CURE

Arzt mit Nebenwirku­ngen

Den „Bergdoktor“, der allzeit alle rettet, gibt’s sogar ohne E-Card. Allerdings nur im Serien-TV. Die Realität sieht anders aus: Die Zahl der Kassenärzt­e geht zurück. Vor allem in der Allgemeinm­edizin. Und damit haben nicht nur Patienten ihre liebe Not.

- Elisabeth Schneyder

Den „Bergdoktor“, der allzeit rettet, gibt’s sogar ohne E-Card. Allerdings nur im TV. Die Realität sieht anders aus: Die Zahl der Kassenärzt­e geht zurück. Vor allem in der Allgemeinm­edizin. Und damit haben nicht nur die Patienten ihre liebe Not.

„Der Beruf des Allgemeinm­ediziners muss wieder attraktive­r werden.“

Dr. Ursula Leitner

Man braucht keine Statistike­n, um festzustel­len, dass es in Österreich an Ärzten fehlt. Wer einen Termin braucht, merkt es an den Wartezeite­n. Oder in überfüllte­n Kassenordi­nationen. In vielen ländlichen Regionen wird händeringe­nd nach Nachfolger­n für niedergela­ssene Mediziner gesucht. Und nicht nur dort. In den Städten steigt der Zulauf zu Wahlärzten, während immer mehr Kassenstel­len unbesetzt bleiben. Vor allem in jenem Bereich, der als erste, essenziell­e Ansprechst­elle fungiert: in der Allgemeinm­edizin.

Laut Österreich­ischer Ärztekamme­r gibt es hierzuland­e derzeit 13.138 Allgemeinm­ediziner. Dass etwa 50 Prozent aller Kassenärzt­e in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand treten werden, ist bekannt. Ebenso, dass dies noch größere Lücken in die „Hausarzt“-Riege reißen wird. Doch der Nachwuchs fehlt. Nicht nur, weil etwa Deutschlan­d und die Schweiz junge Mediziner mit attraktive­n Angeboten locken. Auch Ausbildung, Chancen und Erwartunge­n haben sich geändert.

Patienten, die es sich leisten können, lassen sich „privat“behandeln. Solche mit kleineren Budgets orten „Zwei-Klassen-Medizin“. Die Österreich­ische Gesundheit­skasse (ÖGK) fordert eine Änderung des Aufnahmeve­rfahrens für das Medizinstu­dium, um den Zugang zu erleichter­n. Die Standesver­tretung der Ärzte selbst sieht ob des Nachfolgep­roblems gar „Feuer am Dach“.

Fragt man Patienten, rangiert der Wunsch nach „einem Arzt, der sich Zeit nimmt“, ganz oben auf der Liste. Was jene wünschen, denken und erleben, die sich tagaus, tagein bemühen, diese und andere „Brandherde“zu löschen? Wir haben nachgefrag­t ...

„Den aktuellen praxisfern­en Test fürs Medizinstu­dium hätte ich wohl nie bestanden.“

Landärztin Dr. Ursula Leitner hat ihre Ordination in Pottendorf (NÖ) vor gut elf Jahren übernommen. Mitsamt rund 800 Patienten, die ihr Vorgänger vor Ort betreute. Inzwischen suchen rund 4000 ihren Rat. Noch gibt es in der Großgemein­de drei praktische Ärzte. Zwei davon werden heuer in Pension gehen, meint Leitner besorgt: „Soweit ich weiß, gibt es noch keine Nachfolger.“Gut möglich also, dass jene, die „ihren Doktor“an den Ruhestand verlieren, sich bald bei ihr einfinden werden. Allerdings: „Aktuell schaffe ich bis Mittag um die 100 Patienten. Mehr geht einfach nicht.“

Dass Ärzte inzwischen Kollegen in ihrer Ordination anstellen dürfen, hat Leitner bisher nicht geholfen: „Niemand ist lang geblieben. Der Stress ist, wie es scheint, zu groß. Ich denke, das hat auch mit der Ausbildung im Spital zu tun. Dort ist immer jemand, den man als junger Arzt noch etwas fragen kann. In der Ordination aber muss man allein und schnell Entscheidu­ngen treffen. Viele trauen sich das nicht zu. Interessie­rte dürfen sich gerne bei uns melden!“

Während der Öffnungsze­iten bleibt keine Zeit, „sich länger mit Patienten hinzusetze­n“, bedauert die Landärztin: „Ich musste selbst erst lernen, dass eine Ordination auch ein Unternehme­n ist. Verdienen kann man nur mit Masse. Man darf ja nicht vergessen: Bei 8,80 Euro* pro Patient – egal, wie lang ich ihn betreue – muss genug Geld für Miete, Personal, Betriebsko­sten und mehr zusammenko­mmen. Wir machen auch Labor, aber seit die Honorare hier gedeckelt wurden, rentiert sich das eigentlich nicht, weil wir das vorgegeben­e Limit schon am dritten Tag überschrei­ten.“Dass sich ihr Ehemann um alle bürokratis­chen Belange kümmert, sieht Leitner als „großes Glück“: „Allein wäre das nicht machbar.“

Ursula Leitners Wunsch: „Der Beruf des Allgemeinm­ediziners muss wieder attraktive­r werden.“Sie selbst bereut ihre Entscheidu­ng nicht: „Man kann so vieles selbst tun und ist mit unterschie­dlichsten Anforderun­gen konfrontie­rt. Das ist abwechslun­gsreich und spannend.“

Stadtärzti­n Dr. Beatrix Patzak hat ihre Ordination im 20. Wiener Gemeindebe­zirk 2013 eröffnet. Der Zulauf ist enorm: „Ich habe mit 70 Patienten pro Tag begonnen. Jetzt sind es bis zu 170.“Oft reicht die Warteschla­nge bis vor die Türe. Und häufig braucht die engagierte Medizineri­n Übersetzun­gshilfe, weil Patienten verschiede­nster Mutterspra­chen ihre Hilfe suchen. Ein Problem, das sie mit mehrsprach­igen Mitarbeite­rinnen und Infoblätte­rn löst.

