„GESUNDHEIT MUSS FÜR ALLE KINDER LEISTBAR BLEIBEN!“
372.000 Kinder leben in Österreich – einem Wohlstandsstaat – und sind trotzdem armutsgefährdet. Wie wichtig es ist, dass die Gesundheitsversorgung für alle Kinder leistbar bleibt, weiß ao. Univ.Prof. Dr. Thomas Szekeres, PhD, Präsident der Wiener und der Österreichischen Ärztekammer. Im Gespräch klärt er über den direkten Zusammenhang von Kinderarmut, Kindergesundheit und Zukunftsperspektiven auf und fordert eine leistbare Gesundheitsversorgung für alle Kinder.
Das österreichische Gesundheitssystem befindet sich – trotz aller Kritik – auf einem Top-Niveau. Sie haben einmal gesagt, man sollte weniger bemängeln und stattdessen nach vorne schauen und voranschreiten. Was sind die positiven Aspekte?
Szekeres: Österreich ist in Sachen Spitzenmedizin und medizinische Forschung ganz vorne mit dabei – das gilt sowohl für die universitäre Forschung als auch für neue Operationsmethoden, Therapien oder Medikationen. Mit dem Allgemeinen Krankenhaus (AKH) und der MedUni Wien haben wir das größte Krankenhaus Europas. Wir verfügen über weltweit führende Medizinerinnen und Mediziner, sind seit mehr als 25 Jahren mit unserem Zentrum für Lungentransplantationen an der Weltspitze und unterhalten Forschungsinstitute von Weltrang. Wir haben einen niederschwelligen Zugang zur Spitzenmedizin, im Krankheitsfall sind alle Patientinnen und Patienten optimal versorgt. Darüber hinaus ist unser Gesundheitssystem im Vergleich mit anderen Ländern auch nicht sehr teuer. Es ist also bei weitem nicht alles bemängelnswert am österreichischen Gesundheitssystem. Ganz im Gegenteil: Es ist beachtenswert, dass wir europaweit eines der vorbildlichsten Transplantationsgesetze haben, dass der Forschungsstandort
Wien immer noch Anlaufstelle für Expertinnen und Experten aus dem Ausland ist und dass sich zahlreiche Studierende sowie Ärztinnen und Ärzte in ihrer
Freizeit der klinischen Forschung und Grundlagenforschung widmen.
Auf der einen Seite Spitzenmedizin und Top-Forschung, auf der anderen Seite das Krisenthema Hausarztsterben und steigende Herausforderungen für die Spitalsärztinnen und Spitalsärzte. Wie begegnet man diesen Aufgaben – oder: Wie hält man das österreichische Gesundheitssystem fit und stabil?
Szekeres: Wir laufen dann Gefahr, das hohe Niveau der Gesundheitsversorgung zukünftig nicht halten zu können, wenn wir nicht mehr Geld in Gesundheit und vor allem Vorsorge investieren. Wir müssen globaler denken: Arbeitsgenehmigungen für forschende Ärztinnen und Ärzte müssen einfacher und schneller erteilt werden, Österreich muss für junge Ärztinnen und Ärzte wieder attraktiver werden. Die jungen Kolleginnen und Kollegen sind heute sehr flexibel, nur noch sechs von zehn Absolventinnen und Absolventen bleiben in Österreich. Daneben geht es um die Entlastung unserer Spitalsambulanzen, um den Abbau von Bürokratie und um die Aufwertung des Berufs der Hausärztin bzw. des Hausarztes.
Wie wichtig ist es, den Beruf der Hausärztin bzw. des Hausarztes zu stärken?
Szekeres: Unser Gesundheitssystem baut auf den Leistungen der Hausärztinnen und Hausärzte auf. Die Hausärztin bzw. der Hausarzt ist – auch aufgrund der Wohnortnähe – die beliebteste Ärztin bzw. der beliebteste Arzt in Österreich: 95 Prozent schätzen sie bzw. ihn maximal. Sie bzw. er kennt die Patientinnen und Patienten oft über viele Jahre hinweg, verfügt über alle anamneserelevanten Informationen und kann daher optimal durch das Gesundheitssystem leiten. Der Beruf der Hausärztin bzw. des Hausarztes muss dringend gestärkt werden, indem die Attraktivität und die Bezahlung erhöht und Ordinationen günstiger vergeben werden, damit auch junge Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner wieder einen Anreiz darin sehen, eine Praxis – zum Beispiel mit Hausapotheke – auf dem Land zu eröffnen.
Stichwort Kindergesundheit und Kinderarmut: Österreich ist das drittreichste Land der EU, gibt aber weit weniger für Kindergesundheit aus als der EU-Schnitt. Was sind die gesellschaftlichen Folgen dieses Mangels?
Szekeres: Wir haben es hier mit einem großen und erschreckenden Widerspruch zu tun. Österreich ist ein reiches Land, und doch leben hier 1,5 Millionen Armutsgefährdete, darunter 372.000 Kinder bis 20 Jahre. Armut dürfte im
21. Jahrhundert in Mitteleuropa eigentlich kein Thema mehr sein! Außerdem liegen wir bei den Ausgaben für Kindergesundheit weit abgeschlagen und mit 5,8 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Großbritannien etwa gibt fast doppelt so viel für Kindergesundheit aus wie Österreich – und das nicht nur aus Humanismus, sondern weil bekannt ist, dass es vernünftig ist. Denn wer bei der Behandlung in der frühen Kindheit spart, muss mit deutlich höheren Folgekosten rechnen. Um es kurz und knapp auf den Punkt zu bringen: Die armen Kinder von heute sind die chronisch Kranken von morgen.
