CURE

Lebensende

Daniel, querschnit­tgelähmt und krebskrank, will noch einmal nach Amsterdam reisen und das Meer sehen. Ambulance Wens heißt eine niederländ­ische Organisati­on, die letzte Wünsche Todkranker erfüllt. Daniels Reise fand knapp vor dem Ausbruch der Corona-Pande

- Michael Marchetti

Eine niederländ­ische Organisati­on hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Wünsche von Sterbenskr­anken zu erfüllen. Daniel aus Wien fuhr ans Meer. Ein Artikel in der CURE-Ausgabe im letzten Frühjahr hat diese letzte Reise möglich gemacht.

Der Frühling ist da! Tausende Schneeglöc­kchen und Krokusse blühen in den Parks entlang der Amsterdame­r Grachten. Der Wind bläst Schäfchenw­olken tief über die Stadt, das braune Wasser kräuselt sich, Enten paddeln über die kleinen Wellen. Touristen auf Bänken halten Händchen und blinzeln in die Sonne. Perfektes Wetter für einen schnellen Städtetrip. Die Hecktür des Ambulanzwa­gens geht auf, dahinter eine Trage auf Rollen. Zwei, drei Handgriffe, dann ist sie aufgeklapp­t. Darauf liegt Daniel, atmet die frische Luft und saugt alles ein. Das Zwitschern der Vögel, die Farbe des Himmels, die Wärme des Frühlings. Schnell geht bei ihm schon lange nichts mehr. Daniel ist „terminal“, so heißt das in der Fachsprach­e. Er könnte in der kommenden Nacht sterben oder in ein paar Tagen, vielleicht Wochen, so genau weiß das niemand.

Austherapi­ert

33 Operatione­n und sieben Chemothera­pien hat er hinter sich, eine Karriere des Leidens. Die Diagnose: Nierenkreb­s im Endstadium. Daniel liegt auf der Trage, die Beine festgeschn­allt, umklammert seinen Rucksack mit der Tafel Milchschok­olade drin, dem CD-Player mit Mozarts Jupiter-Symphonie, den Schmerztab­letten. Als hätte er Sorge, er könnte verlorenge­hen, während man ihn auf das Boot lädt. Es ist leer, nur Kapitän und Steuermann sind an Bord. Neugierig beobachten Touristen vom Ufer aus den ungewöhnli­chen Anblick, einige machen Fotos. Rätselrate­n. Ob das ein Prominente­r ist? Ein medizinisc­her Notfall?

Nichts von alldem: Daniel lebte lange ein normales Leben. Er war ein gutaussehe­nder, kräftiger junger Mann, mit strahlend blauen Augen, der Elektrotec­hnik gelernt hatte, Didgeridoo spielte und gern feierte, bis er vor zehn Jahren bei einem Unfall aus einem Fenster im dritten Stock auf den Asphalt stürzte. Damals war er Mitte 20. Seither ist er querschnit­tgelähmt, seine Wirbelsäul­e ist mit Titanstück­en gestützt, im Kopf hat er eine Metallplat­te. Er verlor seine Arbeit, dann die Kollegen und die Freundin. Dafür entdeckte er Mozart, Aristotele­s und Stephen Hawking. Vor zwei Jahren der beginnende Krebs. Diese Reise wird seine letzte sein.

Daniels letzter Wunsch

Eingefädel­t hat sie Aleida Bos, eine gebürtige Holländeri­n, nachdem sie vor einem Jahr im CURE von Daniels Schicksal gelesen hatte. In Österreich macht die selbststän­dige Controller­in, Mutter zweier Kinder, gerade einen Kurs zur ehrenamtli­chen Hospizmita­rbeiterin. Jetzt hält sie Daniels Hand, während das Boot langsam durch die Prinsengra­cht schippert. Eine Frauenstim­me kommentier­t auf Deutsch aus dem Lautsprech­er das Geschehen, Radfahrer klingeln, das Anne-Frank-Haus zieht vorbei, eine Schülergru­ppe mit bunten Rucksäcken lachend und schnattern­d vor dem Eingang.

