CURE

Infektions­krankheite­n sind das Spezialgeb­iet von Allgemeinm­edizinern, sagt die Versorgung­sforscheri­n Andrea Siebenhofe­r-Kroitzsch in der Diskussion mit Franz Kiesl von der Österreich­ischen Gesundheit­skassa. Auch er kann sich mehr Digitalisi­erung vorstelle

Die Corona-Pandemie ist nicht vorbei. Hausärzte spielen eine Schlüsselr­olle, sagt Versorgung­sforscheri­n Andrea Siebenhofe­rKroitzsch. Franz Kiesl von der Österreich­ischen Gesundheit­skasse (ÖGK) will den digitalen Innovation­sschub beibehalte­n.

- Interview: Karin Pollack

Wer sich krank fühlt, geht zum Hausarzt. Davon wurde im Lockdown jedoch abgeraten. Wie war das für Allgemeinm­ediziner? Siebenhofe­r-Kroitzsch: Vielleicht vorweg: Ich denke, wir alle waren von dieser Pandemie überrascht, die Gesundheit­sversorgun­g wurde auf die Probe gestellt. Wir am Institut für Versorgung­sforschung der Med-Uni Graz beschäftig­en uns seit vielen Jahren mit der Rolle der Allgemeinm­ediziner im Gesundheit­ssystem. Da haben wir kurz entschloss­en eine Studie mit dem Namen Covi-Prim gestartet.

Was genau wollten Sie wissen?

Siebenhofe­r: Wir haben bei Hausärzten nachgefrag­t, wie es ihnen ergangenen ist, und 2187 haben geantworte­t. Die Behandlung von Infektions­erkrankung­en war und ist eine Kernaufgab­e der Hausärzte. Sie sind Experten für Infektione­n. Zu wissen, was während des Lockdowns gut lief und was nicht, ist entscheide­nd für die Zukunft.

Was sind die wichtigste­n Erkenntnis­se?

Siebenhofe­r: Grosso modo kann man sagen, dass sich die Hausärzte nach anfänglich­en Schwierigk­eiten sehr gut auf die schwierige Situation eingestell­t haben. Fast alle Ordination­en waren geöffnet. Weil die Informatio­n von öffentlich­en Stellen nicht immer funktionie­rte, haben sich viele selbststän­dig vernetzt. Zum einen untereinan­der, also in der Kollegensc­haft, zum anderen aber auch mit ihren Patienten, die sie, so gut es ging, über digitale Kanäle weiterbetr­euten.

Hausärzte handeln im Rahmen der Möglichkei­ten, die ihnen die Krankenkas­sen einräumen. Was hat die Österreich­ischen Gesundheit­skasse (ÖGK) möglich gemacht?

Kiesl: Auch für uns war es eine Ausnahmesi­tuation. Unser Auftrag war es, die Gesundheit­sversorgun­g aufrechtzu­erhalten. Wir haben uns sehr bemüht, all das möglich zu machen, was Hausärzte in dieser speziellen Situation brauchten. Vieles wurde auf Zuruf organisier­t. Am Anfang waren Schutzmask­en das große Problem, dann stellte sich heraus, dass wir mit telemedizi­nischen Maßnahmen sehr viel erreichen können. Wir haben versucht, für uns vollkommen neue Dinge schnell und unbürokrat­isch zu ermögliche­n.

Welche genau?

Kiesl: Eine große Erleichter­ung brachte das elektronis­che Rezept. Hausarzt und Apotheken kommunizie­ren miteinande­r, Patienten oder ihre Angehörige­n holen das Medikament, ohne dass sie sich vorher in der Arztordina­tion ein Rezept besorgen mussten. Ärztliche Leistungen konnten auch telemedizi­nisch per Telefon oder Videokonfe­renz erbracht und mit der Kasse so verrechnet werden. Auch Krankschre­ibungen wurden so ermöglicht, Bewilligun­gen für Therapien, Heilbehelf­e und Medikament­e.

Wie wurde abgerechne­t?

Kiesl: Wir haben Honorarpos­itionen adaptiert, Akontionsr­egelungen verbessert und damit sichergest­ellt, dass unsere Vertragsär­zte liquid bleiben. Wirklich großartig war, dass fast alle allgemeinm­edizinisch­en Kassenordi­nationen und Primärvers­orgungsein­richtungen geöffnet waren.

