CURE

„Das wäre ein Spiel mit dem Feuer“

Was ist für das Management dieser Pandemie wichtig? Die Infektiolo­gin Ursula Wiedermann-Schmidt diskutiert mit dem Public-Health-Experten Florian Stigler über die beste Strategie.

- Interview: Andrea Fried

Wie kam es, dass ein Virus unsere Welt so auf den Kopf gestellt hat? Wiedermann-Schmidt: Sars-CoV-2 kam sehr überrasche­nd und ist enorm facettenre­ich. Darum war es am Anfang sehr schwer abzuschätz­en, wen es trifft und wie schwer und wen nicht. Andere Infektions­krankheite­n schwappen über alle drüber, egal ob jung oder alt, Mann oder Frau, mit oder ohne Vorerkrank­ungen. Wenn SarsCoV-2 einmal zugeschlag­en hat, dann kann es entweder eine extrem schwere Erkrankung auslösen oder fast unbemerkt verlaufen. Diese Spannbreit­e hat die Einschätzu­ng der Maßnahmen so schwierig gemacht. Wann ist etwas richtig, wann ist es überborden­d? Können wir es uns leisten, nach dem Gießkannen­prinzip vorzugehen, wenn eine Erkrankung bei vielen doch so harmlos verläuft?

Ist die Bedrohung wirklich so groß, oder wurde dabei übertriebe­n? Stigler: Es hat viele gegeben, die das Risiko deutlich überschätz­t haben, und andere, die es herunterge­spielt haben. Das hat sehr polarisier­t: Es gab diejenigen, die einen radikalen Lockdown für richtig hielten, und auf der anderen Seite auch diejenigen, die ihn für völlig falsch hielten. Für mich als Wissenscha­fterin war klar, dass wir nur über die verfügbare­n Daten reden können. Im Nachhinein erscheint es immer noch sinnvoll, dass rasch und deutlich reagiert wurde.

Vor allem dem Bundeskanz­ler wurde vorgeworfe­n, dass er zu viel Angst verbreitet hat. War das so aus Ihrer Sicht?

Stigler: Im Nachhinein betrachtet, war das wahrschein­lich so. Anderseits verstehe ich auch, dass es in der Frühphase wichtig war, das Bewusstsei­n der Bevölkerun­g für die notwendige­n Maßnahmen zu stärken. Auch für viele Expertinne­n und Experten war es Anfang März noch undenkbar, dass in Europa ein Lockdown überhaupt möglich wäre. Im Augenblick scheint es jedoch in die andere Richtung zu gehen, es dominiert die Sorglosigk­eit. Das goldene Mittelmaß zu finden sollte hier das Ziel sein.

Wiedermann-Schmidt: Das Problem war, dass man am Anfang gar nicht abschätzen konnte, was da auf uns zu kommt. Eine Situation wie in der Lombardei? Da war es wohl wichtig, dass man in der Kommunikat­ion eine gewisse Dramatik vermittelt. Man möchte als Bürgerin in so einer unsicheren Situation klare Aussagen. Doch es gibt auch einen Lerneffekt. Wenn Menschen etwas nur deshalb machen, weil sie Angst haben oder Strafe zahlen müssen, dann hat das oft die falschen Auswirkung­en. Man hat das etwa an denjenigen gesehen, die alleine im Auto gesessen sind und die Maske getragen haben. Die haben nicht verstanden, worum es geht.

Wie stärkt man die Gesundheit­skompetenz der Bevölkerun­g? Wiedermann-Schmidt: Gesundheit­serziehung muss bereits im Kindergart­en und in der Schule beginnen. Ich habe viele Jahre in Schweden gelebt. Hier gibt es eine andere Art, mit Gesundheit­sfragen umzugehen. Da braucht man keine Diskussion über Impflicht, da sind die Impfraten hoch. Die Schweden verstehen den Benefit und fühlen sich nicht ihrer persönlich­en Freiheit beraubt. Das ist eine Frage der Kultur und der Bildung. Da haben wir in Österreich vieles verabsäumt. Ich wünschte mir, dass endlich mehr getan wird. Stigler: Aus Public-Health-Sicht ist Bildung eine der wichtigste­n Einflussfa­ktoren für unsere Gesundheit. In Österreich wird das Thema Health-Literacy immer wichtiger. Das ist eine positive Entwicklun­g, aber wir haben immer noch großen Aufholbeda­rf.

Objektiv betrachtet gibt es viel größere Gesundheit­srisiken als Corona. Wieso fürchten sich die Menschen davor weniger?

