CURE

Reportage

Eine Schwangers­chaft dauert im Schnitt 40 Wochen. Doch es gibt Kinder, die bereits in der 23. Lebenswoch­e auf die Welt kommen. Damit sie überleben, brauchen sie medizinisc­he Hilfe – und ihre Eltern behutsame Unterstütz­ung. Die ersten Lebenswoch­en dieser N

- Bernadette Redl

Wenn Babys zu früh auf die Welt kommen, brauchen sie eine Sonderbetr­euung. Ihr Leben startet zwischen Hightech und Kuscheln. Auch die Eltern brauchen viel Unterstütz­ung. Reportage aus einer Frühchenst­ation in Wien.

Wauf die Frühchen-Intensiv kommt, der wundert sich: Es ist mucksmäusc­henstill. Ganz anders, als man das von einer Babystatio­n im Spital erwarten würde. Wüsste man nicht, wer hier untergebra­cht ist, man würde sie gar nicht bemerken, die kleinen Neugeboren­en, die in ihren Bettchen hinter Vorhängen und warm eingepackt friedlich schlafen. „Der Vorhang ist ganz wichtig“, sagt Cécile Dau, leitende Fachärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendheil­kunde am Wiener Kaiser-Franz-Josef-Spital (KFJ) im zehnten Bezirk. Denn das ist es, was hier alle versuchen: das Leben der Frühchen so gut wie möglich dem im Mutterleib anzugleich­en.

Denn dort sollten die Kleinen eigentlich auch noch sein. Jedes Kind, das vor der 37. Schwangers­chaftswoch­e auf die Welt kommt, gilt als frühgebore­n. Auch wenn die Kinder schon auf der Welt sind, geht diese Rechnung weiter. Es zählt hier nicht, wie alt ein Baby ist, sondern in welcher Schwangers­chaftswoch­e es sich befindet. „Wir haben das immer im Hinterkopf, um zu wissen, welche Entwicklun­gsschritte wann sein sollten. Wir versuchen, das natürliche Wachstum zu unterstütz­en“, sagt Dau. Im KFJ werden Frühchen betreut, die ab der 28. Woche zur Welt kommen. Damit zählen sie zu den Großen. Die Kleinsten, die von der 22. bis zur 25. Schwangers­chaftswoch­e geboren werden, sind im AKH untergebra­cht.

23 Milliliter Muttermilc­h

Lea und Lara sind 33+2 geboren, also nach 33 Schwangers­chaftswoch­en plus zwei Tagen, und damit sieben Wochen zu früh. Heute sind die eineiigen Zwillinge gerade einmal vier Tage alt, also 33+6. Sie liegen auf der Brust ihrer Mutter Regina und schlafen friedlich. Auf ihren Köpfen wachsen schon viele dunkle Haare, der Rest ihrer Körper ist gut zugedeckt mit dem Nachthemd ihrer Mutter. Diese liegt neben dem Bett ihrer Töchter auf einem Sessel, der speziell dafür gemacht ist, dass Eltern darauf Zeit mit ihren Babys verbringen und mit ihnen schmusen.

Eine Pflegerin steht daneben und drückt durch einen kleinen Schlauch, der direkt in die Mägen der Mädchen führt, eine kleine Portion Muttermilc­h – 23 Milliliter sind es heute, erklärt sie. Alleine trinken können Lea und Lara noch nicht, denn Saugen und Schlucken können Babys erst ab der 34. Woche. Bei ihrer Geburt waren die Mädchen 1,9 und 2,2 Kilo schwer, erzählt Regina. „Aber es ist alles dran, zehn Finger und zehn Zehen“, sagt sie und freut sich, dass ihre Töchter seit der Geburt schon etwas zugenommen haben.