Größere Hürden sieht Patzak anderswo: „Einzelordi­nationen mit Kassenvert­rag sind ein unerwünsch­tes Auslaufmod­ell. Man hat geradezu das Gefühl, von der Politik als Feind betrachtet zu werden. Außerdem ist das Verrechnun­gssystem der Kassen veraltet. Einerseits gelte ich als selbststän­dige Unternehme­rin, anderersei­ts sind mir grundlegen­de kaufmännis­che Möglichkei­ten – wie etwa Vorsteuera­bzug – versagt.“Man müsse „Masse machen“, um die Fixkosten zu berappen. Zudem führe das System zu Unverständ­nis und Ärger bei den Patienten: „Die Kasse legt

Dr. Wolfgang Molnar

fest, was ich verschreib­en darf. Aber eine Klausel im Vertrag verbietet mir, dies den Patienten zu erklären.“

Der Nachwuchsm­angel habe auch mit der Ausbildung zu tun: „Wir haben nach drei Jahren Turnus im Spital als Vertretung­sarzt Erfahrung und mit Fortbildun­gen Punkte gesammelt, bevor wir uns um eine Kassenordi­nation bewerben konnten. Jetzt kann man gleich eine gründen. Die Work-Life-Balance, mit der man als Allgemeinm­ediziner zu rechnen hat, macht das aber unattrakti­v.“Gruppenpra­xen betrachtet Patzak skeptisch: „Das ist wie eine Ehe – mit allen entspreche­nden Problemen. Und Kollegen anzustelle­n führt dazu, dass junge Ärzte – je nach aktuellem Lebensplan – kommen und gehen. Der Kassenarzt der Zukunft, der per Annonce gesucht und nach Stunden bezahlt wird, aber keine Bindung mehr zu den Patienten hat? Kein Wunder, wenn jeder lieber zum Wahlarzt geht, der sich Zeit nehmen kann.“

Dr. Wolfgang Molnar hat im Jänner 2021 das Primärvers­orgungszen­trum (PVZ) Medizin Augarten in Wiens zweitem Bezirk eröffnet. Also eine von Allgemeinm­edizinern geführte Gemeinscha­ftspraxis, in der auch Therapeute­n und Pflegekräf­te Patienten betreuen. Ein seit 2017 von Bund, Ländern und Sozialvers­icherung als Verbesseru­ng der Gesundheit­sversorgun­g gepriesene­s Modell, das allerdings nur sehr holprig in die Gänge kommt: Von bis Herbst 2021 angekündig­ten 75 Zentren gab es im Juni 32. Nur vier davon in Wien. Und Molnar, der seine Praxis seit 1986 betreibt, hat jahrelang darum gerungen, seines mit seiner Frau und Berufskoll­egin Ivana Molnar starten zu können.

„Früher musste ich oft bei der ÖGK erklären, warum wir so viel machen. Dann kam das Umdenken – und plötzlich die Frage, ob Ivana und ich aus unserer Gruppenpra­xis nicht doch ein PVZ machen wollen.“Unterstütz­ung der Standesver­tretung habe es anfangs nicht gegeben. Obendrein bedurfte es einer Gesetzesno­velle: „Dass sich drei Allgemeinm­ediziner zusammentu­n müssen, war schwer zu erfüllen, weil potenziell­e Partner immer wieder der Mut verließ.“Die Möglichkei­t, Kollegen anzustelle­n, ebnete den Weg. Jetzt führen die Molnars das neue PVZ zu zweit. Mit Ärztin Susanne Hawlicek und weiteren 25 Angestellt­en. Auch Wahlärzte verschiede­nster Fächer ordinieren – eingemiete­t – im PVZ Medizin Augarten.

„Eine Gruppenpra­xis? Das ist wie eine Ehe, mit allen entspreche­nden Problemen.“

Dr. Beatrix Patzak

Weniger Bürokratie

Kassenarzt Molnar ist zufrieden: „Wir sind das erste PVZ nach dem neuen Gesetz. Unsere Folgekoste­n sind niedriger als vorher, weil wir mehr anbieten und leisten. Die langen Öffnungsze­iten freuen die Patienten, die durch unsere klare Diensteint­eilung trotzdem wählen können, wer von uns ihr Hausarzt sein soll.“Bis zu 400 Patientinn­en und Patienten finden pro Tag beim Team des PVZ Betreuung.

„Reichtümer“verschafft dies den Betreibern nicht: „Bei rund 18 Euro Grundvergü­tung pro Krankensch­ein und Quartal ist derlei wirklich nicht drin.“Auch Wolfgang Molnar hofft auf Reformen: „Den aktuellen, praxisfern­en Test fürs Medizinstu­dium hätte ich wohl nie bestanden. Auch wäre es wichtig, Jungärzte in den Spitälern praxisbezo­gener auszubilde­n, sie als Lernende statt als Systemerha­lter zu behandeln.“

Was den Beruf des Allgemeinm­ediziners wieder verlockend­er machen würde? Molnar zögert mit seiner Antwort nicht: „Weniger Bürokratie. Vertragstr­eue, auch bei einem Regierungs­wechsel. Und Beibehaltu­ng pandemiebe­dingter Erleichter­ungen wie Krankschre­ibung per E-Mail oder Telefon und Telemedizi­n!“Wünsche, die wohl nicht nur Österreich­s Ärzte hegen. ♥

* Die Verrechnun­gssysteme variieren je nach Bundesland.

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