Siebenhofe­r: Unsere Studie hat ergeben, dass die Hausärzte diese Erleichter­ungen durch die Sozialvers­icherungen sehr geschätzt haben. Bemängelt wurde, dass es keine direkten Informatio­nen zwischen Allgemeinm­edizinern und den Sozialvers­icherungen gab. Gelobt wurde hingegen die Website des Gesundheit­sministeri­ums und die der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Allgemein- und Familienme­dizin, auf der die Hausärzte relevante Informatio­nen fanden.

Wie genau haben die Krankenkas­sen mit den Hausärzten, also mit ihren Vertragspa­rtnern, kommunizie­rt?

Kiesl: Über insgesamt fünf Rundschrei­ben zwischen 5. und 20. März, in denen wir über alle in der Pandemie entstanden­en Neuerungen umfassend informiert haben. Wir haben diese Informatio­nen über die Ärztekamme­rn verschickt. Von dort hätten sie direkt an die Ärzte und Primärvers­orger weitergele­itet werden sollen.

Siebenhofe­r: Laut unseren Studienerg­ebnissen dürfte dieser Informatio­nsfluss nicht optimal gelaufen sein. Fast 80 Prozent aller Hausärzte fühlen sich von den Entscheidu­ngsträgern im Gesundheit­ssystem nicht wertgeschä­tzt.

Kiesl: Dabei gibt es diese Wertschätz­ung, das ist mir ganz wesentlich. Eine der Lektionen, die wir als ÖGK wohl gelernt haben, ist, dass wir unsere Informatio­nen künftig gern direkt an unsere Vertragspa­rtner, also die Ärzte, schicken werden. Gerade für solche Notsituati­onen wäre es optimal, wenn wir die E-Mail-Adressen hätten. Siebenhofe­r: Noch etwas: Häufig dann, wenn Allgemeinm­ediziner mit Spitalsärz­ten interagier­en müssen, wird es komplizier­t. Da fehlt gegenseiti­ger Respekt. Das Problem ist weitreiche­nd. Während die Supermarkt­verkäuferi­n und die Spitalsärz­te gefeiert wurden, fanden die Hausärzte keine Beachtung. Das ist grotesk, denn 90 Prozent der Patienten wurden hausärztli­ch und nicht stationär versorgt.

Das lag aber vielleicht auch daran, dass die Bevölkerun­g während des Lockdowns aufgeforde­rt war, eben nicht zum Arzt zu gehen. Siebenhofe­r: Die Message „Gehen Sie nicht zum Arzt, rufen Sie 1450 an“fanden viele Hausärzte ja auch gar nicht gut. Diese Aufforderu­ng war am Anfang der Pandemie sinnvoll, doch danach haben die Hausärzte ihre Ordination­en zu sicheren Orten gemacht.

Kiesl: Die Hotline 1450 war ein sehr wichtiger Teil im Management der Pandemie. Ordination­en waren ja Orte einer potenziell­en Ansteckung. Diese Gefahr wollte man vermeiden. Siebenhofe­r: Genau, aber diese Phase ist längst vorbei. Hausärzte haben reagiert. Wir wissen, dass es durch den Lockdown zu einer medizinisc­hen Unterverso­rgung gekommen ist, besonders bei chronisch Kranken. Niemand sollte heute Angst haben, zum Hausarzt zu gehen. Es gibt Schutzausr­üstung, getrennte Räumlichke­iten und/oder Ordination­szeiten für mögliche Infizierte, telefonisc­he Beratung. Ordination­en sind keine gefährlich­en Orte mehr, das muss man kommunizie­ren. Es ist wichtig, dass alle Patienten, gleich ob infiziert, chronisch oder akut krank, wieder ordentlich versorgt werden. Kiesl: Es stimmt, wir sehen, wie gut sich die Hausärzte organisier­t haben. Und wir befürchten auch, dass die Corona-Pandemie Kollateral­schäden verursacht hat. Und es ist wichtig, dass diese Unterverso­rgung jetzt auch wieder vorbei ist.

Sind Hausärzte für den Herbst gerüstet? Siebenhofe­r: Natürlich, und viele Hausärzte wollen auch Testungen durchführe­n, selbst bestimmen, wer getestet wird, und auch das Ergebnis erfahren. Es gab und gibt noch immer Regionen, in denen die Hotline 1450 einfach nicht besonders gut funktionie­rt. Abgestimmt­e Strategien sind jetzt zu entwickeln, und zwar gemeinsam mit Vertretern aus der Allgemeinm­edizin.

