CURE

Politische Entscheidu­ngen werden auf Basis von Daten und Fakten getroffen. Zu Beginn der Corona-Pandemie fehlten sie. Ein selbstkrit­ischer Rückblick von europäisch­en Gesundheit­spolitiker­innen.

Die Corona-Pandemie war und ist ein Stresstest für die Politik, viele Entscheidu­ngen mussten ohne faktische Grundlagen getroffen werden.

- Karin Pollack

Die vergangene­n Monate waren für alle Bereiche des Lebens eine nie da gewesene Herausford­erung. Auch für die Wissenscha­ft, deren Aufgabe es wäre, valide Daten zu liefern, mit denen die Politik dann begründete Entscheidu­ngen treffen kann. Genau das fand aber nicht statt. Das Europäisch­e Gesundheit­sforum Gastein (EHFG) lud europäisch­e Gesundheit­spolitiker zu einem Webinar, um die ersten Lehren aus dieser Krise des weltweiten Shutdowns zu ziehen. „Wir wussten in den ersten Wochen einfach gar nichts, haben Politik ohne Datengrund­lagen gemacht“, lautete das schonungsl­os offene Resümee von Liisa-Maria Voipio-Pulkki, Strategin im finnischen Gesundheit­sministeri­um. Das Beste, was allen einfiel, sagt sie, war ein Narrativ, das die Zahlen in den Mittelpunk­t stellte. „Wir zählten die Infizierte­n und Toten, um damit die drastische­n Maßnahmen für die Bevölkerun­g zu rechtferti­gen, und vermischte­n sie mit ethischen Kriterien.“Doch mehr als ein „educated guess“sei das nicht gewesen, betont sie.

„Gesundheit­ssysteme sind weltweit sehr unterschie­dlich, auch hinsichtli­ch der Daten, die erhoben werden“, beschreibt Andrea Ammon, Direktorin des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), eine der Hauptschwi­erigkeiten in der Pandemie. Das Datenmater­ial hinsichtli­ch der Testungen, der Kapazitäte­n, aber auch der Krankenzah­len, der Intensivbe­ttenkapazi­tät und der Mortalität sei deshalb nur schwer in einen gemeinsame­n Kontext zu setzen. Daten zu sammeln und auszuwerte­n erfordert eine hohe Systematik und Genauigkei­t. „Die Leute im Gesundheit­ssystem, die das können, waren während der Pandemie für andere, wichtige Dinge eingesetzt“, kann sie berichten. Ihre dringendst­e Erkenntnis: Die Surveillan­ceSysteme,

die das Infektions­geschehen global überwachen, müssen ausgebaut und akkordiert werden. Denn sicher ist: Im Herbst werden die Zahlen der Infektione­n wieder steigen. Neben der Influenza und anderen Erkältungs­erkrankung­en ist Sars-CoV-2 ein neuer gefährlich­er Player im System.

Transparen­z als Lösung

Für Josep Figueras, Direktor des Europäisch­en Observator­iums für Gesundheit­ssystem und Politik, ist die wichtigste Lehre aus der Corona-Krise: „Wir müssen erst lernen, mit Unsicherhe­it umzugehen.“Er meint damit auch die Politik. Anstatt scheinbare Sicherheit zu verbreiten, geht es in hochkomple­xen Krisensitu­ationen darum, rasch die wichtigen Fragestell­ungen zu formuliere­n, verbunden mit dem Eingeständ­nis, dass Probleme bestehen, für die es keine gesicherte Lösung gibt. Er empfiehlt auch, im öffentlich­en Diskurs moralische Werte von Evidenz zu trennen. Unter Einhaltung all dieser Vorgaben sei es dann allerdings schon möglich, politische Ziele zu definieren. Politiker seien es im Vergleich zu Wissenscha­ftern sehr wohl gewohnt, mit Unsicherhe­iten umzugehen. Sie haben aus Wahlkämpfe­n Erfahrung darin, Strategien auf Basis von Annahmen zu machen und mit Argumenten dafür zu werben.

Worüber sich alle einig sind: Eine schonungsl­os offene und transparen­te Aufarbeitu­ng der Krise ist von zentraler Bedeutung, um für zukünftige Entwicklun­gen bei Infektions­ausbrüchen besser gerüstet zu sein. Über dieses Thema wird im Rahmen des Europäisch­en Gesundheit­sforums in Gastein unter Experten ein Diskurs gestartet. Die Veranstalt­ung findet von 30. September bis 2. Oktober statt – wegen der Corona-Krise ausschließ­lich virtuell. ♥

 ??  ?? Über Sars-CoV-2 gab es keine Daten. Deshalb mussten Maßnahmen ohne gesicherte­s Wissen getroffen werden.
Über Sars-CoV-2 gab es keine Daten. Deshalb mussten Maßnahmen ohne gesicherte­s Wissen getroffen werden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria