Pandemie
Die Spanische Grippe, die von 1918 bis 1920 wütete, forderte weltweit mehr Tote als der Erste Weltkrieg. Trotz all der Unterschiede zu Covid-19 hält die damalige Pandemie einige Lektionen für die Gegenwart bereit.
Die letzte große Pandemie war die Spanische Grippe vor 102 Jahren. Damals kursierten Influenza-Viren und legten das öffentliche Leben in einer vom Krieg geschwächten Gesellschaft lahm.
Ob die Spanische Grippe mehr Schaden anrichtete als Covid-19 etwas mehr als hundert Jahre später, wird die Geschichte weisen – stehen wir doch erst am Anfang der schwersten Pandemie des 21. Jahrhunderts. Die Folgen der Spanischen Grippe waren jedenfalls verheerend: Nach heutigen Schätzungen infizierte sich ein Drittel der Menschheit mit dem Influenzavirus, das von 1918 bis 1920 wütete und nach heutigen Schätzungen rund 50 Millionen Tote forderte – deutlich mehr als der Erste Weltkrieg.
Vieles an der aktuellen Pandemie ist anders als vor gut einem Jahrhundert: Es handelt sich um ein anderes Virus aus einer anderen Virenfamilie, und die Welt war damals von einem Weltkrieg gebeutelt. Zudem hat die Medizin in den vergangenen hundert Jahren enorme Fortschritte gemacht. Dennoch gibt es zwischen den beiden Seuchen einige Gemeinsamkeiten: Bereits 1918 gab es am Beginn der Pandemie Geheimhaltung und fatale Verzögerungen bei den Maßnahmen; schon damals waren jede Menge Falschnachrichten im Umlauf, und Fußballspiele fanden ohne Publikum statt. Doch auch aus anderen Gründen lässt sich einiges aus der Geschichte der Spanischen Grippe für unsere heutige Lage und für die Entwicklungen der nächsten Monate lernen.
Wo und wann genau die Spanische Grippe ihren Ausgang nahm, ist etwas weniger klar als bei Covid-19. Vermutet wird, dass die Pandemie im US-Bundesstaat Kansas begann: Anfang 1918 hatte ein Landarzt ungewöhnlich aggressive Krankheitsverläufe bei seinen Patienten diagnostiziert. Im März 1918 erkrankten in einem nahegelegenen Stützpunkt der US-Armee binnen kürzester Zeit mehr als 1000 Männer schwer; etliche von ihnen starben. Im Frühjahr 1918 hatte die Influenza die Vereinigten Staaten fest im Griff.
„Im Sommer 1918 flaute die Pandemie für kurze Zeit ab, um ab Herbst in einer zweiten Welle umso heftiger zuzuschlagen.“
Mit infizierten Soldaten der US-Armee gelangte das Virus an die Westküste Frankreichs. Und von dort eroberte die Seuche rasch die Frontabschnitte. Zur „Spanischen Grippe“wurde die Epidemie vor allem deshalb, weil im neutralen Spanien ausführlich über die ungewöhnliche heftige Grippewelle berichtet wurde. Zudem steckte sich im Mai 1918 auch König Alfons XIII. wie tausende andere Spanier an. In den meisten anderen Ländern hingegen wurde die Krankheit kriegsbedingt totgeschwiegen.
Andere Bezeichnungen waren nationalistisch geprägt: Die Polen nannten die Influenza die „bolschewistische Krankheit“, für Brasilianer war es die „deutsche Grippe“und für die Bewohner des Senegals die „brasilianische Grippe“. Heute sind für solche Krankheiten dank der Weltgesundheitsorganisation WHO neutrale Bezeichnungen wie Covid-19 vorgesehen, was freilich den US-Präsidenten
Trump nicht hindert, den Erreger als „chinesisches Virus“zu bezeichnen.
Im Sommer 1918 flaute die Pandemie für kurze Zeit ab, um ab Herbst in einer zweiten Welle umso heftiger zuzuschlagen. In den nächsten zwölf Monaten, die im Frühling 1919 noch eine dritte Welle brachten, forderte die Spanische Grippe in Wien offiziell zwar „nur“4500 Tote. Unter ihnen waren auch der 28-jährige Maler Egon Schiele und seine schwangere Frau Edith im Oktober 1918. Nimmt man den drastischen Anstieg der Todesfälle durch Sekundärinfektionen wie Lungenentzündungen hinzu, dürften es in Wien rund 9000 Grippeopfer gewesen sein. Österreichweit geht man von rund 21.000 Toten aus.
Sehr viele junge Opfer
Untypisch an der Spanischen Grippe war die Altersverteilung bei der Sterblichkeit. Fast die Hälfte der Pandemieopfer waren – so wie das Ehepaar Schiele – junge Erwachsene, die zwischen 20 und 40 Jahre alt waren. Der Grund dafür ist bis heute nicht ganz klar. Covid-19 hingegen stellt vor allem für ältere Menschen ab 70 Jahren eine echte Bedrohung dar, auch wenn die Mortalität etwas niedriger sein dürfte als bei der Spanischen Grippe.
In Sachen Sterblichkeit ließe sich aber auch etwas Wichtiges von der Grippepandemie vor gut 100 Jahren lernen: So zeigten epidemiologische Studien, dass sich die Zahl der Opfer – etwa im Vergleich zwischen St. Louis und Philadelphia – massiv erhöhte, wenn Maßnahmen zur sozialen Distanzierung etwas zu spät und zu inkonsequent ergriffen wurden.
18 Millionen Tote in Indien
Was freilich auch für Covid-19 zu befürchten ist: Die meisten Opfer forderte die Spanische Grippe unter den Ärmsten, sowohl lokal wie auch global. Allein in Indien, wo zudem auch noch eine Hungersnot herrschte, dürften rund 18 Millionen Menschen an der Influenza-Pandemie gestorben sein. In unseren Breiten litten vor allem die Unterprivilegierten unter der Krankheit, deren Folgen durch die Notlage nach dem Krieg weiter verschlimmert wurden. Besonders hohe Mortalitätsraten gab es bei entlegenen Ethnien wie den Inuit, deren Immunsystem schlecht auf den Erreger vorbereitet war.
Erstaunlich ist, wie lange die Spanische Grippe, die bis 1920 Nachepidemien zeitigte, in Vergessenheit geriet. Dazu trug wohl auch bei, dass sich die Weltwirtschaft für ein paar Jahre von Krieg und Pandemie erholte, ehe ab 1929 mit der Weltwirtschaftskrise die nächste Katastrophe folgte – und wieder zehn Jahre später der Zweite Weltkrieg. Erst einige Untersuchungen über die Spanische Grippe zu Beginn des 21. Jahrhunderts und das 100Jahr-Jubiläum holten die für lange Zeit vergessene Pandemie wieder zurück in das kollektive Gedächtnis.
So konnte man erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts das damalige Grippevirus aus Leichen isolieren, die im Permafrost Alaskas konserviert worden waren. Nachfolgende Analysen zeigten 2005, dass der damalige Erreger eine besonders bösartige Variante des Subtyps A/H1N1 darstellte und dem Vogelgrippevirus stark ähnelte. Neue Studien zeigten auch, dass die lange unterschätzte Katastrophe auch erhebliche soziale und politische Folgen hatte. In vielen Ländern wurde deshalb die soziale Gesundheitsvorsorge verbessert. Und in Indien führten die dramatischen Opferzahlen dazu, dass sich die Unabhängigkeitsbewegung formierte und letztlich auch durchsetzte. ♥