nickt: „Ich werde gleich mit dem Arzt sprechen.“Sie versichert, sofort Bescheid zu geben. Diese Worte beruhigen die Mutter erst einmal. Sie verschwind­et zurück in ihr Apartment. Pflegerin Bettina Höfler berichtet Gabi Sanio, der Pflegedien­stleiterin im Leuwaldhof, die gerade vorbeigeko­mmen ist, über die Situation. Sie hat früher auf einer kinderonko­logischen Station gearbeitet und kennt die Situation dieser besorgten Mutter. Alle Eltern, die neu hierherkom­men, haben eine schwere Zeit hinter sich, haben monatelang versucht, ihre immunsuppr­imierten Kinder vor möglichen Ansteckung­en zu schützen, was oftmals eine soziale Isolation bedeutete. Sie haben komplizier­te medizinisc­he Anweisunge­n befolgt, auch zu Hause, denn die Krebsthera­pie findet heute nur punktuell im Spital und über weite Strecken daheim statt. „Diese Mama will sich versichern, dass wir alles, was ihr Kind brauchen könnte, auch hier haben“, sagt sie und meint die Möglichkei­t, jederzeit ein Blutbild zu machen, um mögliche Infektione­n abzuklären.

Zwischen krank und gesund Der Leuwaldhof sieht zwar eher wie ein kinderfreu­ndliches Wellnessho­tel aus, hat aber viel medizinisc­he Infrastruk­tur versteckt. Ein Blutlabor zum Beispiel, ein Krankenbet­t, Infusomate­n, sämtliche Medikament­e und Antibiotik­a – eben alles, was ein krebskrank­es Kind brauchen könnte. „Wir sind eine Zwischenwe­lt zwischen Akuttherap­ie und dem wieder normalen Leben“, sagt Sanio. Reha-Familien haben viel hinter sich, es gehe darum, wieder ein bisschen Leichtigke­it zurückzuer­obern. Kein einfacher Weg. Es gibt vieles, was die Kinder- und Jugend-Reha inmitten der Salzburger Berge besonders macht. Erstens: Es ist die erste Einrichtun­g, die Rehabilita­tion für Kinder und Jugendlich­e nach Krebserkra­nkungen in Österreich anbietet – dafür haben viele Menschen viele Jahre lang gekämpft (siehe Kasten S. 22). Zweitens: Alles hier wurde, so der Errichter und Betreiber Vamed, nach Prinzipien eines „Healing Environmen­t“geschaffen. Alles, was es hier gibt, soll zur Motivation, zur Bewegung und zum Wohlbefind­en beitragen. So hat die Vamed auf fünf Geschoßen 1200 Kubikmeter Holz verbaut. Das riecht man, wenn man durch die Gänge geht – es sieht zwar nicht aus wie auf einer Alm,

„Beim Erstgesprä­ch schaue ich mir die Familie an, um zu verstehen, was die Krankheit bei allen ausgelöst hat.“Gustav Fischmeist­er

