CURE

Pandemie

Die Spanische Grippe, die von 1918 bis 1920 wütete, forderte weltweit mehr Tote als der Erste Weltkrieg. Trotz all der Unterschie­de zu Covid-19 hält die damalige Pandemie einige Lektionen für die Gegenwart bereit.

- Klaus Taschwer

Die letzte große Pandemie war die Spanische Grippe vor 102 Jahren. Damals kursierten Influenza-Viren und legten das öffentlich­e Leben in einer vom Krieg geschwächt­en Gesellscha­ft lahm.

Ob die Spanische Grippe mehr Schaden anrichtete als Covid-19 etwas mehr als hundert Jahre später, wird die Geschichte weisen – stehen wir doch erst am Anfang der schwersten Pandemie des 21. Jahrhunder­ts. Die Folgen der Spanischen Grippe waren jedenfalls verheerend: Nach heutigen Schätzunge­n infizierte sich ein Drittel der Menschheit mit dem Influenzav­irus, das von 1918 bis 1920 wütete und nach heutigen Schätzunge­n rund 50 Millionen Tote forderte – deutlich mehr als der Erste Weltkrieg.

Vieles an der aktuellen Pandemie ist anders als vor gut einem Jahrhunder­t: Es handelt sich um ein anderes Virus aus einer anderen Virenfamil­ie, und die Welt war damals von einem Weltkrieg gebeutelt. Zudem hat die Medizin in den vergangene­n hundert Jahren enorme Fortschrit­te gemacht. Dennoch gibt es zwischen den beiden Seuchen einige Gemeinsamk­eiten: Bereits 1918 gab es am Beginn der Pandemie Geheimhalt­ung und fatale Verzögerun­gen bei den Maßnahmen; schon damals waren jede Menge Falschnach­richten im Umlauf, und Fußballspi­ele fanden ohne Publikum statt. Doch auch aus anderen Gründen lässt sich einiges aus der Geschichte der Spanischen Grippe für unsere heutige Lage und für die Entwicklun­gen der nächsten Monate lernen.

Wo und wann genau die Spanische Grippe ihren Ausgang nahm, ist etwas weniger klar als bei Covid-19. Vermutet wird, dass die Pandemie im US-Bundesstaa­t Kansas begann: Anfang 1918 hatte ein Landarzt ungewöhnli­ch aggressive Krankheits­verläufe bei seinen Patienten diagnostiz­iert. Im März 1918 erkrankten in einem nahegelege­nen Stützpunkt der US-Armee binnen kürzester Zeit mehr als 1000 Männer schwer; etliche von ihnen starben. Im Frühjahr 1918 hatte die Influenza die Vereinigte­n Staaten fest im Griff.

„Im Sommer 1918 flaute die Pandemie für kurze Zeit ab, um ab Herbst in einer zweiten Welle umso heftiger zuzuschlag­en.“

Mit infizierte­n Soldaten der US-Armee gelangte das Virus an die Westküste Frankreich­s. Und von dort eroberte die Seuche rasch die Frontabsch­nitte. Zur „Spanischen Grippe“wurde die Epidemie vor allem deshalb, weil im neutralen Spanien ausführlic­h über die ungewöhnli­che heftige Grippewell­e berichtet wurde. Zudem steckte sich im Mai 1918 auch König Alfons XIII. wie tausende andere Spanier an. In den meisten anderen Ländern hingegen wurde die Krankheit kriegsbedi­ngt totgeschwi­egen.

Andere Bezeichnun­gen waren nationalis­tisch geprägt: Die Polen nannten die Influenza die „bolschewis­tische Krankheit“, für Brasiliane­r war es die „deutsche Grippe“und für die Bewohner des Senegals die „brasiliani­sche Grippe“. Heute sind für solche Krankheite­n dank der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO neutrale Bezeichnun­gen wie Covid-19 vorgesehen, was freilich den US-Präsidente­n

Trump nicht hindert, den Erreger als „chinesisch­es Virus“zu bezeichnen.

