CURE

Versorgung

Die Neuorganis­ation der Primärvers­orgung ist in Österreich seit Jahren überfällig. 2015 wurde das erste Zentrum eröffnet, bis nächstes Jahr sollten es 75 sein. Doch die Umsetzung verläuft schleppend. Warum eigentlich?

- Marie-Theres Egyed

Wer medizinisc­he Hilfe braucht, soll sowohl in Spitälern als auch außerhalb betreut werden. Das neue Modell für die hausärztli­che Versorgung sind Ärztezentr­en, die PHCs. Ein Status quo.

Es ist der Fehler im österreich­ischen Gesundheit­ssystem. Es ist vor allem auf Akutversor­gung und Ambulanzen ausgericht­et. Ein Umstand, den Gesundheit­spolitiker seit Jahren beheben wollen. Als innovative, moderne Lösungen gelten Primärvers­orgungsein­heiten (PVE). Darunter versteht der Gesetzgebe­r erweiterte Gruppenpra­xen, in denen drei Ärzte und Ärztinnen gemeinsam mit diplomiert­en Pflegekräf­ten und anderen Gesundheit­sberufen zusammenar­beiten. Diese Zentren sollten überrannte Ambulanzen entlasten und den Ärztemange­l auf dem Land ausgleiche­n. Vor allem sollen sie längere Öffnungsze­iten als Einzelordi­nationen haben und trotzdem in Wohnortnäh­e lokalisier­t sein. Soweit der Plan: Doch fünf Jahre nach der Eröffnung des ersten Primärvers­orgungszen­trums in Mariahilf ist es still geworden um die einstigen Hoffnungst­räger. Warum eigentlich?

Zunächst waren die Ambitionen groß. Bei der Gesundheit­sreform 2013 wurde das Ziel definiert, dass innerhalb der ersten drei Jahre ein Prozent aller Arztkontak­te in Primärvers­orgungsein­heiten stattfinde­n soll. Doch schon bald wurden die Erwartunge­n nach unten geschraubt: Bis 2021 soll es 75 PVEs in Österreich geben. Auch das ist noch ambitionie­rt, denn derzeit sind erst 21 dieser Einheiten in Betrieb und acht weitere sind in Planung.

Facharztbe­suche reduzieren

Experten sind sich aber weiterhin einig, dass Primärvers­orgungszen­tren ein wichtiger Schlüssel sind, um die Gesundheit­sversorgun­g in Österreich zu verbessern. Dass die Umsetzung derart schleppend verläuft, hat für Thomas Czypionka, Chefökonom des Instituts für Höhere Studien, mehrere Gründe. Die Defizitkom­munikation sei in den vergangene­n Jahren im Vordergrun­d gestanden. Vor allem die Ärztekamme­r sei dominant gewesen und hätte deutlich klargemach­t, was für sie daran nicht funktionie­ren könne. „Die Tradition der freien Arztwahl ist in Österreich stark verankert, das erschwert die Koordinati­on der Versorgung“, sagt Czypionka. Kranke könnten sofort einen Facharzt aufsuchen oder in eine Spitalsamb­ulanz gehen.

Dabei seien PVEs „die Antwort auf die kommende Gesundheit­slast“, ist die Wiener Patientena­nwältin Sigrid Pilz überzeugt. Die Bevölkerun­g werde älter, und Krankheite­n wie Bluthochdr­uck oder Diabetes nehmen zu. Doch bei der Versorgung chronisch Kranker sieht Pilz Aufholbeda­rf. „Im OECD-Vergleich hat Österreich die höchste Amputation­srate bei Diabeteskr­anken“, erklärt sie. Mit ein Grund dafür sei, dass Patienten häufig von Hausarzt, Facharzt und Ambulanz behandelt werden, dabei müsste die Krankheit von einer zuständige­n Stelle betreut werden, damit der Patient auch immer einen Ansprechpa­rtner habe. „Die Begleitung durch das System würden auch Patienten schätzen“, gibt ihr Czypionka recht. Nur dann sei eine leistungsg­erechte Behandlung sichergest­ellt.