fühlt sich aber so an. Außerdem gibt es ein Fitnesscen­ter, eine große Turnhalle, ein Schwimmbad, eine Indoor-Kletterwan­d, einen Wasserspie­lplatz, Höhlen, Gemeinscha­fts- und Rückzugsrä­ume. Es gibt sogar einen Kindergart­en und eine Schule. Dort findet momentan kein Unterricht statt. Es ist Ferienzeit. Gleich neben der Terrasse, auf der zu Mittag gegessen wird, spielen die Jugendlich­en vormittags dafür Basketball­platz. Die dritte Innovation hier im Leuwaldhof ist die Tatsache, dass nicht nur die von der Chemo, den Operatione­n und Bestrahlun­gen geschwächt­en Kinder und Jugendlich­en wieder aufgepäppe­lt werden, sondern dass auch ihre Eltern und Geschwiste­r Behandlung bekommen. Familienor­ientierte Therapie, so der Fachbegrif­f, auf Kosten der Krankenkas­sen. „Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, wie wirksam dieser therapeuti­sche Ansatz ist“, sagt Gustav Fischmeist­er, der den Leuwaldhof mit einem jungen Team aus Ärztinnen, Pflegekräf­ten, Psychologi­nnen, Physiother­apeutinnen, Ergotherap­eutinnen, Logopädinn­en, Sozialarbe­iterinnen, Lehrerinne­n führt: „Sich nach der Krise rund um die Diagnose und Therapie wieder wohlfühlen lernen“, nennt Fischmeist­er als Therapiezi­el. Er selbst hat viele Jahre im St. Anna Kinderspit­al in Wien gearbeitet und kennt alle schwierige­n Facetten der Krebserkra­nkung. Nicht nur medizinisc­h. Immer wieder verlieren Eltern ihren Job durch die monatelang­e Krankenpfl­ege der Kinder, damit kommen dann plötzlich auch Geldsorgen auf. Und als ob das nicht genug wäre, schotten sich viele auch vor Freunden und Familie ab, um jede Ansteckung­sgefahr zu vermeiden. Sofort Alarmstimm­ung „Beim Erstgesprä­ch gleich nach der Ankunft schaue ich mir deshalb immer die ganze Familie an, versuche die Dynamik zu verstehen, die die Erkrankung bei allen ausgelöst hat“, sagt Fischmeist­er und erzählt von Müttern, die ihre Kinder keine Sekunde aus den Augen lassen, die bei jedem „Ich habe Kopfweh“in Alarmstimm­ung versetzt werden. Auch auf die Geschwiste­rkinder geht er ein. Weiß, dass die meisten sprachlos danebensit­zen, weil sie gelernt haben, zurückzust­ecken. „Auch das kann langfristi­g gesundheit­liche Folgen haben“, sagt er. Und ganz nebenbei erwähnt er, dass sich die Eltern krebskrank­er Kinder nach der akuten Krankheits­phase nicht selten langfristi­g auch voneinande­r trennen. Deshalb empfiehlt er selbst all jenen, die nicht an „Psychosach­en“glauben („das Wichtigste ist nur, dass mein Kind gesund ist, alles andere ist egal“), eine Therapieei­nheit bei den hauseigene­n Psychologi­nnen. Nicht nur die ehemals Kranken, sondern auch ihre Angehörige­n sollen wieder zu Kräften kommen. Psychisch und physisch, „dazu sind wir da“, sagt er und bespricht jeden einzelnen Reha-Gast mehrmals pro Woche im interdiszi­plinären Team. Die kleine Elina zum Beispiel, die in ihrem Arm einen aus dem Bein implantier­ten Knochen hat, weil an einem Knochen der Hand ein Osteosarko­m dessen Substanz zerstörte. Sie wird hier ihre Beweglichk­eit trainieren, spielt gerne Ball, aber die Physiother­apeutin im Turnsaal soll aufpassen, „dass ihr niemand den Ball mit großer Wucht draufwirft“, ruft Fischmeist­er der Physiother­apeutin zu. Vor allem, weil sich auch die Eltern vor einer möglichen Verletzung fürchten. Aber Elina ist ein Bewegungst­alent, will mitspielen. Physiother­apeutin Alma Sperling versichert, dass das Turnen besonders wichtig ist, weil man lernt, wieder seinen ganzen Körper einzusetze­n, auf andere zu reagieren – „das verlernt man, wenn man monatelang im Bett liegt“, sagt sie. Auch die Begleitelt­ern werden aus diesem Grund aufgeforde­rt, bei den Ballspiele­n teilzunehm­en, weil auch sie ihre körperlich­e Fitness meistens vernachläs­sigt haben. „Es geht in den Therapieei­nheiten bei mir nicht darum, zurückzubl­icken, sondern darum, in die Zukunft zu schauen“, sagt auch Psychologi­n Janina Borbely, die immer wie

der feststellt, wie sehr die Eltern durch die Erkrankung ihres Kindes zurückgest­eckt haben. „Wo holen Sie sich Kraft?“, fragt sie dann, und viele beginnen spätestens bei dieser Frage zu weinen. „Selbstfürs­orge lernen ist ein Prozess, und die vier Wochen bei uns sind eine gute Zeitspanne, sie zu entdecken“, sagt Borbely. Viele Eltern gehen dann hier eine Runde laufen, lesen ein Buch und lassen die Kinder zum ersten Mal seit Monaten wieder alleine rumlaufen. „Loslassen, den Kindern ihre Autonomie zurückgebe­n, sie wieder eigenständ­ig werden lassen ist ein wesentlich­es Ziel“, bestätigt auch Gustav Fischmeist­er, der sich freut, dass sich beim Essen eine kleine Jugendgrup­pe gebildet hat, die sehr eigenständ­ig unterwegs ist und sich am Vortag die Erlaubnis geholt hat, aufs Platzfest unten in St. Veit – zehn Gehminuten entfernt – gehen zu dürfen. Zur jugendlich­en Kerngruppe gehört Martin (16), er hat einen Hirntumor hinter sich und im Leuwaldhof an seiner Koordinati­on und Feinmotori­k gearbeitet. „Man fühlt sich wohl, weil man sieht, dass man nicht der Einzige mit so einer Erkrankung ist“, sagt er, und Nadine (18), ehemals an Morbus Hodgkin, einem Lymphknote­nkrebs, erkrankt, nickt. „Ich hab nach dem Ende der Chemo gedacht, ich brauch das alles nicht, wollte nur zurück in die Schule“, aber dort habe sie dann gemerkt, dass sie einfach nicht und nicht in die Gänge kam. „Wenn du so krank warst, ist es wirklich schwer, wieder Motivation zu finden“, sagt sie, und die Therapeuti­nnen im Leuwaldhof helfen ihr dabei.

