CURE

Abschied vom Ich

Morbus Alzheimer gilt als Volkskrank­heit des 21. Jahrhunder­ts. Ihrer rasanten Ausbreitun­g stehen langsame Forschungs­fortschrit­te gegenüber. Alzheimer gilt weiterhin als unheilbar. Bringen neue Medikament­e und alternativ­e Behandlung­smethoden jetzt die Wend

- Klaus Höfler

Morbus Alzheimer gilt als unheilbare Volkskrank­heit des 21. Jahrhunder­ts. Bringen neue Medikament­e und alternativ­e Behandlung­smethoden jetzt die Wende?

Es beginnt im Kleinen. Fast unbemerkt. Ein Wort, das ihm nicht einfällt. Ein Gesicht, das er nicht erkennt. Ein Gegenstand, dem er keinen Namen zuordnen kann. „Die Krankheit des Vaters fing auf so verwirrend­e Weise langsam an, dass es schwierig war, den Veränderun­gen die richtige Bedeutung beizumesse­n“, beschreibt es der Schriftste­ller Arno Geiger in seinem Buch Der König in seinem Exil, in dem er die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters zum Thema macht. Eine Krankheit, die vom deutschen Arzt Alois Alzheimer Anfang des 20. Jahrhunder­ts pionierhaf­t erforscht wurde und mittlerwei­le als „Volkskrank­heit“der Gegenwart gilt. Sie ist für 60 bis 80 Prozent der Demenzerkr­ankungen verantwort­lich.

Als chronische Alterskran­kheit hat das auch demografis­che Gründe. So leiden heute in Österreich bis zu 80.000 Menschen unter Alzheimer. 2050 könnten es aufgrund der Überalteru­ng laut Österreich­ischer Alzheimer-Gesellscha­ft 100.000 mehr sein. Weltweit zählt die Weltgesund­heitsorgan­isation schon jetzt rund 50 Millionen Betroffene. Diese Zahl könnte in den nächsten 30 Jahren auf mehr als 150 Millionen steigen.

Trotz wachsender Inzidenzza­hlen bleibt es für die Wissenscha­ft ein verschleie­rtes Phänomen. „Die Krankheit zog ihr Netz über ihn, bedächtig, unauffälli­g. Der Vater war schon tief darin verstrickt, ohne dass wir es merkten.“Arno Geigers bildhafte Beschreibu­ng verdeutlic­ht, dass sich Morbus Alzheimer auf leisen Sohlen und lange Zeit unbemerkt ins Leben schleicht. Bis zu 20 Jahre kann es vom Ausbruch der Krankheit bis zu ersten Symptomen dauern.

„Nervenzell­e 0“identifizi­ert

Noch ist es aber nicht gelungen, den Wurzeln von Alzheimer auf die Spur zu kommen, wiewohl man ihnen Anfang dieses Jahres an der Universitä­t Bremen einen bedeutende­n Schritt nähergekom­men sein will. In Fadenwürme­rn wurden die entscheide­nden Nervenzell­en gefunden, in denen die Krankheit beginnt. Die Tiere sind auf molekulare­r Ebene identisch zum Menschen und transparen­t, weshalb interne Vorgänge durch Fluoreszen­z-Farbstoffe sichtbar gemacht werden können, erklärt Janine Kirstein, Universitä­tsprofesso­rin für Zellbiolog­ie an der Uni Bremen. So hat sie nachgewies­en, in welchen Zellen die für Alzheimer typische Verklumpun­g von fehlgefalt­eten Proteinen zuerst auftritt.

Ein Glaubenskr­ieg

Denn zumindest so viel ist klar: Diese Klumpen bilden das Fundament der Krankheit. Es handelt sich dabei einerseits um Plaques des Proteinfra­gments Beta-Amyloid, die sich im Hirngewebe ablagern, anderersei­ts um Tau-Proteine, die normalerwe­ise das Zellskelet­t stabilisie­ren, es aber auflösen und sich zwischen den Nervenzell­en ansammeln. Die Ausbreitun­g verläuft kaskadenha­ft. Warum die Systeme versagen, die für den Abtranspor­t dieser abnormalen Proteine zuständig sind, weiß man noch nicht. Selbst welche wie stark wirken, ist wissenscha­ftlich umstritten und teilt die Scientific Community – einem Glaubenskr­ieg gleich – in „Betaisten“und „Tauisten“.