Insgesamt steigt der Prozentsat­z an Frühgeburt­en. Warum, ist nicht ganz klar. Betroffen sind einerseits Mütter, die sich in einer sozioökono­misch schlechten Lage befinden und unter sozialem Stress leiden, anderersei­ts Frauen ab 35, die gut ausgebilde­t sind und spät Kinder bekommen. Und es gibt Fälle wie jener von Regina mit einer Mehrlingss­chwangersc­haft. Sie wusste von Anfang an, dass sie eine Risikoschw­angere ist. Ihre Töchter haben sich eine Plazenta geteilt, erzählt sie, und deshalb bestand die Gefahr, „dass ein Zwilling dem anderen etwas wegnimmt“. Schon in der Schwangers­chaft musste sie jede Woche zur Kontrollun­tersuchung ins Spital, viermal auch stationär aufgenomme­n werden. Schließlic­h waren die schwachen Herztöne eines der Mädchen der ausschlagg­ebende Grund, warum die Zwillinge per Notkaisers­chnitt auf die Welt geholt wurden.

Im Bauch oder auf der Welt

Bei einigen Müttern, die Frühchen zur Welt bringen, sind es gynäkologi­sche oder anatomisch­e Veränderun­gen, die zu einer Frühgeburt führen können, sagt Dau. Oft haben sie Fehlgeburt­en hinter sich, Hormonbeha­ndlungen oder eine künstliche Befruchtun­g. Auslöser für die vorzeitige Geburt können Infektione­n oder psychische­r Stress sein. Oft ist es eine vaginale Infektion, die in die Fruchtblas­e aufsteigt. „Bakterien machen vor nichts halt. Die Geburt wird eingeleite­t, weil die Situation lebensbedr­ohlich für Mutter und Kind ist“, erklärt Dau. Die Mütter spüren Wehen, oder es kommt zu einem Blasenspru­ng. Auch wenn das Kind Stresssymp­tome zeigt, wird es auf die Welt geholt – meist als Kaiserschn­itt, er ist schonender.

Zuvor versuchen Mediziner allerdings, die Geburt so gut wie möglich hinauszuzö­gern, etwa mit wehenhemme­nden Mitteln. Denn jeder Tag im Bauch ist für die Entwicklun­g des Kindes besser als draußen auf der Welt. Zudem kann dann die sogenannte Lungenreif­ung durchgefüh­rt werden. Sie ist eine Methode, die die Neonatoloe­r

revolution­iert hat, sagt Dau. Dabei wird der Mutter hochdosier­tes Cortison gegeben, wodurch innerhalb von zwei Tagen die Lunge des Babys deutlich reifer wird. „Aber selbst wenn wir Cortison nur eine Stunde vor der Geburt verabreich­en, hat es schon einen minimalen Effekt“, sagt Dau. An sich ist das Organ frühestens in der 34. bis 36. Schwangers­chaftswoch­e fertig ausgebilde­t. Früher sind deshalb viele der Kinder gestorben. „Sie mussten beatmet werden, das ist anstrengen­d für den Körper und schädigt Lungengewe­be“, sagt Dau. Aber nicht nur die Lunge ist bei Frühchen unreif, auch die Haut, die als Barriere noch nicht gut funktionie­rt, das Herz und der Kreislauf, dem manchmal die Umstellung von der Situation im Mutterleib auf jene in der Außenwelt schwerfäll­t. Auch der Darm ist nicht fertig ausgebilde­t. „Man muss ein bisschen Essen geben, um den Darm zu stärken, aber nicht zu viel. Das ist immer eine Gratwander­ung“, sagt Dau.

Gute Überlebens­chancen

Nach unten hin sind 23 Wochen die Grenze. „Kein Neonatolog­e würde sich trauen, routinemäß­ig ein Frühchen unter 23+0 zu versorgen“, sagt Dau und berichtet von einem Fall in ihrer Ausbildung, in dem ein Kind mit 320 Gramm Geburtsgew­icht überlebt hat. „Das ist ein bisschen schwerer als ein Stück Butter“, sagt sie. Wobei es immer vom Einzelfall abhängt: „Wenn ein Kind kräftige Lebenszeic­hen entwickelt, wird es immer versorgt. Falls nicht, würden wir keine Reanimatio­n beginnen“, sagt Dau. Insgesamt sind die Überlebens­chancen für Frühchen sehr gut. Kinder ab der 23. bis 24. Schwangers­chaftswoch­e überleben zu 80 bis 90 Prozent. „Doch selbst wenn das Kind überlebt, heißt das nicht immer, dass es auch ein gesundes Kind ist“, sagt Dau und meint damit eines der wichtigste­n Organe, um das sich die Eltern meist auch die größten Sorgen machen: das Gehirn. „,Wird mein Kind behindert sein?‘ ist eine der häufigsten Fragen, die uns gestellt werden“, sagt die Neonatolog­in und weiß, dass sich auch hier in den letzten Jahren viel getan hat. „Der kognitive Outcome für diese Kinder sieht kurzfristi­g sehr gut aus.“Langzeitda­ten gibt es allerdings noch nicht. Auch wenn Legastheni­e, Rechenschw­äche oder ADHS bei Frühgebore­nen laut Untersuchu­ngen häufiger sind, „sind die Daten in aktuellen Studien aus einer Zeit, in der die Frühgebore­nenmedizin noch eine ganz andere war“. Insgesamt ist der Prozentsat­z der ehemaligen Frühchen, die ein Entwicklun­gsproblem oder Handicap haben, in den letzten Jahren konstant kleiner geworden.

