Chancen der Digitalisierung im Gesundheitssystem ergreifen
Über die Bedeutung digitaler Lösungen für ein effizientes und nachhaltiges Gesundheitssystem zum Vorteil des Patienten diskutieren Dipl. Math. Susanne Erkens-Reck, General Manager bei Roche Austria, Dr. Gerald Bachinger, NÖ PatientInnen- und Pflegeanwalt,
Die COVID-19-Pandemie hat in Österreich zu einem verstärkten Einsatz digitaler Health Services geführt. Wie sehen Sie diese Entwicklung? Bachinger: Überlegungen zu E-Health und Tele-Health hat es schon vor COVID-19 gegeben, diese Entwicklung wurde durch die Pandemie beschleunigt. Die plötzlich veränderten Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass nicht nur alle relevanten Stellen im System rasch und gut miteinander zusammengearbeitet haben und deshalb auch virtuelle Dienstleistungen wie Medikamentenverordnungen oder Krankschreibung möglich gemacht wurden. Ein anderes Beispiel ist die telefonische Gesundheitsberatung 1450. Dass dieses Service so essenziell werden könnte, hatte vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie niemand vorhergesehen. Ursprünglich als web- und telebasiertes Beratungsservice konzipiert, gibt es hier sicher ein großes Potenzial für den Ausbau der Web-Komponente, auch mit Blick auf den kommenden Winter. Die Rückmeldungen, die wir von den Patienten zu all diesen Services bekommen, sind durchwegs positiv und sollen auch nach der COVID-19-Pandemie beibehalten werden. Aus meiner Sicht sollte daher verstärkt in den Ausbau und die Optimierung dieser Services investiert werden. Rauchegger: Mit der Einführung der e-card, ELGA und der telefonischen Gesundheitsberatung 1450 wurden in den letzten fünfzehn Jahren wichtige Pfeiler errichtet, die sich durch den bundesweiten und einheitlichen Zugang zu diesen Services als enorm wichtig im Umgang mit der COVID-19-Krise gezeigt haben. Um einige Zahlen zu nennen: Im März 2020 hat die Telefonhotline 1450 über 370.000 Anrufe verzeichnet, am Tag der Bekanntgabe der ersten COVID-19-Beschränkungen sind etwa 50.000 Anrufe eingegangen. Die Umstellung auf die kontaktlose e-Medikation zur Unterstützung der Medikamentenabgabe wurde in den Apotheken pro Woche knapp 300.000 mal genutzt. Damit konnte eine große Zahl an potenziellen Infektionspunkten in den Ordinationen vermieden werden.
Erkens-Reck: Die Möglichkeit, Dauerrezepte digital auszustellen, eine Vereinfachung der Bewilligung von Therapien oder online mit Ärzten in Kontakt zu treten, wird von vielen Patienten als positive Entwicklung gesehen. Online-Fortbildungen und „virtuelle“Kongresse für Ärzte sind derzeit Standard. Ich sehe diesen Weg als wichtigen Schritt für die Weiterentwicklung der Digitalisierung in der Medizin und im
Sinne der Nachhaltigkeit für unseren Planeten ist dies in jedem Fall eine positive Entwicklung.
Wie könnte sich ein nachhaltiges Gesundheitssystem auf dieser Basis weiterentwickeln? Erkens-Reck: Wir sollten diesen Weg weitergehen. Unser aller Ziel ist ein effizientes Gesundheitssystem zum Wohl der Patienten und Digitalisierung ist hier ein wichtiges Tool. Die Medizin wird immer komplexer, die behandelnden Ärzte sind mit einer großen Menge an Daten und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert, die sie ohne digitale Lösungen nicht bewältigen können.
Bachinger: Rein auf den technischen Aspekt bezogen, gibt es bereits genügend Anbieter, die passende Lösungen bereitstellen und die auch datenschutzrechtlich abgesichert sind. Für einen weiteren Ausbau und Umstieg auf digitale Lösungen braucht es aber auch ein gemeinsames Commitment („Digitaler Gesundheitspfad“) und entsprechende Finanzierung.
