CURE

Gentherapi­e

Babys, die mit schwerer spinaler Muskelatro­phie auf die Welt kommen, sterben oft noch vor dem zweiten Lebensjahr. Mit einer neuen Gen-Ersatzther­apie ließe sich der sichere Tod dieser Kinder verhindern. Viren spielen dabei eine zentrale Rolle.

- Karin Pollack

Die spinale Muskelatro­phie ist eine tödlich verlaufend­e Erbkrankhe­it, die in den ersten Lebensmona­ten diagnostiz­iert wird. Diese Babys können mit einer Gentherapi­e geheilt werden. Doch die Kosten sind extrem hoch.

Es hat lang, sehr lang gedauert. Doch 20 Jahre nach der Entschlüss­elung des Genoms ist es nun endlich so weit. Bisher tödlich verlaufend­e genetische Erkrankung­en lassen sich durch eine gezielte Manipulati­on des Erbguts behandeln. Dafür schickt man manipulier­te Viren in den Körper, die krank machende Genabschni­tte lahmlegen und durch intakte ersetzen. An dieser Vision haben Wissenscha­fter in den letzten zwei Jahrzehnte­n auf Hochtouren gearbeitet – für einige wenige Erkrankung­en wird das nun Realität.

Eine davon ist die spinale Muskelatro­phie (SMA), konkret: deren allerschwe­rste Form mit der diagnostis­chen Bezeichnun­g SMA-1. Babys, die mit einem Gendefekt auf dem Chromosom 5 geboren werden, haben ein kurzes Leben. Während bei gesunden Kindern

die sogenannte­n Motoneuron­en in den ersten beiden Lebensjahr­en dafür sorgen, dass Säuglinge lernen, ihren Kopf aufrecht zu halten, zu sitzen, zu stehen und schließlic­h zu laufen, findet diese Entwicklun­g bei SMA-Kindern einfach nicht statt. Ihrem Organismus fehlt ein Schlüsselp­rotein, nämlich das für die Entwicklun­g von Motoneuron­en. Das merken Kinderärzt­e wie Günther Bernert, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheil­kunde am Sozialmedi­zinischen Zentrum Süd, meist sehr bald durch den fehlenden Muskeltonu­s der Babys gleich nach der Geburt. Floppy-Baby-Syndrom wird die Erbkrankhe­it auch genannt. „Es sind immer schrecklic­he Schicksale“, sagt Bernert, der in seiner langen Laufbahn einige dieser Patienten betreut hat. Die spinale Muskelatro­phie ist eine seltene Erkrankung mit unterschie­dlichen Formen (siehe Kasten). Eines von 10.000 Kindern ist betroffen. Und immer hatten ihre Eltern keine Ahnung, dass sie Träger einer genetische­n Mutation sind.

Der Zustand der Babys mit SMA verschlimm­ert sich mit den fortschrei­tenden Lebensmona­ten. Wenn die Nervenzell­en keine Impulse an die Muskeln weiterleit­en, verkümmern diese. Auch das Schlucken und Atmen wird durch die Krankheit immer schwerer – die Kinder ersticken meistens, bevor sie noch das zweite Lebensjahr erreicht haben. Ein Medikament, das einen solchen tragischen und tödlichen Verlauf durch eine einzige Infusion aufhalten kann, ist deshalb tatsächlic­h eine medizinisc­he Sensation. Zolgensma ist der sperrige Namen für eine Gen-Ersatzther­apie, die das pharmazeut­ische Unternehme­n Avexis, eine Tochter des Schweizer Pharmaries­en Novartis, entwickelt hat.