Stigler: In Österreich sterben pro Jahr 14.000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Das sind vermeidbar­e Todesfälle, und wir wissen, dass unter allen gesundheit­spolitisch­en Maßnahmen die Tabaksteue­r wohl am wirkungsvo­llsten wäre. Trotzdem war es bis jetzt nicht möglich, die Zigaretten­preise in Österreich zumindest auf den europäisch­en Durchschni­tt anzuheben. Zigaretten sind bei uns immer noch zu billig. Offenbar haben wir uns an die Todesfälle durch

das Rauchen schon zu sehr gewöhnt, obwohl wir dagegen viel tun könnten und sollten.

Wiedermann-Schmidt: Ich ärgere mich jedes Jahr, dass niemand über die rund 1000 Todesfälle redet, die die Influenza verursacht. Die wären vermeidbar, und das kratzt niemanden. Es beruhigt offenbar schon, wenn man weiß, es gibt Medikament­e und man könnte sich impfen lassen, wenn man wollte. Trotzdem tun es nur sehr wenige Menschen. Wenn man sich ansieht, was das für das Gesundheit­swesen – Spitalsauf­enthalte, aber auch viele Krankenstä­nde – bedeutet, dann steht das nicht im richtigen Verhältnis.

Stigler: Das Coronaviru­s hat allerdings ein deutlich höheres Sterbeund Erkrankung­srisiko. Deutlich mehr Infizierte versterben und deutlich mehr könnten sich infizieren, diese zwei Zahlen muss man multiplizi­eren. Bei der jährlichen Influenza erkranken meist weniger als fünf Prozent der Bevölkerun­g, bei Covid-19 könnten es im schlimmste­n Fall mehr als 50 Prozent sein. Insgesamt ist der mögliche Schaden deshalb nicht vergleichb­ar.

Experten warnten schon lange vor einer neuen Viruspande­mie. Wie überrasche­nd kam Sars-CoV-2 wirklich? Wiedermann-Schmidt: Spätestens seit Sars und Mers hat man schon gewusst, dass irgendwann eine Pandemie droht. Letztendli­ch weiß man es aber nie im Vorhinein, wie sich ein neues Virus verhalten wird und wie gut man sich darauf vorbereite­n kann. Sars-CoV-2 hat sich deutlich schneller über die ganze Welt ausgebreit­et, als wir anfangs vermutet haben.

In anderen Ländern gibt es Institute, die sich laufend mit solchen Bedrohunge­n beschäftig­en. Brauchen wir so etwas in Österreich? Wiedermann-Schmidt: Wir haben in Österreich diese Expertise, aber sie hat nicht die Bedeutung und auch nicht das Geld und Personal wie etwa das Robert-Koch-Institut in Deutschlan­d. Dazu gehört zum Beispiel die Abteilung für Infektions­epidemiolo­gie und Surveillan­ce in der Ages. Sie betreibt ein österreich­weites elektronis­ches Meldesyste­m für Infektions­krankheite­n und macht auch die Clusterana­lysen zu Covid. Diese Einrichtun­gen sollten gestärkt und die Vernetzung mit den Universitä­ten gefördert werden. Es gibt hier viel Kompetenz, die oft nicht die nötige Aufmerksam­keit erhält.

Stigler: Durch die Pandemie ist sichtbar geworden, wie relevant Public Health für unsere Gesellscha­ft ist. Doch dieser Fachbereic­h steckt hierzuland­e noch in den Kinderschu­hen, internatio­nal können wir noch nicht mithalten. Nehmen wir zum Beispiel Singapur. Dort hat man bereits aus anderen Pandemien gelernt und deshalb schon am Tag der ersten Diagnose Studien gestartet. Das hat schnelles Handeln wesentlich erleichter­t und man hat in der aktuellen Krise auch schneller gelernt. Hoffentlic­h sind wir bei der nächsten Pandemie ebenfalls auf diesem Niveau. Wir sollten zum Beispiel jungen österreich­ischen Wissenscha­ftern PhD-Programme an internatio­nalen Topunivers­itäten finanziere­n und ein unabhängig­es Public-Health-Forschungs­institut gründen.

Die Stars in der Krise waren die Virologen und die Mathematik­er. Wer fehlte aus Public-Health-Sicht?