Rauchegger: Aus meiner Sicht stehen wir erst am Beginn der Entwicklung zur breiten Verfügbarkeit digitaler Services. Es gibt bereits viele digitale Lösungen, die aber oftmals aufgrund von selektivem Funktionsumfang nur eingeschränkt genutzt werden können oder nur bedingt in bestehende Systeme integriert sind. Mit ELGA haben wir die Erfahrung gemacht, dass digitale Lösungen dann erfolgreich funktionieren, wenn sie nahtlos in den Arbeitsalltag integriert werden können. In Österreich gibt es schon einige erfolgreiche Projekte wie HerzMobil in Tirol und der Steiermark, wo mittels digitaler Lösungen und der kommenden Anbindung an ELGA Herzinsuffizienz-Patienten mit dem Ziel, die Erkrankung nachhaltig zu stabilisieren, versorgt werden. So zeigte sich ein Rückgang der Rehospitalisierungsrate um die Hälfte und auch die Gesamtsterblichkeit hat sich signifikant verändert. Für die Zukunft muss jedenfalls noch stärker in die Integration einzelner Systeme und Anwendungen investiert werden.
Wie sieht in Österreich die vorhandene digitale Infrastruktur aus – gibt es Optimierungsbedarf?
Rauchegger: In Österreich gibt es mit dem E-Government-System und damit der Bürgerkarte bzw. Handysignatur, mit der e-card sowie mit ELGA eine gute Basis zur Identifizierung und Behandlung aller Patientinnen und Patienten in unserem Land. Man muss zwischen den Begriffen Infrastruktur und der Anwendung digitaler Services unterscheiden. Wichtig ist, dass einzelne Anwendungen interoperabel sind und auf die bestehende Infrastruktur aufsetzen. Ein Beispiel: Bei der Entlassung eines Patienten aus einer Krankenanstalt wird dessen empfohlene Medikation elektronisch in den Entlassungsdokumenten gespeichert. Per Mausklick kann der Hausarzt diese Empfehlung in ein Rezept übernehmen. Die Daten werden damit Bestandteil der E-Medikation und können so im Bedarfsfall einfacher systemübergreifend genutzt werden. Erkens-Reck: Die digitale Infrastruktur ist in Österreich besser als in vielen anderen Ländern der EU. Allerdings wird in der medizinischen Forschung heute kaum mit standardisiert erhobenen Daten, die aus dem Klinikalltag stammen, gearbeitet. Würde man zum Beispiel diese Echtdaten in klinischen Studien einsetzen, könnten alle Studienpatienten die innovative Prüfsubstanz erhalten, der klassische „Standard of Care“-Arm wäre hier durch die Verwendung von bereits vorhandenen Daten nicht mehr notwendig. So könnten Studien effizienter und schneller durchgeführt werden und die Patienten hätten innerhalb des Studiensettings noch einfacheren Zugang zu innovativen Therapien.
Welche Bedeutung kommt verlässlichen und qualitativ hochwertigen Daten in Bezug auf Effizienzpotenziale und Entwicklung neuer Therapieoptionen zu? Erkens-Reck: Wenn wir als Gesellschaft ein wenig offener sind, was die Nutzung von medizinischen Daten in anonymisierter und geschützter Form
für Forschung und Entwicklung betrifft, so hat dies – aus meiner Sicht – einen enormen Benefit für die Behandlung von Patienten. Studien könnten schneller und effizienter durchgeführt werden, die daraus gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf Behandlungsmöglichkeiten und weitere Forschungsfragen zum Nutzen und Wohl der Patienten eingesetzt und weiter verfolgt werden. Dieser Weg sollte fortgesetzt werden.