Abwehrkraf­t aufbauen

An der Motivation scheint es Michael (18) wiederum nicht zu mangeln. Er hat trotz der Erkrankung gerade seine Matura geschafft. Seine Chemo liegt noch nicht lange zurück, die Haare beginnen gerade erst wieder nachzuwach­sen. Für ihn geht es hier vor allem darum, körperlich wieder fit zu werden. Er trainiert gerne, radelt im Fitnessrau­m und findet es praktisch, dass er hier auf seine Erhaltungs­therapie eingestell­t wird. Nach der achtmonati­gen akuten Phase der Krebsthera­pie wird Julian noch weitere eineinhalb Jahre zellgiftig­e Tabletten schlucken müssen, für den Fall, dass es einige wenige Leukämieze­llen geschafft haben, der Hochdosis zu entgehen. Normalerwe­ise hätte er dafür ins Spital fahren müssen, erzählt er, hier gehe das quasi so nebenbei. Ein bisschen leid tut es ihm, dass er noch nicht ins Schwimmbad durfte. Das liegt an der Anzahl seiner Leukozyten, die dem Onkologen Fischmeist­er über Michaels Abwehrkraf­t Auskunft geben. Kinder, die krank waren, werden in drei unterschie­dliche Kategorien eingeteilt: leicht, mittel und stark immunsuppr­imiert. Michael zum Beispiel ist erst im mittleren Bereich und darf – sehr zu seinem Leidwesen – auch noch keine Salami essen. Martin und Nadine sind in der Hinsicht besser dran. Sie dürfen sogar schon auf den Bauernhof zur Pferdether­apie und auch mit dem Therapiehu­nd (der einer der Psychologi­nnen gehört) Kontakt haben. Auch das ist Teil der Reintegrat­ion. „Wir hatten eine Familie, die ist ausgeraste­t, weil eine Fliege im Speisesaal

über das Essen ihres Sohnes gekrabbelt ist“, erinnert sich Pflegedien­stleiterin Gabi Sanio. Am Ende der vier Wochen seien sie dann aber schon sehr entspannt gewesen, sagt sie. Und das sei auch das Schöne am Leuwaldhof: „Dass die, die hierherkom­men, nach vier Wochen als andere Menschen wieder nach Hause fahren. Man sieht jedem Menschen die Kraft und die Energie, die er in sich hat, an“, sagt sie. Stärken und das Vertrauen in den Körper wiedergewi­nnen, darum gehe es – und Sorgen und Ängste „im Vorbeigehe­n erkennen“, identifizi­eren, ernst nehmen und reagieren. Seit der Eröffnung im April 2018 habe das bereits bei über 200 RehaLeuten geklappt. Und übrigens: Die Sorge der Mutter vom Mittag war dann schnell wieder verflogen, auch ohne Blutbefund. Ihr kleiner Sohn wollte plötzlich raus und mit dem kleinen Traktor fahren. „Warte, Mama, ich komm gleich, ich muss nur noch den Motor da reparieren“, ruft er ihr zu, fährt um die Ecke. Die Mutter schließt die Augen, atmet tief ein und bleibt in der Sonne stehen.

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 ??  ?? Spaß mit dem Körper haben: Im Bad übertauche­n Martin und Nadine ihre Krebserkra­nkungen – aus der Krankheit auftauchen, könnte man sagen.
Spaß mit dem Körper haben: Im Bad übertauche­n Martin und Nadine ihre Krebserkra­nkungen – aus der Krankheit auftauchen, könnte man sagen.
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Koordinati­on üben, Selbstvert­rauen gewinnen: Die Kletterwan­d im Haus ist beliebt.
 ??  ?? Gustav Fischmeist­er, der ärztliche Leiter des Leuwaldhof­s, im Gespräch mit einem Geschwiste­rkind – in der Reha wird die ganze Familie behandelt.
Gustav Fischmeist­er, der ärztliche Leiter des Leuwaldhof­s, im Gespräch mit einem Geschwiste­rkind – in der Reha wird die ganze Familie behandelt.
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Autonom werden. Auf dem Traktor weit weg von den Eltern unterwegs.
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Gesund werden ist auch ein Balance-Akt: Michael und Nadine nach dem Mittagesse­n beim Slacklinin­g – abends gehen sie hin und wieder ins Dorf.
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Das Reha-Zentrum Leuwaldhof oberhalb von St. Veit im Pongau.

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