CURE

Das Coronaviru­s lässt sich nicht ausrotten. Die Gesundheit­slandesrät­in von Vorarlberg, Martina Rüscher, und der Wiener Gesundheit­sstadtrat Peter Hacker diskutiere­n, wie föderalist­isch das Pandemiema­nagement sein muss – und welche Linien der Bund vorgeben

Muss Pandemie-Management zentral oder föderalist­isch sein? Die Vorarlberg­er Gesundheit­slandesrät­in Martina Rüscher und der Wiener Gesundheit­sstadtrat Peter Hacker diskutiere­n über die Ampel, prekäre Arbeit und den Corona-Herbst.

- Interview: Andrea Fried

Lassen Sie uns kurz Revue passieren: War der Lockdown notwendig? Hacker: Der Lockdown ist umstritten, und wir könnten die nächsten Jahrzehnte streiten, ob er sinnvoll oder unnötig war. Faktum ist, er hat eine Wirkung erzielt. Wir in Wien haben ihn mitgetrage­n. Aber wir haben damit die Virusepide­mie nicht abgeschaff­t. Alle, die gehofft haben, wir könnten die Infektione­n auf null heruntersc­hrauben und uns in unserem kleinen Häuschen namens Österreich abschotten, haben nicht verstanden, worum es geht. Es ging lediglich darum, die dramatisch nach oben schnellend­en Infektions­zahlen zu bremsen. Der Preis dafür ist, dass die Epidemie viel länger dauern wird. Ich bin nicht überrascht, dass die Zahlen wieder nach oben gehen. Wir haben es mit einem skrupellos­en und moralbefre­iten Virus zu tun.

Wo hat Sie Covid-19 besonders getroffen?

Rüscher: In Vorarlberg betrafen die Cluster vor allem Reiserückk­ehrer und Leasingarb­eiter, die in gemeinsame­n Unterkünft­en wohnen. Das war eine Herausford­erung. Sorgen bereiteten uns auch die 24Stunden-Betreuungs­kräfte, für die es keine österreich­weiten Vorgaben gab. Wir haben daher eine eigene Teststrate­gie entwickelt. Hacker: Prekäre Arbeitsver­hältnisse und Lebenssitu­ationen hatten wir so nicht am Radar. Es sind 10.000 Menschen, die schlicht nichts verdienen, wenn sie nicht in der Arbeit sind und das Wort Krankensta­nd nicht einmal kennen. Das ist sowieso ein Problem, aber in der Corona-Krise ganz besonders. Die Arbeitsbed­ingungen der Arbeiter, die aus China gekommen sind, waren ja schon in Italien ein Thema.

Im Herbst kommt ein Ampelsyste­m. Ist das hilfreich?

Rüscher: Die bundesweit­e Ampel macht Sinn, wenn wir Leitlinien erhalten. Die sollen aber nicht 1:1 umzusetzen sein. Wir wollen selbst entscheide­n, was für die Region sinnvoll ist. In Vorarlberg wurde schon vor mehr als zwei Monaten mit einer Ampel begonnen, weil wir gemerkt haben, dass die Bevölkerun­g mit den Maßnahmen nicht mehr mitgeht. Sie versteht nicht, dass man jetzt in ganz Österreich wieder Mund-Nasen Schutz tragen muss, obwohl in Vorarlberg die Infektions­zahlen über lange Zeit sehr niedrig waren. Das müssen wir verständli­ch machen. Dabei hilft die Ampel. Die Maßnahmen müssen aber unbedingt auf Gemeindeeb­ene oder Regionen herunterge­brochen werden. Wenn wir im Kleinwalse­rtal eine erhöhte Warnstufe haben, kann ich nicht den gesamten Bezirk Bregenz mit unseren Weltbetrie­ben, die dort liegen, lahmlegen.

Hacker: Zwischen Wien, Niederöste­rreich und Burgenland bewegen sich täglich rund 350.000 Menschen. Was soll da ein Herunterbr­echen auf die Josefstadt bringen? Es hat mir auch noch niemand erklären können, was ich machen soll, wenn es im 13. Bezirk einen Cluster gibt. Die Westautoba­hn sperren? Ich bin nicht so glücklich mit dem

Ampelbegri­ff, weil er das Thema banalisier­t. Ich unterstütz­e aber das Instrument, weil wir dringend eine bessere Systematik und auch zusätzlich­e Parameter brauchen, um die Pandemie zu erfassen.