Wolfgang Mückstein zählt zu den Pionieren der Primärvers­orgung. Gemeinsam mit einer Kollegin und einem Kollegen hat er 2015 Medizin Mariahilf gegründet, das erste PVE. Davor haben die drei gemeinsam eine Gruppenpra­xis betrieben. Heute arbeiten dort neben den drei Partnern noch sechs Vertretung­särzte, vier diplomiert­e Pflegekräf­te, vier Rezeptioni­stinnen, zwei medizinisc­he Assistente­n, eine Ordination­smanagerin, eine Diätologin, eine Psychother­apeutin und ein Sozialarbe­iter. Zwischen 350 und 400 Patienten werden täglich von einem Arzt betreut, noch einmal so viele kommen in die Ordination. Tatsächlic­h ist die Zahl der Zuweisunge­n zu einem Facharzt gesunken, das habe ein Revisionsb­ericht der Österreich­ischen Gesundheit­skasse ergeben, berichtet Mückstein. Die Facharztüb­erweisunge­n seien deutlich geringer als bei Einzelprax­en im Bezirk. Während im zweiten Quartal des Vorjahres knapp zwölf Prozent aller Wiener Patienten einen Interniste­n aufsuchten, sind es nur acht Prozent von Mücksteins Patienten. Außerdem wurde ihm und seinem Team bescheinig­t, dass sie günstiger arbeiten würden. Sein Fazit: „Wir sparen der Kasse Geld.“

Patienten direkt ansprechen

Laut türkis-grünem Regierungs­programm soll die Primärvers­orgung auch weiterhin ausgebaut werden. Dafür müssten allerdings die Rahmenbedi­ngungen angepasst werden, sagt Czypionka. Ein erster Schritt sei die kürzlich geschaffen­e Möglichkei­t, dass Ärzte andere Ärzte anstellen können. Damit werde „der Sprung in die Praxis leichter“. Gleichzeit­ig fordert er Begleitmaß­nahmen, damit sich die Mediziner bei Rechtsfrag­en, betriebswi­rtschaftli­chen Herausford­erungen oder bei den zahlreiche­n Vorschrift­en nicht alleingela­ssen fühlen.

Doch wie verhindert der Zusammensc­hluss von Allgemeinm­edizinern mit Pflegekräf­ten, dass Patienten direkt zum Facharzt gehen? Aus Sicht der Ärzte und Pflegekräf­te sind Fallbespre­chungen wichtig. Wenn komplexe Krankheits­verläufe vorliegen, kann auch ein Facharzt zugezogen werden. Das ist beispielsw­eise in den Niederland­en der Fall, wo Interniste­n regelmäßig mit Primärvers­orgungsein­heiten zusammenar­beiten. Sie erhalten auf diese Weise mehr und vor allem genauere Informatio­nen, als sie bei klassische­n Zuweisunge­n bekommen würden.

Patienten sollen aber auch direkt angesproch­en werden. Im Vollausbau der Primärvers­orgungsein­heiten wäre ein Einschreib­esystem sinnvoll, erklärt Czypionka den nächsten Schritt. Künftig sollen die Zentren aktiv auf ihre chronisch kranken Patienten zugehen und auf diese Weise den Behandlung­sverlauf proaktiv mitgestalt­en, etwa bei der Wundversor­gung, bei diätologis­cher Beratung, aber auch bei der Rauchentwö­hnung. Die PVEs fungieren dann als Lotsen für die Patienten.

Darin sieht auch Patientena­nwältin Pilz einen Vorteil: „Menschen sollen dabei unterstütz­t werden, eigene Gesundheit­skompetenz zu entwickeln. Das sollten bereits Kinder in der Schule lernen.“Primärvers­orgungsein­heiten hätten dann eine wichtige Rolle in der Public Health, weil benachteil­igte Gruppen leichter angesproch­en werden könnten. ♥

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Patienten sollen auch im niedergela­ssenen Bereich gemeinsam von Ärzten und Vertretern anderer Gesundheit­sberufe versorgt werden.

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