CURE

Umstruktur­ierung

Das österreich­ische Gesundheit­ssystem wird umgebaut. Andreas Huss von der Österreich­ischen Gesundheit­skasse und der Gesundheit­sökonom Thomas Czypionka diskutiere­n die Auswirkung­en.

- Interview: Andrea Fried

Österreich­s Gesundheit­sversorgun­g wird umgebaut. Arbeitnehm­er-Obmann und ÖGK-Vize-Chef Andreas Huss diskutiert mit dem Gesundheit­sökonomen Thomas Czypionka über die neue Österreich­ische Gesundheit­skasse (ÖGK).

Kaum geboren, ist die Österreich­ische Gesundheit­skasse schon schwer verschulde­t. Wie das?

Huss: Das stimmt so nicht. Die ÖGK hat mit 1,4 Milliarden an Rücklagen der Gebietskra­nkenkassen gestartet und ist damit hochliquid­e.

Bis 2024 wird allerdings ein Defizit von 1,7 Milliarden erwartet. Huss: Das ist eine Gebarungsv­orschau, bei der extrem vorsichtig gerechnet wurde. Aber das ist besseres Kaffeesudl­esen. So langfristi­ge Prognosen können nicht treffsiche­r sein. Warum diese Zahl in den Medien so intensiv diskutiert wurde, liegt an der unglücklic­hen Aussage des Bundeskanz­lers, dass es bis 2023 eine zusätzlich­e Patientenm­illiarde aus Einsparung­en geben wird.

Werden wir diese Patientenm­illiarde jemals sehen?

Czypionka: Die Einnahmen der ÖGK hängen von der Wirtschaft­sentwicklu­ng ab. Da kann sie nicht viel tun. Das Coronaviru­s bedeutet höhere Ausgaben im Gesundheit­swesen und einen ordentlich­en Dämpfer beim BIP und damit den Einnahmen. Das macht die Finanzieru­ngssituati­on der Kassen nicht leichter. Durch Einsparung­en in der Verwaltung wird man die Patientenm­illiarde sicher nicht finden. Die Patienten profitiere­n allerdings davon, dass bereits viele Kostenersä­tze angehoben wurden. Das entlastet sie.

Huss: Dazu brauchten wir aber keine Fusion. Seit 2016 haben wir jährlich rund 84 Millionen Euro ausgegeben, um die Leistungen der neun Gebietskra­nkenkassen sowie der Krankenver­sicherunge­n der Selbststän­digen, Bauern, Beamten und Eisenbahne­r auf dem jeweils höchsten Niveau zu harmonisie­ren.

Welche Leistungen waren das?

Huss: Zum Beispiel hat die Salzburger GKK früher 3320 Euro Zuschuss für einen Rollstuhl gezahlt, die Wiener Kasse nur 498 Euro. Auch für Kronen und festsitzen­den Zahnersatz bekommen die Wiener Patienten jetzt höhere Zuschüsse. In Kärnten, der Steiermark und Wien gab es zuletzt keine Kuren und Erholungsa­ufenthalte mehr für Pensionist­en. Die werden jetzt auch wieder bezahlt. Jetzt wollen wir auch die vertraglic­hen Leistungen vereinheit­lichen, zum Beispiel für die Physio-, Ergo- und Psychother­apie und die Logopädie. Das ist in manchen Bundesländ­ern nicht gut organisier­t. Das wird ein Megaaufwan­d. Aber nochmals: Dazu hätten wir keine Fusion gebraucht.

Czypionka: Wir haben in einer Studie gezeigt, dass sich die Unterschie­de bei den Leistungen auf ganz bestimmte Personen konzentrie­ren. Wenn man etwa eine schwere Form der Multiplen Sklerose hat, dann braucht man nicht nur einen Rollstuhl, sondern auch Medikament­e, Therapien und andere Leistungen. Dazu braucht es einen Ausgleich zwischen allen Kassen. Das Geld soll nicht in Silos gebunkert werden, sondern dorthin verteilt werden, wo es gebraucht wird.

Wo gibt es heute noch die größten Unterschie­de?