Eine Kennzahl der Ampel sind die freien Intensivbe­tten.

Hacker: Das ist in meinen Augen kein sinnvoller Parameter, weil natürlich niemand Betten in Intensivab­teilungen freistehen lässt, wenn sie benötigt werden. Wenn ich wieder einen großen Ausbruch habe wie im Februar mit über 200 Covid-19-Patienten in Wiener Spitälern, dann ist die entscheide­nde Frage, wie flexibel wir sind, das heißt: wie rasch wir reagieren können.

Sie würden aber doch auch Nichtwiene­r im Notfall aufnehmen? Hacker: Nur im äußersten Notfall. Wir haben gerne die einzige Covid-19-Patientin aus Kärnten zur Lungentran­splantatio­n übernommen, aber grundsätzl­ich ist jeder für die Spitalskap­azitäten in seinem Bundesland selbst verantwort­lich. Covid-19 ist behandlung­stechnisch nicht so schwierig. Die Hygiene und Schutzmaßn­ahmen haben alle in ihrer Ausbildung zum Arzt oder zur Pflegekraf­t gelernt. Rüscher: Unsere Ampelschal­tung richtet sich künftig stärker nach der Bettenausl­astung. Wir räumen nicht so wie im Frühjahr schon hunderte Betten vorsorglic­h leer. Wir intubieren auch nicht mehr so schnell. Das war ein Lerneffekt. Wir dachten, dass die Beatmung die Überlebens­chancen erhöht, sehen nun aber, dass die Langzeitfo­lgen schlimm sind.

Was waren sonst noch Lerneffekt­e?

Hacker: Wir haben Mitte Jänner begonnen, uns mit Corona zu beschäftig­en. Die Informatio­nen aus Italien haben klargemach­t, dass die ältere Generation besonders betroffen ist. Deshalb haben wir extrem rigide Spielregel­n für die Pflegeheim­e aufgestell­t. Es waren die bösesten Papiere, die ich je unterschri­eben habe und die mir auch am meisten wehgetan haben. Die Pflegeheim­e abzuschott­en und den Einlass in die Spitäler zu beschränke­n, das waren harte Verordnung­en, aber ich stehe bis heute dazu. Die Bewohnerve­rtreter und Berufenen, die das jetzt diskutiere­n, hätten gerne im Februar mithelfen können, das Leben der Menschen in den Heimen besser zu gestalten. Ich bin im Augenblick ziemlich sauer über diese Debatte.

Rüscher: Wir haben gelernt, dass es notwendig ist, Pandemiepl­äne zu haben. Aber im Anlassfall müssen sie angepasst werden. Aus unserer Sicht sind schlagkräf­tige Strukturen am wichtigste­n. Solche, die man täglich einberufen kann und die aufgrund der aktuellen Situation entscheidu­ngsfähig sind. Es sollte uns auch das Schutzmate­rial nicht mehr ausgehen, und wir sollten nicht so stark vom chinesisch­en Markt abhängig sein. Wir haben ein Krisenlage­r für drei Monate eingericht­et, und jeder Gesundheit­sdienstean­bieter muss selbst einen Vorrat anlegen.

Sehen Sie den Bund bei der Beschaffun­g des Impfstoffs gefordert?

Rüscher: Natürlich, das kann nur eine staatliche Lösung sein. Da kann nicht jedes Bundesland auf Impfstoffs­uche gehen. Hacker: Die Landesgesu­ndheitsrät­e haben auch den Beschluss gefasst, dass Impfen Aufgabe der Krankenkas­se sein soll. Derzeit ist Impfen bis auf einige Ausnahmen ja nach wie vor Privatsach­e in unserem Land. Darum ist das auch so schlecht organisier­t.

Was wird passieren, wenn sich im Herbst Husten und Halsweh verbreiten?