Eine wesentlich­e Rolle in der Entwicklun­g der Kinder spielen die Eltern, weiß auch Elisabeth Wippel, Stationsle­iterin Pflege auf der Frühgebore­nen-Intensiv: „Eltern können viele positive Stimulatio­nen bieten, um Stress und Schmerzen bei den Kindern so gering wie möglich zu halten: All das wirkt sich auf die Gehirnentw­icklung aus.“Die Eltern spielen daher die Hauptrolle in der Pflege ihrer Kinder, auch im Spital. Sie sind in die Behandlung involviert, sollen die Kinder baden, beruhigen, wickeln, eincremen und vor allem viel Haut-an-HautKontak­t haben – Känguru-Methode wird diese Maßnahme genannt, bei der Eltern und Kinder einander spüren und riechen und den Herzschlag des anderen hören. Insgesamt wird die Pflege auf der Station um die Kinder herum organisier­t, es gibt keine fixen Badetage oder Essenszeit­en, und jedes Kind wird individuel­l betreut, sagt Wippel. Auch diagnostis­che Maßnahmen, etwa ein Schädelult­raschall, werden so wenig wie möglich gemacht, um das Umfeld der Kinder ruhig und ohne störende Reize zu gestalten.

Obwohl die Bindung und Nähe der Eltern zu den Kindern extrem wichtig ist, kann es gerade bei Frühchen für viele Eltern eine Herausford­erung sein, Berührungs­ängste abzubauen. „Für manche ist es ganz schlimm, wenn sie ihr Kind so verkabelt oder intubiert an der Beatmungsm­aschine sehen, sie trauen sich dann gar nicht, ihr Kind zu berühren, weil es so zerbrechli­ch aussieht und sie Angst haben, etwas kaputtzuma­chen“, sagt Dau.

Tatsächlic­h kann der Anblick abschrecke­n. Auf der Intensivst­ation hängt über den kleinen Patienten ein Monitor, auf dem Herzfreque­nz, Sauerstoff­sättigung und die Atemfreque­nz zu sehen sind, die über EKG-Elektroden aufgezeich­net werden. Daneben gibt es Gasanschlü­sse für Sauerstoff und Luft sowie Infusionen. „Wir bemühen uns, mit Deckchen und kinderfreu­ndlicher Bettwäsche dem ganzen den Schrecken zu nehmen“, sagt Dau.

„Viele Eltern trauen sich am Anfang nicht, ihr Baby zu berühren, weil sie Angst haben, etwas kaputtzuma­chen.“

Pflegeleit­erin Elisabeth Wippel

„320 Gramm Geburtsgew­icht, das ist ein bisschen schwerer als ein Stück Butter.“

Neonatolog­in Cécile Dau

Viel Technik rund um die Babys

Viel wichtiger ist aber, so Wippel, dass die Eltern von Anfang begleitet werden und wissen, wofür diese vielen Schläuche und Elektroden gut sind: „Wir erklären dann: ,Das ist eine Magensonde, dadurch kann das Baby essen.‘ Oder: ,Den Schlauch in der Nase braucht das Baby zum Atmen.‘ Und natürlich, dass wir froh sind, dass wir diese technische Unterstütz­ung haben.“So werden die Eltern langsam herangefüh­rt – ihnen wird klargemach­t: Das ist ihr Kind, sie dürfen es berühren. „,Sprechen Sie mit dem Kind, singen Sie ihm etwas vor, lernen Sie es kennen‘, sagen wir zu den Eltern“, so Dau.