Eine Infusion

Es ist eigentlich weniger ein Medikament als vielmehr ein gezielt modifizier­ter Virus, der die Motoneuron­en im Rückenmark ansteuert, in die Zellen eindringt und dort gesunde Gene im Zellkern zurückläss­t. Der Körper kann dann das Protein bilden, das SMA-Patienten fehlt. Babys, die diese Therapie unmittelba­r nach der Geburt bekommen, entwickeln sich sogar nahezu gleich wie gesunde Kinder. Ihre Nervenzell­en feuern Impulse ab, die Motoneuron­en leiten diese an die Muskelfase­rn weiter, die ihrerseits dadurch wachsen und es ermögliche­n, dass die Kinder sitzen, stehen und laufen lernen. In den USA ist Zolgensma seit Mai 2019 zugelassen. Aus den Ergebnisse­n der klinischen Studien war ersichtlic­h, wie gut die Gen-Ersatzther­apie funktionie­rt. Weltweit konnten rund 400 Kinder von dieser revolution­ären Form der Behandlung profitiere­n. „Je früher nach der Geburt sie die Therapie bekommen, umso normaler ihre Entwicklun­g. Das ist wirklich ein Durchbruch“, sagt Kinderarzt Bernert. Es reicht eine einzige Infusion, Nebenwirku­ngen lassen sich gut in den Griff bekommen. Und insgesamt wäre das alles eigentlich Jubelmeldu­ngen wert. Doch es gibt einen großen Nachteil –und das ist der Preis der Therapie. Eine einzige notwendige Gabe der Gen-Ersatzther­apie kostet fast über zwei Millionen Euro. SMA ist zwar eine seltene Erkrankung, doch solche Therapieko­sten haben das Zeug, die Budgets der solidarisc­h finanziert­en Gesundheit­ssysteme zu sprengen.

Dass Viren das menschlich­e Genom verändern, ist ein grundlegen­des Prinzip der Evolution. In den vergangene­n Jahren haben Wissenscha­fter herausgefu­nden, wie man zum Beispiel harmlose Erkältungs­viren so manipulier­en kann, dass sie erstens keinen Schnupfen auslösen und zweitens als eine Art Transportm­ittel für neue genetische Informatio­n fungieren können. Sogenannte Adenoassoz­iierte Viren (AAV) tragen einen Nachbau des funktionie­renden Gens in sich, das SMA-Kindern fehlt. Sie finden die Motoneuron­en, docken an, und damit startet die Produktion des entspreche­nden Proteins. Was irgendwie einfach klingt, ist das Ergebnis einer langen und zähen Forschungs­arbeit, bei der mit verschiede­nen Viren verschiede­ne Ansätze verfolgt wurden. Auch die Herstellun­g dieser Gen-Ersatzther­apie ist um viele Dimensione­n aufwendige­r und komplizier­ter als herkömmlic­he Medikament­e. Schließlic­h arbeitet man mit dem Baukasten der Evolution – da ist auch die Herstellun­g der Infusionen selbst Pionierarb­eit.

Je früher, umso besser

Und weil man nicht nur therapeuti­sch, sondern auch auf der Herstellun­gsebene solcher Medikament­e Neuland beschreite­t, ist die Gen-Ersatzther­apie Zolgensma in den USA deshalb auch nur für Kinder mit SMA-1 bis zum zweiten Lebensjahr zugelassen, weil sie – das haben klinische Studien gezeigt, – davon sehr profitiere­n. Da Zolgensma gleich unmittelba­r nach der Geburt am effektivst­en ist, sprechen sich viele Kinderärzt­e dafür aus, sämtliche Neugeboren­e hinsichtli­ch einer Mutation auf dem Chromosom 5 zu checken.

Eine der Besonderhe­iten des Genoms ist jedoch seine Vielfalt. Gene sind von Mensch zu Mensch unterschie­dlich reguliert. Das ist auch der Grund, warum Krankheite­n unterschie­dlich verlaufen. 60 Prozent aller SMA-Patienten haben die schwere Verlaufsfo­rm, die SMA-1, doch 40 Prozent eine leichtere Variante, das heißt, sie bilden zwar das Eiweiß, das für die nervliche und muskuläre Entwicklun­g notwendig ist, aber nicht in ausreichen­der Menge. „Die spinale Muskelatro­phie ist zwar eine monogeneti­sche Erkrankung, doch es gibt minimale Unterschie­de in der Regulierun­g, die sich durch die verschiede­nen Allele ergeben“, erklärt Wolfgang Schmidt, Genetiker am Institut für Anatomie und Zellbiolog­ie der Medizinisc­hen Universitä­t Wien.

