„Österreichs Gesundheitssystem muss spitze bleiben“
Die Konzernisierung der Medizin, fehlende Ärztinnen und Ärzte, Kinderarmut in Österreich und die Folgen für die Gesundheit – das österreichische Gesundheitssystem steht vor vielen Herausforderungen. Wie diese am besten gemeistert werden können, weiß ao. U
Thomas Szekeres: Österreich hat in Sachen Spitzenmedizin und medizinische Forschung eine führende Rolle, allein die medizinischen Fortschritte im Land sind beachtlich. Neue, innovative und erfolgreiche Behandlungsmethoden, besonders in der Krebsforschung, steigern die Lebensqualität und die Lebenserwartung von Patientinnen und Patienten. Diese Fortschritte machen es aber auch notwendig, dass bei höheren Lebenserwartungen und besseren Behandlungsmöglichkeiten mehr Geld ins Gesundheitssystem fließt. Im Konkreten fordern wir eine Anhebung des BIP-Anteils für das Gesundheitswesen auf 12 Prozent, inklusive einer Lösung der Pflegeversorgung. Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass das österreichische Gesundheitssystem mit den Mitteln ausgestattet wird, die es braucht, um auch künftigen Generationen den höchstmöglichen medizinischen Standard ohne Abdriften in die Zwei-Klassen-Medizin zu garantieren. Mit den 12 Prozent orientieren wir uns übrigens an den Nachbarländern Deutschland und Schweiz. Wir sprechen hier von Milliardensummen, die uns unsere Nachbarn bei der Finanzierung des Gesundheitssystems voraus sind! Wenn wir hier nicht schritthalten, verliert das österreichische Gesundheitswesen den Anschluss.
Bereits heute gibt es zu wenige Ärztinnen und Ärzte im niedergelassenen Bereich und in den Spitälern – und der Ärztinnen- und Ärztemangel wird sich in Zukunft noch verschärfen. Warum haben wir zu wenige Ärztinnen und Ärzte im Land?
Thomas Szekeres: Absolventinnen und Absolventen des Medizinstudiums haben wir genug in Österreich. Doch die jungen Kolleginnen und Kollegen sind heute sehr flexibel, nur noch sechs von zehn Absolventinnen und Absolventen bleiben in Österreich. Hinzu kommt, dass wir unter den Absolventinnen und Absolventen einen Frauenanteil von mehr als 50 Prozent haben und hier oftmals eine Teilzeitbeschäftigung angestrebt wird. Wenn wir jedoch zu wenige Ärztinnen und Ärzte haben, laufen wir Gefahr, das hohe Niveau der Gesundheitsversorgung nicht halten zu können.
Eine Forderung der Ärztekammer ist daher auch, den Arztberuf in Österreich wieder attraktiver zu gestalten. Wie kann das Ihrer Ansicht nach gelingen? Thomas Szekeres: Wir müssen allgemein mehr Geld in Gesundheit und vor allem Vorsorge investieren. Und wir müssen globaler denken: Arbeitsgenehmigungen für forschende Ärztinnen und Ärzte müssen einfacher und schneller erteilt werden, Österreich muss für junge Ärztinnen und Ärzte wieder attraktiver werden. Das hat einerseits mit der Bezahlung zu tun, andererseits aber auch mit Wertschätzung oder beispielsweise Kinderbetreuungsangeboten. Daneben geht es um die Entlastung unserer Spitalsambulanzen, um den Abbau von Bürokratie und um die Aufwertung des Berufs der Hausärztin bzw. des Hausarztes. Unser Gesundheitssystem baut nämlich auf den Leistungen der Hausärztinnen und Hausärzte auf – auch aufgrund der Wohnortnähe sind es die beliebtesten Ärztinnen und Ärzte in Österreich. Wir können den Beruf stärken, indem wir die Attraktivität und die Bezahlung erhöhen und Ordinationen günstiger vergeben werden.
Thomas Szekeres: Der rasante technische Fortschritt wird in den nächsten Jahren dazu führen, dass e-Health eine immer bedeutendere Rolle spielen wird. Damit sind große Chancen, aber auch erhebliche Risiken verbunden. So muss sichergestellt werden, dass der Einsatz von e-Health beziehungsweise telemedizinischen Mitteln nicht zu Qualitätseinbußen bei der Gesundheitsver
sorgung der Bevölkerung oder zu zusätzlicher Bürokratie für die Ärzteschaft führt. Seit Jahren fordert die Ärztekammer ein zuverlässiges elektronisches Befundübermittlungs- und -archivierungssytem, also eine zuverlässige elektronische Patientenakte. Die Bedienbarkeit muss funktional, leicht und schnell sein. Daneben müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Telemedizin aus der derzeit bestehenden rechtlichen Grauzone herauszuführen und Rechtssicherheit für Leistungsanbieter sowie Patientinnen und Patienten zu schaffen.