Worin besteht der Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Gesundheit?
Szekeres: Die negativen Auswirkungen von Armut auf die physische und auch psychische Gesundheit sind wissenschaftlich hinreichend belegt. Armut macht krank. Gesundheitliche Chancengleichheit von Beginn des Lebens an ist daher eine der wichtigsten Ressourcen, die wir Kindern mit auf ihren Lebensweg geben können. 1989 wurde von den Vereinten Nationen in der UNKinderrechtskonvention definiert, dass jedes Kind unter 18 Jahren ein Recht auf höchstmögliche Gesundheit sowie einen angemessenen Lebensstandard hat. Die Erfüllung dieser Konvention sollte in einem Wohlstandsstaat wie Österreich kein Problem sein. Im Vergleich zu anderen Weltregionen leben Kinder in Österreich auch in privilegierten Verhältnissen, trotzdem ist die ausgrenzende Wirkung von Armut für die tatsächlich Betroffenen nicht geringer. Zur existenziellen Angst kommen Perspektivlosigkeit sowie Ausgrenzungen aus der Gemeinschaft, was in Summe enorme psychische Belastungen sind. Die Auswirkungen sind unmittelbar: ein Mangel an Gewand, eine schlechtere Ernährung, fehlende Freizeit- und Sportaktivitäten, schlechtere Wohnverhältnisse.
Wer nicht dazugehört, läuft eher Gefahr, die Schule vorzeitig abzubrechen. Das soziale Leben ist eingeschränkt. Das Aufwachsen in Armut bedeutet eine höhere Gesundheitsbelastung für Kinder: Sie erkranken öfter, zeigen vermehrt Entwicklungsstörungen,
leiden häufiger an Kopfschmerzen erkranken häufiger psychisch, ernähren sich nicht ausgewogen, neigen zu Adipositas, Diabetes und Haltungsschäden und sterben um fünf bis acht Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung.
Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, können krankenversichert und trotzdem nicht gut versorgt sein. Wie kann das sein?
Szekeres: Armutsbetroffene Kinder haben Eltern mit den schlechtesten Jobs, den geringsten Einkommen, den krankmachendsten Tätigkeiten, leben in den kleinsten und feuchtesten Wohnungen, wohnen in den schlechtesten Vierteln, gehen in die am geringsten ausgestatteten Schulen und müssen fast überall warten. Familien aus dem unteren Einkommenssegment gehen erst bei extremer Not zum Arzt. Dieser muss die Krankheit dann möglichst schnell beseitigen, damit der Körper wieder funktioniert. Der Körper wird als Arbeitsmaschine für die Bewältigung des stressbelasteten und prekären Alltags eingesetzt. Die Bevölkerung unter der Armutsgrenze weist einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand auf als die Bevölkerungsschicht mit hohem Einkommen. Und sie ist doppelt so oft krank wie die Bevölkerungsschicht mit mittlerem Einkommen. Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, können krankenversichert, aber dennoch nicht gut versorgt sein, besonders wenn es um Selbstbehalte geht, die nicht leistbar sind, oder um Rehabilitationsmaßnahmen, die in einem zu geringen Umfang angeboten werden. Einkommensschwächere Personen suchen um 20 Prozent seltener Fachärztinnen und Fachärzte auf und bekommen durchschnittlich billigere Arzneimittel verordnet. Für armutsgefährdete Kinder bedeutet das, dass keine finanziellen Mittel seitens der Familie da sind, um Heilbehelfe, wie orthopädische Schuheinlagen, zu finanzieren, deren Kosten nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Aber auch die zahnärztliche Mundhygiene für Jugendliche, Impfstoffe oder spezielle Therapien wie Ergo-, Physio-, Logo- oder Psychotherapie sind nicht leistbar.
Was fordern Sie für Kinder und Jugendliche aus finanzschwachen Familien?
Szekeres: Armut darf Kinder nicht krank machen, und Krankheit darf Kinder nicht in Armut führen. Notwendige Therapien und Heilbehelfe müssen für Kinder durchgehend kassenfinanziert sein. Es darf auch keine Selbstbehalte geben. Ungleichheiten bei der kindlichen Gesundheitsversorgung können sich in Ungleichheiten im Erwachsenenalter fortsetzen. Auch bei der Sozialhilfe darf nicht auf Kosten der Kinder gespart werden. Im Schnitt betragen die Kosten für die Basisversorgung eines Kindes inkl. Anteil fürs Wohnen rund 600 Euro im Monat. Bei der neuen Sozialhilfe, wie sie von der alten Regierung geplant wurde, wären Kinder und Jugendliche die ersten Verlierer. Die Staffelung nach der Anzahl der Kinder ist unsozial: Während man für das erste Kind rund 215 Euro pro Monat erhält, sinkt der Betrag für das zweite Kind auf 129 Euro und ab dem dritten Kind auf nur mehr 43 Euro pro Monat – die reinste Armutsfalle für Mehrkindfamilien! Dabei gilt: Wenn wir bei den Kindern sparen, sparen wir an der Zukunft!
Stichwort Politik: Wo müsste die Politik ansetzen, um eine gute Kindergesundheitsversorgung zu garantieren?
Szekeres: Letztendlich braucht es mehr Investitionen in die Prävention und eine bedarfsgerechte Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Um das gut umsetzen zu können, braucht es eine ressortübergreifende Gesundheitspolitik. Als Beispiel: Armut fällt in den Bereich des Sozialministeriums, aber wir wissen, dass Armut einer der größten gesundheitsschädlichen Faktoren ist. Gesundheit muss als ein gemeinsames Aufgabengebiet gesehen werden, das auch dementsprechend aus einer Hand finanziert wird.