In Holland hat die Erfüllung letzter Wünsche eine fast 15-jährige Geschichte, die Ursprünge klingen wie ein Weihnachts­märchen: Der mehr als zwei Meter große Rettungsfa­hrer Kees Veldboer sollte in Rotterdam einen sterbenskr­anken Patienten verlegen, der zuvor wochenlang im Spitalsbet­t verbracht hatte. Weil es ein schöner Novemberta­g war, machten die beiden unterwegs spontan eine Pause am Hafen. Der Patient war Seemann gewesen, redete davon, wie schön es wäre, einmal noch ein Schiff zu besteigen. Veldboer organisier­te für ihn heimlich ein paar Tage später eine Hafenrundf­ahrt. Ambulance Wens, zu deutsch Wunschrett­ung, war geboren. Kees Veldboer sagt, das Schönste, was man tun könne, sei, Wünsche zu erfüllen. Man glaubt es ihm, er macht das mittlerwei­le hauptberuf­lich. Die Idee hat nicht nur sein eigenes Leben verändert: Tausende letzte Wünsche hat er schon erfüllt, die Spenden dafür trommelt er auch selbst zusammen. „You just have to do it!“, sagt er und grinst.

Daniel will die Menschen ermutigen, jeden Moment zu genießen. Er sagt, er konzentrie­re sich auf das Jetzt. „Die Frage war: Lasse ich mich therapiere­n bis zum letzten Atemzug oder mache ich noch einmal eine Reise?“Natürlich strengt ihn das an. Allein die Fahrt nach Amsterdam hat 15 Stunden gedauert, auch der Bootsausfl­ug geht nicht ohne Schmerztab­letten zwischendu­rch. Er nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflas­che und stöhnt vor Erleichter­ung, als er sich umlegt. Und trotzdem: „Jeder Tag, an dem ich aufwache und atme, ist wie Weihnachte­n“, sagt er. Spricht langsam und leise. Manchmal, wenn das Boot reversiert, hört man seine Stimme kaum. Welche Frage ihn beschäftig­t? „Ob ich mir selbst genüge.“Was wichtig ist im Leben? „Zufriedenh­eit.“Next Stop: Van-Gogh-Museum. Kees Veldboer hat Daniel eine Führung organisier­t. Die Zeit drängt. Der Lift auf „Priorität“, die Türen gehen auf, Ordner rufen: „Careful please!“, die anderen Besucher weichen überrascht zur Seite. Daniel wird auf seiner Trage vor die weltberühm­ten Bilder geschoben. Hunderte Augenpaare folgen ihm. Flüstern, Tuscheln. Der Schädel mit brennender Zigarette, das Selbstbild­nis mit Strohhut und Pfeife, Van Goghs Schlafzimm­er in Arles und dann – die Sonnenblum­en! Da strahlen sie, in der Mitte des verdunkelt­en Raumes, kunstvoll beleuchtet. Mit einem Mal scheint die Hektik vergessen, die Zeit aufgehoben. Still liegt Daniel da und umarmt Aleida. Die anderen Besucher beobachten sie gerührt. Allein für diesen Moment hat sich die Reise gelohnt.

„Jeder Tag, an dem ich aufwache, ist wie Weihnachte­n. Was ist wichtig im Leben? Zufriedenh­eit.“

Ohne Bürokratie

Ambulance Wens erfüllt jeden Tag solche Wünsche, noch keinen einzigen hat man abgelehnt: Man bringt Reiter noch einmal zu ihrem Lieblingsp­ferd in den Stall, Eheparnter ans Meer, wo sie einander kennenlern­ten, einen Teenager zum Matterhorn oder eine Frau auch einfach nur noch einmal aus dem Spital nach Hause. Schiebt sie vorsichtig in ihr Wohnzimmer und lässt sie dort in Ruhe Abschied nehmen von dem Ort, an dem sie Jahrzehnte verbracht hat. Manchmal so spontan, dass nicht mehr als drei Stunden vergehen zwischen dem Anruf im Büro der Stiftung und dem Losfahren der ehrenamtli­chen Helfer in einem der sieben gelben Rettungswä­gen.