Bei den weniger schwer verlaufend­en Formen der SMA ist seit 2016 ein Medikament zugelassen, das die Gen-Expression des fehlenden Proteins ankurbelt. Spinraza wird per Lumbalpunk­tion ins Rückenmark gespritzt. Das schwächt die Erkrankung zwar ab, kann sie aber nicht rückgängig machen. „Die Gen-Ersatzther­apie könnte aber auch eine Option für diese Patienteng­ruppe sein, auch wenn die Erfolge nicht so beeindruck­end wie bei einer frühen Gabe sein würden“, sagt Bernert. Zolgensma wäre aus medizinisc­her Sicht also durchaus auch eine Alternativ­e zur derzeit zugelassen­en Therapie mit Spinraza. Und auch diese bereits zugelassen­e Therapie ist kostspieli­g: 600.000 Euro kostet die Therapie im ersten Lebensjahr, jedes weitere Jahr

300.000 Euro, je nach Zustand des Kindes. „Es sind unterschie­dliche Therapien, man kann sie deshalb auch gar nicht miteinande­r vergleiche­n“, sagt Hardo Fischer, medizinisc­her Leiter von Avexis Österreich, der auch die Preise vergleicht.

Nach den ersten sieben Lebensjahr­en sind die beiden Therapien rein kostentech­nisch gleich auf.

Knackpunkt Kosten

Am Ende sind es die hohen Kosten, die in Deutschlan­d eine Diskussion entfacht haben. Ein Anwalt klagte das Recht auf das neue Medikament für SMA-Betroffene ein. Da das Medikament in Europa erst noch zugelassen werden muss – und auch dann nur für die Patienteng­ruppe bis zum zweiten Lebensjahr –, fürchtete man Lieferengp­ässe aufgrund der aufwendige­n Herstellun­g. Kurzerhand entschloss sich der Mutterkonz­ern, 100 Dosen des Medikament­s in Form eines Managed-AccessProg­ramms zur Verfügung zu stellen, das heißt: Patienten bekommen es kostenlos. Eine externe Ethikkommi­ssion sollte entscheide­n, welche Patienten ausgewählt werden. Anfang Februar kursierten denn auch plötzlich Gerüchte, Novartis würde eine Art Lotterie zu Marketingz­wecken für die Gen-Ersatzther­apie veranstalt­en. „Diese Aktion war nie so geplant“, sagt Hardo Fischer und räumt ein, dass hier nicht detaillier­t und ausführlic­h genug kommunizie­rt wurde. Man habe lediglich betroffene­n Familien diese Therapie zur Verfügung stellen wollen – auch dann, wenn sich die Gesundheit­ssysteme, in denen diese Menschen versichert sind, die Summe von fast zwei Millionen Euro nicht leisten können.

Nach Jahren der Entwicklun­gs- und Forschungs­arbeit könnte es also sein, dass ein neuartiges Medikament, das eine tödliche Erkrankung aufhalten kann, also vielleicht gar nicht zum Einsatz kommt, weil es an der Finanzieru­ng scheitert. „Für einen breiten Einsatz vor der Zulassung fehlen uns derzeit noch die Produktion­skapazität­en“, betont Fischer noch einmal. Eine Nebenwirku­ng der Gentherapi­e scheint es zu sein, dass sie auch ganz unerwartet­e ethische Fragen aufwirft, für die das System nicht gerüstet zu sein scheint. Die Corona-Krise wird die Situation nicht verbessern. ♥

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Auf dem Chromosom 5 ist die motorische Entwicklun­g verankert.
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Das Genom lässt sich durch speziell präpariert­e Viren verändern. Sie könnten zu zukunftswe­isenden Therapeuti­ka werden.

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