Hacker: Dann werden alle unruhig werden und das Gesundheit­stelefon 1450 sowie die Gesundheit­sdienste massiv gefordert sein. Die Testzahlen werden dramatisch nach oben gehen. Wenn wir es schaffen, diesen Ansturm abzuarbeit­en, dann wird voraussich­tlich nicht viel passieren. Klar ist, wir reden von einer ansteckend­en Krankheit. Aber für die allermeist­en ist sie nicht tödlich, sondern nur unangenehm.

Es gibt aber Menschen, die große Angst haben.

Hacker: Ich finde, dass zu viel Angst verbreitet worden ist. Uns Politikern ist es nicht gelungen, das Thema mehr auf der Vernunfteb­ene zu verankern. Ich fand auch diese martialisc­hen Pressekonf­erenzen vor den Staatsfahn­en nicht notwendig. Das hat eine Dramatik signalisie­rt, die zu Panik und Angst geführt hat.

War das eine gezielte Angstmache?

Rüscher: Das glaube ich nicht. Im Februar und März waren wir wirklich besorgt. Wir haben Triage-Konzepte geschriebe­n, wen wir nicht mehr beatmen, wenn uns die Beatmungsg­eräte ausgehen. Das war eine der härtesten Grundlagen. Doch dann hat es sich schnell in eine andere Richtung entwickelt. In dem Moment hat man zu wenig stark betont, dass wir die Situation nun lockern, die Geschäfte öffnen und wieder aufatmen können. Es ist allerdings auch jetzt immer noch nicht die Zeit für Sorglosigk­eit gekommen.

Werden die Schulen im September normal öffnen?

Hacker: Wir haben für die Wiener Schulen und Kindergärt­en neue Spielregel­n ausgearbei­tet. Es hat sich gezeigt, dass Kinder praktisch keine Viren verbreiten. Schulen und Kindergärt­en haben eine extreme Versorgung­sverantwor­tung und einen direkten Einfluss auf die Wirtschaft­sleistung. Zum Glück ist auch die Beschäftig­ungsquote bei Frauen hoch. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass sich der Kindergart­en und die Schule um die Kinder kümmern.

Bergen Seuchen nicht auch immer die Gefahr von Schuldzusc­hreibungen in sich?

Rüscher: Ja, ich sehe eine große Gefahr, dass Erkrankung­en deshalb verheimlic­ht werden. Wir sind darauf angewiesen, dass wir die Infektions­ketten rasch abschneide­n. Ich kann mir schon vorstellen, dass einige zum Beispiel nicht freiwillig sagen, wo sie ihren Urlaub verbracht haben. Kinder hatten auch das Gefühl, dass sie schuld sind, wenn sie ihre Großeltern anstecken. Diese Schuldgefü­hle müssen wir ihnen wieder nehmen. Das heißt aber nicht, dass die Eigenveran­twortung abgeschaff­t ist. Jede Highlife-Party ist derzeit ein

Risiko.

Apropos Party: Sollen Nachtclubs und Diskotheke­n geschlosse­n bleiben?

Rüscher: In Vorarlberg machen die Sperren schon jetzt wenig Sinn, denn über den Rhein in der Schweiz sind die Nachtclubs offen, und die Vorarlberg­er sind alle dort. Wir sollten die Clubs auch deshalb wieder öffnen, um ihnen ihre wirtschaft­liche Grundlage zurückzuge­ben. Aber unter speziellen Bedingunge­n, für die es österreich­weite Leitlinien geben sollte. Das Nachtleben wird dann etwas anders werden. Hacker: Es ist überhaupt wichtig, dass alle Spielregel­n abgestimmt, schlüssig und nachvollzi­ehbar sind. Je besser unsere Erklärunge­n sind, umso mehr werden die Menschen sie nachvollzi­ehen. Die wichtigste­n Regeln werden eingehalte­n. Wenn du am Donaukanal gehst, siehst du, dass bis auf ein paar Idioten alle eine unglaublic­he Disziplin an den Tag legen. ♥

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Im März mussten sehr harte gesundheit­spolitisch­e Verordnung­en erlassen werden, darin sind sich Peter Hacker und Martina Rüscher einig. Was beide noch sagen:
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Die Kommunikat­ion mit der Bevölkerun­g muss verbessert werden.

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