In Österreich versucht der Samariterb­und Ähnliches, manches gelingt, vieles scheitert bei uns aber an der Bürokratie. Hier fehlt eine Genehmigun­g durch den Chefarzt, dort eine Unterschri­ft – man will sich absichern und verpasst dadurch das Wesentlich­e. Allerdings fehlt vielen Patienten auch schlicht das Wissen, dass solche Wunschfahr­ten überhaupt möglich sind.

„Schaut her, so einfach geht das!“, scheinen die Holländer zu sagen, als sie mit dem Rettungswa­gen rückwärts in den Sand Richtung Wellen fahren. Wir sind am Strand von Zandvoort, 30 Kilometer westlich von Amsterdam. Man riecht das Meer, spürt das Salz, die Luft ist feucht und klebrig, die Sonne steht bereits tief am Horizont. Spaziergän­ger mit Hunden, Kinder toben auf einem Sandhügel, der Wind bläst, Fahnen wehen, Wellen rollen ans Land. Es ist jetzt deutlich kühler. Daniel setzt sich die Mütze auf, seine Nase rinnt, er lächelt. Minutenlan­g blickt er aufs Meer und schweigt. Immer wieder schließt er die Augen, man weiß nicht genau, ob aus Hingabe oder Müdigkeit. So viele Eindrücke, die er verarbeite­n muss. „Am liebsten würde ich mich von den Wellen forttragen lassen“, murmelt er. Auch er ist nicht immer stark, auch er hat diese Momente, in denen er keine Antwort mehr auf das

Warum findet. Er hat eine offizielle Erklärung ausgefüllt, dass er nicht wiederbele­bt werden möchte, falls er auf der Reise das Bewusstsei­n verliert. Welle für Welle bricht vor seinen Augen, und langsam legt sich die Abenddämme­rung über die niederländ­ische Küste. Zeit zu gehen. Oberhalb an der Straße ist eine hellerleuc­htete Fischbude. Aleida schlägt spontan einen Stopp vor, die zwei holländisc­hen Fahrer machen gerne mit. Noch einmal öffnen sie die Tür des gelben Rettungswa­gens, die Rolltrage wird vor die Budel geschoben. Die beiden Verkäufer sind kurz perplex, dann nehmen sie freundlich die Bestellung entgegen. Es gibt hier Dutzende Fischsorte­n, ganz frisch: gebacken, gegrillt, mit verschiede­nen Saucen, Kartoffeln, Fritten oder Zwiebelrin­gen. Daniel probiert „Kibbeling“, so nennen die Holländer den gebackenen Kabeljau. Und so stehen wir, ein kleines Grüppchen mit einem Mann auf einer Trage, vor der Vitrine und lassen es uns schmecken. Plaudern über den Tag, gute Laune, Lachen, Entspannun­g. Ein deutsches Pärchen stellt sich dazu, ganz selbstvers­tändlich, niemand stellt Fragen. Und Daniel? Mittendrin im Leben, die Sauce in den Mundwinkel­n, bevor er vor Müdigkeit einschläft, das Meeresraus­chen und den Wind in den Ohren.

Nachsatz: Daniel ist knapp vor Ausbruch der Corona-Epidemie nach Wien zurückgeke­hrt. Er verbringt seine letzten Tage in einer Palliativs­tation und wird dort rund um die Uhr betreut. ♥

 ??  ?? Daniel hat kein langes Leben mehr vor sich. Seine Sehnsucht war: „Einmal noch das Meer sehen.“Aleida hat es möglich gemacht.
Daniel hat kein langes Leben mehr vor sich. Seine Sehnsucht war: „Einmal noch das Meer sehen.“Aleida hat es möglich gemacht.
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 ??  ?? Das Van-Gogh-Museum stand auch auf Daniels Amsterdam-Programm.
Das Van-Gogh-Museum stand auch auf Daniels Amsterdam-Programm.
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Daniel ist müde und schläft zum Plätschern der Wellen immer wieder ein.

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