Bachinger: In Österreich dürfen anonymisierte und pseudonymisierte Gesundheitsdaten zum Zweck der eigenen Behandlung verwendet und weitergegeben werden. Die Bereitstellung dieser Daten für die klinische Forschung hat bisher nicht stattgefunden, das Bewusstsein dafür war in der Bevölkerung nur gering vorhanden. Eine aktuelle Gallup-Umfrage zeigt, dass es durch den Ausbruch von COVID-19 innerhalb der Bevölkerung einen Meinungsumschwung zu dieser Thematik gegeben hat. Die hohe Zustimmung ist aus meiner Sicht ein klarer Auftrag an die Gesundheitspolitik, adäquate gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Die neue COVID-19Datenplattform ist ein erster Schritt in diese Richtung und aus meiner Sicht ein Meilenstein: Erstmals können Forschungseinrichtungen für die Erforschung von SARS-CoV-2 und COVID-19 anonymisierte und pseudonymisierte Daten aus dem Epidemiologischen Meldesystem (EMS) des österreichischen Gesundheitswesens nach Prüfung ihrer Forschungsanträge und unter Einhaltung des geltenden Datenschutzrechts nutzen. Dies ist eine hoffnungsvolle Entwicklung für alle Patienten und auch die Forschung, die auf jeden Fall weitergedacht werden muss.
Wo wird dies bereits erfolgreich eingesetzt? Erkens-Reck: Die personalisierte Medizin ist ein Ergebnis der fortschreitenden Digitalisierung. Personalisierte Medizin heißt, dass Diagnose und Therapie individuell auf den Patienten abgestimmt sind, er genau das bekommt, was er für sein Krankheitsbild benötigt. Damit personalisierte Medizin erfolgreich ist, braucht es das Zusammenspiel von Diagnostik und Therapie, aber eben auch digitalisierte Gesundheitsdaten.
Welcher Nutzen entsteht daraus für die Menschen im Gesundheitssystem – vom Patienten über die Ärzte bis hin zu den Entscheidungsträgern?
Rauchegger: Qualitativ hochwertige Daten sind eine zwingend notwendige Grundlage für Wissenschaft und Forschung. Mit ELGA bieten wir jedoch ein System, das institutionsübergreifend den Behandlungsund Betreuungsprozess unterstützt, die Nutzung der Daten zu Forschungszwecken ist derzeit kein Anwendungsfall und technisch auch nicht vorgesehen. Eine im Frühjahr 2020 durchgeführte Gallup-Umfrage zeigt, dass Wissenschaft und Forschung in Österreich ein hohes Vertrauen genießen und besser mit Ressourcen ausgestattet werden sollen. Dazu zeigte sich eine hohe Akzeptanz in Bezug auf die Verwendung von ELGA-Daten zu Forschungszwecken. ELGA genießt ein großes Vertrauen in der Bevölkerung. Die Opt-out-Rate liegt bei durchschnittlich drei Prozent, wobei wir während der COVID-19-Krise rückläufige Raten beobachten konnten und die Zahl der Anmeldungen wieder angestiegen ist. Erkens-Reck: Der Nutzen zeigt sich klar im Einsatz personalisierter Medizin: Lungenkrebs wurde früher mit Chemotherapie behandelt, die nicht nur Tumorzellen, sondern auch nicht-bösartige Zellen in ihrem Wachstum hemmt. Heute kennen wir 20 Subtypen von Lungenkrebs, die sich durch einen genetischen Marker unterscheiden. Diese Marker können getestet und die Therapie kann individuell auf diesen Typus Lungenkrebs abgestimmt werden. So erhält der Patient ein Medikament, das möglichst optimal an diese spezielle Form des Tumors bindet, ihn zerstört und gleichzeitig gesunde Zellen verschont. Ein anderes Beispiel ist Brustkrebs, wo heute ebenfalls individuell, abhängig von der Tumorart, therapiert wird. HER-2-positiver Brustkrebs, eine besonders aggressive Form, hatte vor etwa zehn Jahren eine schlechte Prognose. Heute überleben rund 90 Prozent der Patientinnen mit einer gezielten Therapie und haben auch mit weniger Nebenwirkungen zu kämpfen als bei der traditionellen Chemotherapie. Auch für Patientinnen mit einem triple-negativen Mammakarzinom hat sich durch den Einsatz gezielter Therapien die Überlebensrate positiv verändert.