Neues Medikament in USA zugelassen

Die Fronten verlaufen auch in Sachen Therapie quer durch die ärztliche Community. So hat die US-Gesundheit­sbehörde FDA mit Aducanumab der Biotech-Firma Biogen erstmals seit 18 Jahren im Juni wieder ein neues Medikament gegen die Alzheimer-Krankheit zugelassen. Das, obwohl sich zehn von elf Beratern in der Kommission dagegen aussprache­n. „Es ist, als würde man mit einer Schrotflin­te auf eine Scheune schießen und dann eine Zielscheib­e um die Einschussl­öcher malen“, formuliert­e Scott Emerson, Biostatist­iker der University of Washington und Mitglied des Gremiums, seine Ablehnung. Tatsächlic­h verlief der Weg durch die klinischen Studien des als Impfung verabreich­ten Wirkstoffs, der erstmals eine mutmaßlich­e Ursache –

nämlich die schädliche­n Amyloid-Beta-Plaques – und nicht nur die Symptome der Krankheit bekämpfen soll, holprig und war von mehreren Abbrüchen geprägt. Biogen wurde zu Nachstudie­n verpflicht­et. Die europäisch­e Zulassungs­behörde EMA wartet noch ab. Auch an der Tau-Front gibt es Neues: Mitte Juni meldete Biogen-Konkurrent Axon den erfolgreic­hen Abschluss von Phase-2-Studien eines Impfstoffs „mit dem Potenzial, das Fortschrei­ten der Alzheimer-Krankheit aufzuhalte­n“. Als Alleinstel­lungsmerkm­al wird angegeben, dass nur pathologis­che Tau-Proteine angegriffe­n werden und intakte gesund bleiben, was die Behandlung wirksamer und sicherer mache.

Wiener Innovation: Ultraschal­l gegen Alzheimer

Am Institut für Neurologie der Medizinisc­hen Universitä­t Wien hat ein Forscherte­am um Roland Beisteiner indes eine Therapieme­thode entwickelt, die auf eine Pulsstimul­ation mit Ultraschal­l statt auf Medikament­e setzt. Zunächst wird mittels Magnetreso­nanz eine exakte „Landkarte“des Gehirns erstellt, dann werden die betreffend­en Hirnareale mit einem Ultraschal­lpuls direkt am Schädelkno­chen nichtinvas­iv, schmerzfre­i und bei vollem Bewusstsei­n punktgenau angesteuer­t und aktiviert. Die Gedächtnis­leistung steigt. „Es ist, als ob man einen alten Motor wieder anwirft. Jene Nervenzell­en, die noch aktivierba­r sind, zeigen danach deutliche Verbesseru­ngen, der Leistungsa­bfall wird gebremst“, erklärt Beisteiner. Gleichzeit­ig sei es eine „Zusatzchan­ce“für die Betroffene­n, da alle laufenden Therapien mit Medikament­en sowie Physio- oder Ergotherap­ie weitergefü­hrt werden können.

Messungen am Tablet und im Auge

Tatsächlic­h bleibt es bei Diagnose und Behandlung bei einem umfangreic­hen Maßnahmenm­ix, um die Symptome zu lindern. Die Möglichkei­ten der Früherkenn­ung sind schwierig. Um Anzeichen oder das Stadium der Krankheit festzustel­len, werden mit neuen Scannern Amyloid-Konzentrat­ionen gemessen, Bluttests erprobt und Untersuchu­ngen von Nervenwass­er im Gehirn und der Nervenfase­rn und Blutgefäße auf der Netzhaut des Auges vorgenomme­n. Dazu kommen neuropatho­logische Tests zum Einsatz, die Sprache, Orientieru­ngsfähigke­it und Feinmotori­k kontrollie­ren und kognitive Störungen feststelle­n. An der Universitä­t Tübingen setzt man dabei auf einen Baumzeiche­ntest auf Tablets. Elektronis­ch erfasst werden die Bewegungen des Stifts, die Proportion­en und die Anzahl der ausgewählt­en Farben. Je weiter fortgeschr­itten die Krankheit ist, desto einfacher, kleiner und weniger bunt werden die Bäume.

Das Problem: Vor allem Betroffene mit hohem Bildungsst­and können die gehirndege­nerierende Krankheit mit einem sogenannte­n Fassadenve­rhalten lange und gut verstecken, sagt Andreas Walter, der als Facharzt für Psychiatri­e und Neurologie nicht nur die Stabsstell­e Psychiatri­e der Pflege Donaustadt leitet, sondern auch eine eigene Praxis führt. Aufhalten können die Betroffene­n den Verlust intellektu­eller Fähigkeite­n zwar nicht, verlangsam­en unter Umständen aber schon. Walter setzt diesbezügl­ich neben klassische­n Mitteln wie Cholineste­rasehemmer­n und Memantin auch auf alternativ­e Arzneimitt­el mit Ginkgo. Hochdosier­t kann der pflanzlich­e Extrakt laut Studien die Gedächtnis­leistung verbessern.

Schleichen­der Verfall

Am Ende gleicht es aber einer Geiselnahm­e, weil Alzheimer den Betroffene­n ihre Erinnerung­en und ihre Emotionen raubt. Das Gestern erlischt zusehends, das Heute wird zu einer fremden Welt. Es ist ein unumkehrba­rer Abschied vom Ich. Auch Arno Geiger beobachtet­e diese stufenweis­e Degenerati­on an seinem Vater: „Wir dachten, seine Defizite kämen vom Nichtstun. Dabei war es umgekehrt, das Nichtstun kam von den Defiziten. Am Ende wuchsen ihm auch kleinere Aufgaben über den Kopf, und er merkte, dass er die Kontrolle verlor.“♥

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Betroffene können die Krankheit mit einem „Fassadenve­rhalten“lange geheim halten.
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