Stichwort „Konzernisierung der Medizin“: Internationale Großkonzerne drängen in den Gesundheitsbereich, die Gesundheitsbranche ist ein riesiger Wachstumsmarkt. Die Ärztekammer vertritt die Ansicht, dass wirtschaftliches Handeln im Gesundheitssystem seine Berechtigung hat, aber nur dann, wenn es den Zielen der Medizin dient – und nicht umgekehrt. Welche Probleme können als Folge der Konzernisierung entstehen? Ist gar die ärztliche Entscheidungsfreiheit in Gefahr?
Thomas Szekeres: Die Diskussion über die Konzernisierung der Medizin und eine damit verbundene Angst sind nicht neu, haben aber mittlerweile eine neue Ebene erreicht. Internationale Großkonzerne drängen heutzutage immer stärker in den Gesundheitsmarkt ein. Das reicht von der großflächigen Übernahme von Apotheken und der Etablierung von Apothekenketten über die Errichtung von Kleintierkliniken bis zum humanmedizinischen Bereich, insbesondere in der Zahnmedizin. Die Größe dieser konzernartigen Strukturen in der ambulanten ärztlichen Versorgung sollte vom Gesetzgeber reglementiert werden. Gefahr droht der Unabhängigkeit des Arztberufs durch gewinnorientierte Gesundheitskonzerne. Die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten, die dann zu Kundinnen und Kunden werden, könnten gegenüber den wirtschaftlichen Interessen der Konzerne in den Hintergrund treten. Und das darf nicht passieren! Bei der Behandlung von Krankheiten dürfen ökonomische Interessen niemals an erster Stelle stehen!
Stichwort Kindergesundheit und Kinderarmut: Wie wichtig ist es, dass alle Kinder einen guten Zugang zu medizinischen Leistungen haben?
Thomas Szekeres: In einem reichen Land wie Österreich leben 1,5 Millionen Armutsgefährdete, darunter 372.000 Kinder bis 20 Jahre – das ist kaum zu glauben. Wir liegen bei den Ausgaben für Kindergesundheit weit abgeschlagen und mit 5,8 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Dabei sollte jedem klar sein: Wer bei der Behandlung in der frühen Kindheit spart, muss mit deutlich höheren Folgekosten rechnen. Um es kurz und knapp auf den Punkt zu bringen: Die armen Kinder von heute sind die chronisch Kranken von morgen. Wir fordern daher ein Gesundheitssystem, das für alle Kinder leistbar bleibt.
Wo liegt der Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Gesundheit?
Thomas Szekeres: Armut macht krank. Zur existenziellen Angst kommen Perspektivenlosigkeit sowie Ausgrenzungen aus der Gemeinschaft, was in Summe enorme psychische Belastungen sind. Die Auswirkungen sind unmittelbar: ein Mangel an Gewand, eine schlechtere Ernährung, fehlende Freizeit- und Sportaktivitäten, schlechtere Wohnverhältnisse. Wer nicht dazugehört, läuft eher Gefahr, die Schule vorzeitig abzubrechen. Das soziale Leben ist eingeschränkt. Das Aufwachsen in Armut bedeutet eine höhere Gesundheitsbelastung für Kinder. Gesundheitliche Chancengleichheit von Beginn des Lebens an ist daher eine der wichtigsten Ressourcen, die wir Kindern mit auf ihren Lebensweg geben können.
Was fordern Sie für Kinder und Jugendliche aus finanzschwachen Familien?
Thomas Szekeres: Armut darf Kinder nicht krank machen und Krankheit darf Kinder nicht in Armut führen. Notwendige Therapien und Heilbehelfe müssen für Kinder durchgehend kassenfinanziert sein. Es darf auch keine Selbstbehalte geben. Auch bei der Sozialhilfe darf nicht auf Kosten der Kinder gespart werden. Wir vertreten die Meinung: Wenn wir bei den Kindern sparen, sparen wir an der Zukunft! Und das sollten wir tunlichst vermeiden.