„Wir können eine rapide zweite Ansteckungswelle vermeiden“
Die Coronakrise ist eine der größten Herausforderungen für das Gesundheitssystem. Und sie hat der Bevölkerung gezeigt, wie wichtig eine gute medizinische Versorgung ist. Ärztekammerpräsident Dr. Thomas Szekeres erzählt im Gespräch, warum wir auch im Urlaub alle Hygienemaßnahmen beachten sollten und wie wir einen rapiden Anstieg an Neuinfektionen im Herbst vermeiden können, und erklärt, warum das Blutplasma von Genesenen so wichtig ist.
In der Coronakrise hat sich wieder einmal gezeigt, wie systemrelevant die Gesundheitsbranche ist. Was tragen die einzelnen Player zum Funktionieren des Gesundheitssystems bei?
Thomas Szekeres: Die Coronakrise hat gezeigt, dass alle Bereiche des Gesundheitssystems sehr gut zusammenarbeiten. In kürzester Zeit haben sich die Spitäler, Ambulanzen und Arztpraxen auf die geänderten Rahmenbedingungen eingestellt und alle Sicherheitsmaßnahmen – von der verpflichtenden Anmeldung und Terminvergabe bis zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und dem Waschen und Desinfizieren der Hände beim Personal sowie bei den Patientinnen und Patienten – umgesetzt. Wir hatten bislang kaum COVID-19-Infekte im Gesundheitsbereich; das Gesundheitspersonal, das erkrankt ist, hat sich fast immer im privaten Bereich angesteckt.
Die Krisenzeit hat dazu beigetragen, der Bevölkerung in Österreich noch bewusster zu machen, wie wichtig eine gute medizinische Versorgung ist. Was funktioniert und wo besteht Optimierungsbedarf – im Sinne der Patientinnen und Patienten, aber auch im Sinne des Gesundheitssystems?
Optimierungsbedarf besteht natürlich in jedem System – im Gesundheitsbereich wäre zum Beispiel mehr Personal wünschenswert. Aber die Coronakrise hat sichtbar gemacht, was alles gut klappt. In Wien beispielsweise wurde sehr früh auf Anraten der Stadt Wien und gemeinsam mit der Wiener Ärztekammer ein sogenanntes „Mobile Home Sampling“des Ärztefunkdienstes eingeführt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ärztefunkdienstes besuchen Corona-Verdachtsfälle zu Hause, übernehmen die Erstdiagnose und Erstbetreuung sowie alle weiteren nötigen Hausbesuche – 24 Stunden täglich und sieben Tage die Woche. Das Gesundheitstelefon 1450 wiederum ist das zentrale Kommunikationstool mit der Bevölkerung und wird zur präzisen Lenkung der Patientenströme genutzt. Diese beiden Instrumente sind wirksam in der Eindämmung der COVID-19-Ausbreitung und dienen der Entlastung von Spitälern und Arztpraxen.
Wo steht Österreichs Gesundheitssystem im Vergleich mit anderen europäischen Ländern?
Wir sind innerhalb Europas mit Ländern wie Deutschland und der Schweiz vergleichbar, geben aber für ein sehr gut funktionierendes Gesundheitssystem
weitaus weniger aus, nämlich knapp 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ohne Ausgaben für Langzeitpflege. Aufgrund der demografischen Entwicklung werden die Ausgaben in Zukunft allerdings steigen müssen, damit wir das Spitzenniveau im Gesundheitsbereich halten können.
Die Ärztekammer vertritt die Ansicht, dass der Mund-Nasen-Schutz das Bewusstsein für Abstand und Hygiene erhöht – und dementsprechend wichtig ist – und fordert weiterhin die Maskenpflicht in Ordinationen. Warum?
Eine Infektion mit dem Coronavirus erfolgt über Tröpfchen. Die Hauptübertragung findet in geschlossenen Räumen statt, und die Gefahr steigt, je mehr Personen sich in einem Raum befinden, je mehr also miteinander gesprochen oder gesungen wird. Ein Mund-Nasen-Schutz hält die Tröpfchen zurück, die sich beim Sprechen, aber auch beim Niesen und Husten in der Luft verteilen. Trage ich einen Mund-Nasen-Schutz,
schütze ich andere vor einer Infektion, aber natürlich auch mich selbst. Deshalb macht das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in geschlossenen Räumen und besonders in Ordinationen, Ambulanzen und Spitälern Sinn und sollte dringend beibehalten werden.