Bachinger: Künftig Daten für die weitere Erforschung bestimmter Krankheiten, wie onkologischer Erkrankungen, zu nutzen, ist bestimmt eine wichtige Perspektive. Aber auch bei chronischen Krankheiten wie Diabetes oder COPD stellen hochwertige Daten eine wesentliche Informationsquelle in Bezug auf die ständige Evaluation von Therapien und Steigerung der Qualität der Behandlung dar. Dazu braucht es aber auch die geeignete Basis: Zum Beispiel eine einheitliche Diagnosekodierung im niedergelassenen Bereich, das ist derzeit eine „Black Box“. Wir wissen WER macht WAS, WOMIT und FÜR WEN, aber nicht WARUM. Wir verfügen heute noch nicht über ausreichend Daten für die Gesundheitsforschung und personenzentrierte Medizin in Österreich, weil das Fundament noch nicht vorhanden ist. Dazu stellen sich auch Fragen wie: Wem gehören diese Daten? Die generierten Daten wurden nicht mit persönlichen Mitteln finanziert – gibt es also ein öffentliches Interesse, dass diese Daten für die Evaluierung einer Therapie bei anderen Personen eingesetzt werden sollen? Aus meiner Sicht wird über „digitale Ethik“noch nicht entsprechend intensiv und offen diskutiert.
Wo sehen Sie das größte Innovationspotenzial im Einsatz digitaler Methoden?
Rauchegger: Wenn wir über Digitalisierung sprechen, geht es um das Ablösen oder Neudenken bestehender Prozesse. Zum Beispiel der elektronische Impfpass: Der Bürger sieht nicht nur seinen Impfstatus, sondern erhält in Abstimmung mit dem nationalen österreichischen Impfplan personalisierte Impfempfehlungen. Darüber hinaus gibt der e-Impfpass auch zuverlässig Auskunft über Durchimpfungsraten – eine wichtige epidemiologische Grundlage. Bei der Digitalisierung geht es vor allem darum, Mehrwert zu generieren – einerseits in der breiten Vernetzung unterschiedlicher Datenquellen und Systeme, andererseits in der zeitlichen Unmittelbarkeit. Digitale Methoden bilden die Grundlage für neue Innovationen in der Medizin. Der vertrauensvolle Umgang mit Daten bringt aber auch große Verantwortung mit sich: Ich denke, wir müssen dennoch die Diskussion führen, wie man Daten zum Erkenntnisgewinn und daraus resultierend zum Wohl der Gesellschaft künftig verwenden kann.
Bachinger: Ich denke, das größte Potenzial liegt darin, dass die in Österreich zeitlich und örtlich gebundenen Strukturen durch Mobilität überwunden werden und Patienten mit neuen mobilen Dienstleistungen, in Bereichen, in denen es Sinn macht, versorgt werden können – frei nach dem Motto „Move the Healthcare, not the Patient“.
Erkens-Reck: Real-World-Daten werden eine noch größere Rolle spielen. Roche kooperiert mit akademischen Forschungszentren wie der MedUni Wien, der MedUni Graz sowie Start-ups wie Allcyte, weiters mit dem CBmed (Center for Biomarker Research in Medicine). Das Ziel dieser Forschungsprojekte ist es, Software-gestützte Entscheidungshilfen in der personalisierten Krebsbehandlung voranzutreiben. In einem dieser Projekte geht es zum Beispiel um die automatisierte Analyse von Patientenakten, in einem anderen um die bessere Vorhersage von Krebstherapien, mit dem Ziel, Ärzte in ihrer Entscheidungsfindung zu unterstützen, um die Prognosesicherheit der Diagnose zu erhöhen und Patienten genau die Behandlung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Durch unsere Verbindung von Pharmaforschung, Diagnostik und digitaler Kompetenz unter einem Dach, sind wir bestrebt, dass diese Zukunft eines Tages Realität und Gegenwart der Patienten ist.