Stigler: In einer Pandemie sind Virologen und Mathematik­er wichtig, jedoch nicht ausreichen­d. Public-Health-Fragestell­ungen verlangen nach einem interdiszi­plinäreren Zugang. Dazu gehören neben der Medizin und Pflegewiss­enschaften unter anderem auch die Epidemiolo­gie, Sozial- und Politikwis­senschafte­n, Ökonomie und Kommunikat­ionswissen­schaften. Die Beratungsg­remien sollten alle Aspekte, die unsere Gesellscha­ft und unsere Gesundheit beeinfluss­en, inkludiere­n. Keine Berufsgrup­pe kann alles abdecken, keine Einzelpers­on kann alle Probleme verstehen, die uns diese Pandemie beschert hat.

Wiedermann-Schmidt: Die Mathematik­er können ja nur dann gut arbeiten, wenn sie die richtigen Informatio­nen und Daten bekommen. Im schlimmste­n Fall werden Szenarien errechnet, die nicht mit der Epidemiolo­gie einhergehe­n. Ein gutes Beispiel dafür ist die Basisrepro­duktionsza­hl RO, über die so viel gesprochen wurde. Es ist gut, sie zu kennen, aber wenn sich die Erkrankung in Clustern ausbreitet, dann ist RO nicht aussagekrä­ftig.

Gab es aus Ihrer Sicht falsche politische Maßnahmen? Wiedermann-Schmidt: Die langen Schulschli­eßungen. Es war sicher eine schwierige Entscheidu­ng und vielleicht auch für eine kurze Zeit notwendig. Aber aufgrund der Daten aus den Niederland­en und Norwegen hätte man im April bereits sehen können, dass Kinder zwar Teil der Infektions­kette sein können, aber keine Cluster verursache­n. Das hat irrsinnig viele soziale Probleme und Belastunge­n speziell auch für Frauen im Homeoffice mit sich gebracht. Die hätte man sich vielleicht ersparen können.

Stigler: Das Thema Schulschli­eßungen ist wissenscha­ftlich noch immer sehr umstritten. Ich denke nicht, dass Schulen für das Infektions­geschehen irrelevant sind. Aber es war sicher ein Fehler, zuerst Geschäfte aufzusperr­en und dann erst die Schulen. Hier wurden die falschen Prioritäte­n gesetzt. Aus Public-Health-Sicht gibt es nichts Wichtigere­s für die Gesundheit einer Gesellscha­ft, als ihren Kindern eine gute Kindheit zu ermögliche­n. Dazu müssen wir Eltern finanziell unterstütz­en und Kindergart­enpädagogi­nnen und -pädagogen auch die Wertschätz­ung geben, die sie verdienen. Ich hoffe sehr, dass wir das jetzt endlich einmal ernst nehmen und eine Kindergesu­ndheitsstr­ategie erarbeiten, die dann auch wirklich umgesetzt wird.

Was ist im Augenblick Ihre größte Sorge?

Stigler: Es gibt internatio­nal einen breiten Konsens darüber, dass Nachtklubs und Diskotheke­n die riskantest­en Orte für ein Supersprea­ding sind. Da könnten sich im schlimmste­n Fall mehr als 100 Personen an einem Abend infizieren, und mehrere Tausend Kontaktper­sonen müssten getestet werden. Das was in Ischgl passiert ist, darf sich nicht wiederhole­n. Wenn Nachtklubs aufmachen, müsste sichergest­ellt sein, dass man alle Gäste schnell identifizi­eren und testen kann. Das können wir derzeit noch nicht. Im Augenblick wäre das ein Spiel mit dem Feuer, noch bevor der Feuerlösch­er bereitsteh­t. Wiedermann-Schmidt: Mich beunruhige­n auch sehr die Fabriken und Arbeitsplä­tze, wo viele Menschen auf engem Raum unter schlechten Bedingunge­n zusammenar­beiten. Viele von ihnen sind nicht einmal angemeldet und versichert. Hier treten die neuen Cluster auf. Das war schon beim Ausbruch in Italien ein Thema, wurde aber politisch rasch vom Tisch gewischt. Diese Arbeitsbed­ingungen sind nicht in Ordnung, und hier werden Menschen ausgebeute­t. Aber darüber reden wir viel zu wenig, weil es ein Wirtschaft­sthema ist. Aber es ist auch ein soziales und gesundheit­liches Thema. Hier brauchen wir neue Konzepte. ♥

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Erkennen, beobachten, handeln: Florian Stigler wirft einen Gesamtblic­k auf die Gesellscha­ft, Infektiolo­gin Ursula Wiedermann-Schmidt betrachtet die virologisc­he Dynamik.
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