Die Spitalsärztinnen und Spitalsärzte fordern aktuell rasche Vorbereitungen für eine mögliche zweite Welle und schlagen Alarm. Wie wichtig ist es, die Spitäler für den Herbst krisensicher aufzustellen? Und welche Vorkehrungen sind notwendig?
Fakt ist, dass es das Virus weiterhin geben wird. Aber da wir wissen, wie wir uns schützen können – nämlich indem wir die Abstandsregeln einhalten und einen Mund-Nasen-Schutz tragen –, hoffen wir auf einen langsamen Anstieg im Herbst. Wir sind gut ausgerüstet, was Betten, Beatmungsgeräte und Medikamente betrifft. Die erste Welle hat uns unvorbereitet getroffen, wir hatten beispielsweise zu wenig Schutzausrüstung. Allein dieser Umstand hat gezeigt, wie abhängig wir von produzierenden Ländern in Asien, insbesondere China, sind. Hier muss ein Umdenken stattfinden: Wir sollten in Zukunft unsere Produktionsstätten nach Europa verlegen, auch wenn die Produktion dann teurer wird.
Der Wirtschaftsausschuss des Nationalrats hat beschlossen, die Polizeibefugnisse auszuweiten und Krankheitssymptome von Kranken oder Ansteckungsverdächtigen von der Polizei erheben zu lassen. Sie sprachen in diesem Zusammenhang von einem Armutszeugnis für die Gesundheitspolitik.
Die Polizei ist eine Sicherheitsbehörde und für die Gesellschaft immens wichtig. Aber die medizinische Diagnose ist keine Aufgabe der Polizei, sondern nach wie vor Aufgabe der Ärztin oder des Arztes. Nur medizinisches Personal kann und soll Krankheitssymptome abfragen oder Verdachtsfälle identifizieren. Anstatt die Polizei also mit Aufgaben zu befassen, für die sie nicht qualifiziert ist und die sie vermutlich auch nicht gern übernimmt, sollte die Regierung vielmehr sicherstellen, dass das Gesundheitssystem krisensicher aufgestellt ist. Wir müssen bestmöglich gerüstet sein, und zwar sowohl finanziell als auch personell, um gegen eine mögliche weitere Welle in Österreich gerüstet zu sein.
Trotz Lockerungen ist weiterhin Vorsicht angesagt. Bedrohlich steigende Infektionszahlen in vielen Ländern, verbunden mit zunehmendem Reiseverkehr, lassen das Schreckgespenst einer zweiten Infektionswelle wachsen. Wie ist Ihre Einschätzung? Und wären Tests für heimkehrende Urlaubsgäste ratsam?
Wie gesagt: Das Virus gibt es, es wird nicht einfach wieder verschwinden. Es verursacht eine Erkrankung und es gibt noch keine Impfung. Wichtig ist daher, auch im Urlaub alle empfohlenen Maßnahmen einzuhalten: Distanz wahren, MundNasen-Schutz in geschlossenen Räumen tragen und die Hände gut waschen und desinfizieren. Und natürlich wäre es ratsam, heimkehrende Urlauberinnen und Urlauber auf eine CoronavirusInfektion zu testen. Eine weitere Möglichkeit, um die Gefahr einer Ansteckung zu verringern, ist die „Corona-Warn-App“, die rasch installiert ist und dabei helfen soll, Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen. So sollten wir es gemeinsam schaffen, einen sprunghaften Anstieg der Neuinfektionen im Herbst zu vermeiden. Ich möchte auch einen Appell aussprechen, und zwar an alle Menschen, die sich mit COVID-19 angesteckt und erholt haben: In ihrem Blutplasma befinden sich nämlich Antikörper gegen das Coronavirus SARS-CoV-2, die eine wichtige Rolle in der erworbenen Immunität gegen die Krankheit spielen. Aus diesem Grund ist eine Spende von sogenanntem Rekonvaleszenten-Plasma, also Plasma von genesenen Patientinnen und Patienten, enorm wichtig, da es zur Behandlung von an COVID-19 erkrankten Menschen verwendet werden kann. Blutplasma kann beispielsweise beim Roten Kreuz oder in Universitätskliniken gespendet werden.