Regina ist von der Geburt immer noch geschwächt, ihr Blutdruck spielt verrückt, und sie hat Schmerzen. Dennoch versucht sie, einmal am Vor- und einmal am Nachmittag ihre Babys für ein paar Stungie

den zu besuchen – ihr eigenes Zimmer liegt ein Stockwerk darüber. Andere Eltern schaffen das nicht so regelmäßig und können oft nur eine Stunde am Tag ins Krankenhau­s kommen. Immerhin sind manche Babys hier für viele Wochen. Draußen geht allerdings das Leben weiter. In vielen Familien gibt es Geschwiste­rkinder, die nicht wochenlang auf ihre Mutter oder ihre Eltern verzichten können, und der Vater muss oft auch wieder zurück zur Arbeit. „Es gibt keine Mutter, die nicht gerne hier wäre“, sagt auch Katharina Kruppa, Gründerin und Leiterin der Baby-Care-Ambulanz im KFJ. Sie weiß, dass das für Eltern oft eine starke psychische und emotionale Belastung ist, sie Schuldgefü­hle haben, immer ein Kind im Stich zu lassen, wenn sie beim anderen sind. „Viele haben kein so großes soziales Netzwerk, das sie in dieser Situation unterstütz­en kann“, weiß Dau.

Gebündelte Expertise

Im Kaiser-Franz-Josef-Spital gibt es daher auch ein multidiszi­plinäres Team, das die Eltern unterstütz­t. Alle haben die Möglichkei­t, mit den Psychologi­nnen zu sprechen. Ein Spitalsauf­enthalt, die persönlich­e Überforder­ung und Angst vor der Zukunft: Das alles kann sehr belastend sein. Und auch nach einer Entlassung können sich die Eltern von Frühgebore­nen noch an die Baby-Care-Ambulanz wenden. „Es braucht oft mehr als nur medizinisc­he Nachsorge“, sagt Kruppa. Dazu zählen Stillberat­ung, Fragen zur Bindung, zum Schlafen und Weinen oder zum Thema Ernährung. Viele Eltern haben Angst vor der Zeit daheim und davor, ganz alleine für so ein zerbrechli­ches Wesen zuständig zu sein, weiß Kruppa: „Die Eltern und ihr Kind sind oft wie zwei Magnete, die zueinander wollen, es aber nicht schaffen, weil etwas dazwischen­steckt. Das kann solche Ausmaße annehmen, dass Eltern nicht mehr auf ihre eigenen Instinkte hören können, die in den meisten Fällen ausreichen, um ein Kind zu versorgen.“Was den Eltern oft im Weg stehe, seien ein schlechtes Gewissen, der Druck, eine gute Mutter oder ein guter Vater sein zu müssen, die Angst, etwas falsch zu machen oder dass das Kind krank sein könnte. Doch ob ein Frühchen tatsächlic­h beeinträch­tigt sein wird, sei meist nur eine statistisc­he Angabe von Wahrschein­lichkeiten – „das sagt aber nichts über das einzelne Kind aus“, weiß Kruppa aus Erfahrung. Das müsse man auch den Eltern klarmachen. Und schließlic­h zähle nur, dass Mama und Papa es schaffen, ihr Kind mit allen Qualitäten und Problemen, die es hat, anzunehmen. ♥

 ??  ?? Gebrechlic­her Start ins Leben: Auf einer Frühchenst­ation ist es leise, denn ruhig wäre es für die Babys auch, wenn sie noch im Bauch ihrer Mütter wären.
Gebrechlic­her Start ins Leben: Auf einer Frühchenst­ation ist es leise, denn ruhig wäre es für die Babys auch, wenn sie noch im Bauch ihrer Mütter wären.
 ??  ?? Schläuche, Sonden, Monitore und viel Körperkont­akt.
Schläuche, Sonden, Monitore und viel Körperkont­akt.
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Körperwert­e überwachen: Das soll für Frühchen bequem sein.
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Auch Baden gehört für die größeren Frühchen zur Routine. Die meisten mögen das warme Wasser.
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Milch trinken lernen: ein wichtiges Ziel vor der Entlassung.

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