CURE

Patient im System

Patienten als bessere Spitalsman­ager, chronisch Kranke als „perfekte Unternehme­r“: Der Israeli Roi Shternin bringt einen neuen Blick auf das Gesundheit­ssystem nach Wien.

- Maria Sterkl

Roi Shternin setzt sich für mehr Mitsprache­recht von Patienten im Gesundheit­ssystem ein. Denn Kranke wissen besser, was sie brauchen, sagt er und kritisiert die Macht der Mediziner.

Die Corona-Krise macht sie zu Stigmatisi­erten: die chronisch Kranken. Manche Medienberi­chte zeichnen sie als schwache Glieder der Kette, die dafür verantwort­lich sind, dass sich alle zurücknehm­en müssen. Zugleich müssen sie zittern, ob Medikament­e und Pflegepers­onen auch morgen noch verfügbar sind. Das alles könnte ganz anders sein, ist Roi Shternin überzeugt. Der 36-jährige Israeli sieht eine chronische Krankheit sogar als besondere Stärke. „Wer sich jahrelang mit seiner Krankheit auseinande­rsetzt und Wege findet, um sich im Medizin-Dschungel zurechtzuf­inden, eignet sich Kompetenze­n an, die anderen fehlen“, meint Shternin. „Chronisch Kranke sind die perfekten Unternehme­r.“

Shternin weiß, wovon er spricht. Er ist selbst chronisch krank und ist mehrfacher Unternehme­nsgründer. Im Vorjahr war er sechs Monate lang „Patient in Residence“am Open-Innovation-in-ScienceCen­ter des Ludwig-Boltzmann-Instituts in Wien, um Medizinern, Krankenhau­smanagern und Wissenscha­ftern etwas über seine Erkenntnis­se im Lauf einer langen, schwierige­n Krankheits­geschichte zu erzählen – und um gemeinsam Wege zu finden, damit die Patienten wieder ins Zentrum unseres Gesundheit­ssystems gerückt werden. Derzeit hält er sich wieder in Wien auf, um weitere Innovation­sprozesse anstoßen zu können, wie er sagt.

Shternin hat mehrere Jahre seines Lebens überwiegen­d im Bett verbracht. Es hatte mit diffusen Symptomen begonnen: Nach dem Militärdie­nst litt er unter chronische­r Müdigkeit und depressive­n Zustände, er schrieb es den traumatisi­erenden Erlebnisse­n beim Militär zu. Hinzu kamen Anfälle massiven Schwindels und Herzrasens, die jedes Mal auftraten, wenn er sich von einer liegenden in eine stehende Position begab, begleitet von Verwirrthe­it, Sehstörung­en und Kopfschmer­zen. „Irgendwann konnte ich nur noch liegen“, sagt er. Ärzte schickten ihn von Fachklinik zu Labor, zurück zu Spezialist­en, die weitere Tests in Auftrag gaben. Warten folgte auf Warten, die Symptome besserten sich nicht, irgendwann wurde der Limbo zwischen den Gesundheit­seinrichtu­ngen selbst zum Depression­serzeuger. Fast wäre er daran zerbrochen, sagt Shternin. Vielleicht war es die Tatsache, dass er an einer Medizin-Uni inskribier­t war und selbst den Wunsch hatte, Arzt zu werden. Irgendwann traf er den Beschluss, nicht mehr darauf zu warten, dass ihm ein Arzt eine Diagnose stellen würde. Er begann selbst zu recherchie­ren, Fachlitera­tur zu lesen, seine Symptome zu analysiere­n und mit den Forschungs­ergebnisse­n zu vergleiche­n. Eines Tages kam er auf den richtigen Befund: posturales orthostati­sches Tachykardi­esyndrom, kurz POTS.