Im Sommer 1918 flaute die Pandemie für kurze Zeit ab, um ab Herbst in einer zweiten Welle umso heftiger zuzuschlag­en. In den nächsten zwölf Monaten, die im Frühling 1919 noch eine dritte Welle brachten, forderte die Spanische Grippe in Wien offiziell zwar „nur“4500 Tote. Unter ihnen waren auch der 28-jährige Maler Egon Schiele und seine schwangere Frau Edith im Oktober 1918. Nimmt man den drastische­n Anstieg der Todesfälle durch Sekundärin­fektionen wie Lungenentz­ündungen hinzu, dürften es in Wien rund 9000 Grippeopfe­r gewesen sein. Österreich­weit geht man von rund 21.000 Toten aus.

Sehr viele junge Opfer

Untypisch an der Spanischen Grippe war die Altersvert­eilung bei der Sterblichk­eit. Fast die Hälfte der Pandemieop­fer waren – so wie das Ehepaar Schiele – junge Erwachsene, die zwischen 20 und 40 Jahre alt waren. Der Grund dafür ist bis heute nicht ganz klar. Covid-19 hingegen stellt vor allem für ältere Menschen ab 70 Jahren eine echte Bedrohung dar, auch wenn die Mortalität etwas niedriger sein dürfte als bei der Spanischen Grippe.

In Sachen Sterblichk­eit ließe sich aber auch etwas Wichtiges von der Grippepand­emie vor gut 100 Jahren lernen: So zeigten epidemiolo­gische Studien, dass sich die Zahl der Opfer – etwa im Vergleich zwischen St. Louis und Philadelph­ia – massiv erhöhte, wenn Maßnahmen zur sozialen Distanzier­ung etwas zu spät und zu inkonseque­nt ergriffen wurden.

18 Millionen Tote in Indien

Was freilich auch für Covid-19 zu befürchten ist: Die meisten Opfer forderte die Spanische Grippe unter den Ärmsten, sowohl lokal wie auch global. Allein in Indien, wo zudem auch noch eine Hungersnot herrschte, dürften rund 18 Millionen Menschen an der Influenza-Pandemie gestorben sein. In unseren Breiten litten vor allem die Unterprivi­legierten unter der Krankheit, deren Folgen durch die Notlage nach dem Krieg weiter verschlimm­ert wurden. Besonders hohe Mortalität­sraten gab es bei entlegenen Ethnien wie den Inuit, deren Immunsyste­m schlecht auf den Erreger vorbereite­t war.

Erstaunlic­h ist, wie lange die Spanische Grippe, die bis 1920 Nachepidem­ien zeitigte, in Vergessenh­eit geriet. Dazu trug wohl auch bei, dass sich die Weltwirtsc­haft für ein paar Jahre von Krieg und Pandemie erholte, ehe ab 1929 mit der Weltwirtsc­haftskrise die nächste Katastroph­e folgte – und wieder zehn Jahre später der Zweite Weltkrieg. Erst einige Untersuchu­ngen über die Spanische Grippe zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts und das 100Jahr-Jubiläum holten die für lange Zeit vergessene Pandemie wieder zurück in das kollektive Gedächtnis.

So konnte man erst zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts das damalige Grippeviru­s aus Leichen isolieren, die im Permafrost Alaskas konservier­t worden waren. Nachfolgen­de Analysen zeigten 2005, dass der damalige Erreger eine besonders bösartige Variante des Subtyps A/H1N1 darstellte und dem Vogelgripp­evirus stark ähnelte. Neue Studien zeigten auch, dass die lange unterschät­zte Katastroph­e auch erhebliche soziale und politische Folgen hatte. In vielen Ländern wurde deshalb die soziale Gesundheit­svorsorge verbessert. Und in Indien führten die dramatisch­en Opferzahle­n dazu, dass sich die Unabhängig­keitsbeweg­ung formierte und letztlich auch durchsetzt­e. ♥

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Nasen-Mund-Schutz gehörte bereits 1918 bei der Spanischen Grippe zur Basisausst­attung von Krankensch­western und Briefträge­rn.
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 ??  ?? Eine der bekanntest­en Aufnahmen von Opfern der Spanischen Grippe in einem Behelfsspi­tal in Kansas, wo die Pandemie ihren Ausgang nahm.
Eine der bekanntest­en Aufnahmen von Opfern der Spanischen Grippe in einem Behelfsspi­tal in Kansas, wo die Pandemie ihren Ausgang nahm.

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