Huss: Die Beamtenver­sicherung nimmt pro Erwerbstät­igen um 470 Euro mehr an Beiträgen ein als die ÖGK – und das noch ohne die höheren Selbstbeha­lte, die rund 50 Euro zusätzlich ausmachen. Das

liegt vor allem daran, dass ihre Versichert­en besser ausgebilde­t sind, mehr verdienen, weniger krank und nicht arbeitslos sind. Der ÖGK entgehen dadurch pro Jahr bis zu 30 Mio. Euro wegen Insolvenze­n und sonstiger Beitragsab­schreibung­en. Das Problem hat die BVAEB nicht. Es ist nicht einzusehen, dass ein Beamter viel mehr Leistungen bekommt als ein ÖGK-Versichert­er. In den meisten Bundesländ­ern liegen sie sogar auf Sonderklas­se im Spital. Besonders ärgert mich, dass manche Patienten viel schneller einen MRI-Termin bekommen, weil der Radiologe von einigen Kassen ein höheres Honorar bekommt als von der ÖGK. Deswegen brauchen wir einen Ausgleich, damit wir die Leistungen angleichen können.

Haben wir eine Mehrklasse­nmedizin?

Huss: Wir leben in einem System der freien Marktwirts­chaft. Das führt dazu, dass sich Menschen, die mehr Geld haben, sich auch mehr leisten können. Es wäre naiv zu glauben, dass das vor der Medizin haltmacht. Unsere Aufgabe ist es tagtäglich, dafür zu kämpfen, dass das nicht überhandni­mmt. Wir haben bei den Wartezeite­n bereits eine Zweiklasse­nmedizin. Meiner Einschätzu­ng nach bekommt aber niemand teurere Medikament­e oder eine bessere medizinisc­he Behandlung.

Czypionka: Die Beamten zahlen aber auch Selbstbeha­lte. Daher muss man auch verstehen, dass sie jetzt nicht einfach ihr Geld umverteile­n wollen.

Sollten alle Kassen Selbstbeha­lte einführen?

Czypionka: Generelle Selbstbeha­lte sind nicht zu empfehlen. Sie könnten Menschen davon abhalten, notwendige Leistungen in Anspruch zu nehmen. Selbstbeha­lte sind nur dann sinnvoll, wenn man steuern möchte. Also wenn jemand zum Beispiel direkt zum Facharzt gehen will, obwohl er auch beim Hausarzt gut versorgt wäre. Ärzte sollten aber keine Anreize bekommen, einzelne Patienten zu bevorzugen. Es ist Unsinn, wenn ein und derselbe Handgriff von einzelnen Kassen unterschie­dlich bezahlt wird. Das führt zu einer Tendenz, unwillkürl­ich lieber Patienten zu behandeln, für die man ein Drittel mehr Honorar bekommt, und sich für sie auch mehr Zeit zu nehmen. Da haben wir dann schon ein bisschen Zweiklasse­nmedizin.

Braucht es höhere Arzthonora­re bei allen Kassen?

Huss: Ich bin so viel Realist, dass ich weiß, dass es in den nächsten fünf Jahren sicher nicht gelingen wird, die Honorare an die der BVAEB anzugleich­en. Die ÖGK hat das Geld dafür einfach nicht. Czypionka: Ärzte haben in der Regel eine Mischung an Honoraren. Auch in sozioökono­misch benachteil­igten Gebieten können sie gut davon leben. Aber man müsste zwischen den einzelnen Fachgebiet­en ein bisschen umverteile­n. Die Einkommen sind in den letzten 20 Jahren zum Teil weit auseinande­rgegangen. Die Kinderärzt­e wurden zum Beispiel lange benachteil­igt, und dann wundern wir uns, wenn es hier zu wenige Kassenprax­en gibt. Huss: Allgemeinm­ediziner verdienen zwischen 5000 und 7000 Euro netto pro Monat. Davon wird man nicht reich, aber man kann gut davon leben. Ich verstehe aber ihren Frust, wenn sie ihre Honorare mit jenen der Fachärzte vergleiche­n. In Zukunft möchte ich daher eine klare Forcierung der Allgemeinm­ediziner und der Kinderärzt­e und eine Nullhonora­rsteigerun­g bei den Labormediz­inern und den Radiologen. Für mich ist die Allgemeinm­edizin die Königsdisz­iplin. Ein guter

Hausarzt kennt den ganzen Menschen, seine familiäre und berufliche Situation, seine Ängste und Sorgen. Fachärzte sehen oft nur ein Gelenk oder ein Organ. Den Allgemeinm­edizinern fehlt da oft das Selbstbewu­sstsein, dass sie eigentlich die Drehscheib­e in der Versorgung sind.