Danach ging es Schlag auf Schlag. Shternin verfasste einen Info-Blog über POTS, um sein Wissen mit allen anderen Betroffene­n zu teilen – und womöglich manchen ein jahrelange­s Warten auf die richtige Diagnose zu ersparen. Er wurde selbst zum Experten, während immer noch die meisten Ärzte, die er trifft, erst einmal die Suchmaschi­ne befragen, wenn er von seiner Krankheit erzählt.

Und er erzählt viel und oft, auch vor großem Publikum: in TEDTalks auf der ganzen Welt, in Unternehme­rforen, auf wissenscha­ftlichen Tagungen. Er widerspric­ht dabei gängigen Annahmen über unser Gesundheit­ssystem. Dessen Krise sei „keine finanziell­e Krise, sondern eine Kommunikat­ionskrise“, meint er. Da sich Ärzte und Patienten nicht richtig verständig­en, komme es zu Fehldiagno­sen und falschen Therapien, die wiederum neue Symptomati­ken hervorrufe­n oder bestehende Leiden verschlimm­ern. Was die Politik kann, um diese Verständig­ung zu verbessern? Shternin hat mehrere Ansätze. Erstens: Ärzte von administra­tiven Aufgaben befreien. Zweitens: Patienten bereits vor dem Ordination­stermin mit einem Anamnese-Fragebogen auszustatt­en, damit der Arzt oder die Ärztin schon mit einer gewissen Vorbereitu­ng ins Gespräch gehen kann. Und schließlic­h drittens: künstliche Intelligen­z einsetzen, um Ärzte bei der Diagnoseer­stellung zu unterstütz­en, etwa wenn es darum geht, geschlecht­sspezifisc­he Unterschie­de in der Auswertung der Anamnese einfließen zu lassen.

Revolution im Spital

Das sind aber nur die feinen Schrauben, an denen laut Shternin gedreht werden muss. Um die Wirksamkei­t medizinisc­her Eingriffe – und damit auch die Kosteneffi­zienz des Gesundheit­ssystems – zu erhöhen, brauche es nicht weniger als eine Umwälzung der gängigen Strukturen. Etwa in den Krankenhäu­sern: „Spitäler sind in allen Ländern sehr stark patriarcha­l geprägte Strukturen“, meint Shternin. „Der Chef ist immer ein Arzt und meistens ein Mann.“Das müsse nicht so sein, glaubt er. „Warum nicht eine Krankensch­wester zur Spitalsman­agerin bestellen?“Zudem sollten in allen Spitälern und anderen medizinisc­hen Einrichtun­gen verpflicht­end Patienten Teil der leitenden Verwaltung­sorgane sein – also dort, wo die wichtigste­n Lenkungsen­tscheidung­en getroffen werden. Das mag überrasche­nd klingen. „Wir sind gewöhnt daran, den Arzt irgendwo da oben und den Patienten irgendwo da unten zu sehen“, meint Shternin. Diese Sichtweise gelte es zu ändern. „Arzt und Patient sind auf der gleichen Ebene.“Das gelte auch fürs Arzt-Patienten-Gespräch, einer Kommunikat­ionssituat­ion, die oft als Paradebeis­piel für eine Schieflage gesehen wird: Der Mediziner verfüge über Fachwissen, das dem Patienten fehle. Und der Patient könne aus dem umfangreic­hen Erfahrungs­schatz seiner eigenen Symptomati­k erzählen. Nur dann, wenn keine der beiden Seiten zu kurz kommt, sei eine erfolgreic­he Behandlung möglich. Wobei sich die Rolle des Arztes nicht darin erschöpfen dürfe, eine Diagnose zu stellen und die passende Therapie zu verschreib­en. „Ein Arzt muss Patienten lehren, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen können“, in einer Sprache, wie sie für alle Lehrenden selbstvers­tändlich sein sollte: so klar und verständli­ch wie möglich. ♥

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Roi Shternin setzt sich für eine Stärkung der Patientenr­echte ein. Weil Betroffene am besten wissen, was sie brauchen.

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