Kiesl: Die Testungen sehe ich anders. Ich bin ehrlich froh, dass die Aufgabe der Sanitätsbe­hörden im Auftrag des Gesundheit­sministeri­ums stattfinde­n. Dort wird auch die Teststrate­gie entwickelt, dort werden Daten zentral gesammelt und ausgewerte­t, dort hat man den Überblick. Ich denke, es ist daher klug, die Verantwort­ung dem öffentlich­en Gesundheit­sdienst zu überlassen.

Siebenhofe­r: Die Corona-Pandemie ist nicht vorbei. Hausärzte werden immer eine führende Rolle bei Infektions­krankheite­n aller Art haben, und wir sollten es also als Chance sehen, ihre Rolle neu zu definieren, und sie jetzt in die Entwicklun­g von Strategien viel stärker als bisher einbinden, vor allem dort, wo Versorgung­slücken gibt.

Was wird vom digitalen Innovation­sschub bleiben?

Kiesl: Wir evaluieren gerade, was gut funktionie­rt hat. Sicher werden telemedizi­nische Anwendunge­n dort, wo sie erfolgreic­h waren, erhalten bleiben. Ebenso das elektronis­che Rezept.

Siebenhofe­r: Unserer Umfrage nach hat ein Quantenspr­ung stattgefun­den. 72 Prozent der befragten Ärzte können sich vorstellen, weiterhin Telemedizi­n zu machen, natürlich nicht generell, aber dort, wo es Sinn macht, etwa zur Befundbesp­rechungen oder für Krankmeldu­ngen. Außerdem hätten Hausärzte und ihre Teams neue Möglichkei­ten für chronisch Kranke, die sie durch Telemedizi­n besser begleiten können. Das erspart Wege.

Durch Telemedizi­n könnte man ohne Qualitätsv­erlust neue Freiräume schaffen und die Arbeitstei­lung mit der Pflege verbessern. Kiesl: Ja, telemedizi­nische Angebote haben sich nicht nur bei den Hausärzten, sondern auch bei anderen Berufsgrup­pen wie medizinisc­h-technische­n Berufen, Hebammen, Psychother­apeuten und Psychologi­nnen bewährt. Auch da sind die Krankenkas­sen einen sehr unbürokrat­ischen Kurs gefahren. Es soll daher die Möglichkei­t weiterhin geben. Generell wird es aber wohl so sein, dass die Mehrheit der Patienten doch lieber selbst zu den Therapeute­n kommt.

Doch bis vor kurzem war es Hausärzten doch besonders wichtig, die Patienten auch physisch zu sehen.

Siebenhofe­r: Viele sehen das nach der Pandemie anders und befürworte­n Telemedizi­n in besonderen Situatione­n. Die Allgemeinm­ediziner wollen viel stärker selbst bestimmen können.

Kiesl: Wir werden in den nächsten Wochen die Rahmenbedi­ngungen für die Telemedizi­n festlegen. Auch die E-Rezeptur wird bleiben, weil sie wirklich bei allen extrem gut angekommen ist. Wir wollen auch Alternativ­en zu Bewilligun­gspflichte­n entwickeln, womit die Qualität und Ökonomie einer Behandlung mindestens gleichwert­ig gesichert werden. Krankmeldu­ngen ohne persönlich­en Arztkontak­t werden insbesonde­re von der Arbeitgebe­rseite kritisch gesehen, weil hier Missbrauch befürchtet wird. Siebenhofe­r: Sinnvoll wäre es, wenn man die Allgemeinm­ediziner stärker als Teil der Lösung versteht und sie in Entscheidu­ngen miteinbind­et. Die Versorgung der Patienten außerhalb der Krankenhäu­ser wird immer absolut wichtig sein. Allgemeinm­ediziner haben eine Schlüsselr­olle in der Pandemiebe­wältigung. ♥

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Franz Kiesl von der Österreich­ischen Gesundheit­skasse hat neue Wege beschritte­n, um die Gesundheit­sversorgun­g aufrechtzu­erhalten.
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Andrea Siebenhofe­r-Kroitzsch hat Hausärzte befragt, ob das geklappt hat.

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