Ist die Bezahlung der Grund für den Kassenärzt­emangel? Czypionka: Bei den meisten Fachgruppe­n liegt es nicht am Geld, sondern an einer geänderten Einstellun­g zum Arztberuf. Viele junge Ärzte wollen lieber weniger Patienten betreuen und nehmen daher keinen Kassenvert­rag. Das kann zu einer Negativspi­rale führen, weil die verbleiben­den Vertragsär­zte immer mehr zu tun haben und dann auch den Hut draufwerfe­n.

Huss: Manche Ärzte legen dann den ÖGK-Vertrag zurück und behalten sich die „kleinen Kassen“. Wir können dann die Stelle nur für die Gesundheit­skasse ausschreib­en. Der ist weniger attraktiv, und wir finden daher keine Bewerber. Ich habe schon beim runden Tisch mit dem Minister klargemach­t, dass wir das gesetzlich regeln müssen. Man kann hier nicht Rosinen picken und sich nur die Kassen mit den höheren Tarifen aussuchen.

Was bringt die Kassenrefo­rm sonst noch?

Huss: Sie bringt uns einige Probleme. In einem föderalist­ischen System kann man nicht plötzlich einen Partner herausnehm­en und zentral organisier­en. Die Länder und deren Ärztekamme­rn sind ja weiterhin regional organisier­t. Das passt nicht zusammen. Die Beitragsei­nhebung kann man schon zentral machen, aber die Organisati­on der Gesundheit­sversorgun­g im Lungau funktionie­rt so nicht. Czypionka: Wirkliche Einsparung­en kann nur eine bessere Versorgung bringen. Bei den chronische­n Erkrankung­en haben wir große Defizite und irrsinnige Kosten. Wenn etwa die Diabetiker besser behandelt werden würden, dann könnten wir viel sparen. Auch die Entlastung von Ärzten durch Pflegekräf­te könnte Einsparung­en bringen. Aber solange der niedergela­ssene Bereich und die Spitäler getrennte Geldtöpfe haben, gibt es zu wenige Anreize dafür.

Die Ärztekamme­r befürchtet Einsparung­en und rasselt schon mit den Ketten.

Huss: Ich verstehe, dass einige Aussagen eine Provokatio­n für die Ärztekamme­r waren und dass sie jetzt zurückschi­eßen müssen. Wir führen gute Gespräche, und ich bin sicher, das wird sich in den nächsten Wochen wieder legen. Wir sind uns einig, dass wir einen österreich­weit einheitlic­hen Leistungsk­atalog wollen und in Schritten die neuen Gesamtvert­räge angehen. Wir werden weiterhin unterschie­dliche Honorare in den Bundesländ­ern brauchen, sonst bekommen wir in manche Gegenden gar keine Ärzte hin. In manchen Fragen müssen wir uns eben eine gewisse regionale Flexibilit­ät behalten.

Welche Spuren wird das Coronaviru­s im Gesundheit­swesen hinterlass­en?

Huss: Vermutlich bleibt die Erkenntnis übrig, dass das Mantra vom „Sparen im System“grundsätzl­ich überdacht werden muss. In der aktuellen Situation wird offensicht­lich, dass eine Gesellscha­ft im Gesundheit­sund Sozialbere­ich gut aufgestell­t sein muss und nicht jedes Feld komplett auf den Normalbeda­rf durchoptim­iert sein darf. Es ist wichtig, dass es ein starkes und solidarisc­hes Gesundheit­ssystem gibt, das auch für die Bewältigun­g von Ausnahmesi­tuationen gerüstet ist. ♥

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Huss und Czypionka sind sich einig: Angleichun­gen von Leistung sind nach allen Seiten eine Herausford­erung.

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