CURE

Interview: „Wir haben eine Zwei-Klassen-Medizin!“

Er kam auf leisen Sneaker-Sohlen ins Amt und wird nun immer lauter: Sozial- und Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein. Er sieht sich als Mann der kurzen Wege – und will sich jetzt auf mehr als nur die Pandemie konzentrie­ren.

- Interview: Elisabeth Schneyder & Johannes Stühlinger

Er kam auf leisen Sneaker-Sohlen ins Amt und wird nun lauter: Sozial- und Gesundheit­sminister Mückstein will sich jetzt auf mehr als nur die Pandemie konzentrie­ren.

Vermutlich hat er irgendwo im geräumigen Büro ein Sakko herumliege­n. Doch Wolfgang Mückstein mag’s leger. Das weiße Hemd passt gut zum heißen Sommertag. Und es vermittelt – ob gewollt oder nicht – eine Botschaft, die da lautet: Sportlich. Lässig. Entspannt. Im Gespräch wird allerdings sofort deutlich: Der politische Quereinste­iger nimmt sein Amt als Bundesmini­ster für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumente­nschutz hochernst. Keine Antwort kommt locker oder gar blitzschne­ll. Jede wirkt überlegt, nur wenige scheinen vorab zurechtgel­egt. Ganz so, als müsse der 47-Jährige erst abwägen, ob nun der Arzt in ihm oder der Politiker, der er jetzt ist, antworten soll. Dass man „an Schrauben drehen“müsse, formuliert Mückstein gern und oft. Und im österreich­ischen Gesundheit­ssystem harren viele der Notwartung durch den neuen Chefmechan­iker.

Sie sind nun schon über 100 Tage im Amt. Was ist leichter: Arztberuf oder Politik?

Mückstein: Das ist schwer zu sagen. In der Politik ist für mich vieles neu. Gesichter. Eindrücke. Themen. Und die Taktung ist recht eng. Das ist freilich anstrengen­d – aber es macht Spaß. Inzwischen habe ich die ersten Runden im Parlament und im Bundesrat gedreht. Ich weiß, was ein Ausschuss ist (lacht), und ich hab meine Ministerko­lleginnen kennengele­rnt. Ich muss sagen, bis jetzt funktionie­rt alles gut.

Gibt es denn Parallelen zum Arztberuf?

Mückstein: Ja, das Zuhören. Das ist in der Politik ebenso wichtig.

Apropos zuhören: Ihr Vorgänger Rudolf Anschober war dafür bekannt, allen zuzuhören, alle einzubezie­hen. Jetzt sagen Sie von sich, ein Mann „der kurzen Wege“sein zu wollen. Macht Sie das freier, oder führt das eher zu neuen Konflikten?

Mückstein: Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, stets im Gespräch zu bleiben. Die kurzen Wege sollen diesen Zugang eher unterstrei­chen: Ich bin gut erreichbar, ich hebe also in der Regel ab, wenn jemand anruft. Aber ich sitze nicht stundenlan­g in jeder Sitzung dabei. Da bekomme ich lieber eine Zusammenfa­ssung. Auch muss man sagen, dass das bei der großen Themenviel­falt gar nicht möglich wäre. Da hilft dann eben der Überblick. Und den suche ich.

Durch Ihren Wechsel in die Politik gibt es in Österreich jetzt noch einen Arzt weniger. Dabei ist der Ärztemange­l inzwischen ein echtes Problem. Was wollen Sie dagegen unternehme­n?

Mückstein: Stimmt, der Engpass bei Kassenärzt­en, bei Kinderärzt­en und Hausärzten ist groß. Das hat aus meiner Sicht mit den Bedingunge­n zu tun, unter denen vor allem die Kassenärzt­e arbeiten. Das beziehe ich jetzt gar nicht auf das jeweilige Honorar.

Einen Kassenvert­rag anzunehmen passt einfach oft nicht mehr ins Lebenskonz­ept von jungen Ärztinnen und Ärzten. Gerade auf dem Land bedeutet das meist einen 60-Stunden-Job. Junge Ärztinnen und Ärzte wollen aber die Möglichkei­t haben, Teilzeit zu arbeiten oder in einem Team. Diese Flexibilit­ät kann die aktuelle Situation oft nicht bieten, und somit wird der Berufsstan­d immer weniger attraktiv. Daher glaube ich, dass der Zusammensc­hluss von mehreren Ärztinnen und Ärzten grundsätzl­ich ein Modell ist, das Sinn ergibt. Weil man sich dann vertreten lassen oder in Teilzeit arbeiten kann. Inzwischen haben Ärztinnen und Ärzte wenigsten auch die Möglichkei­t, Kolleginne­n und Kollegen anzustelle­n. Solche Schritte helfen aus meiner Sicht, den Beruf wieder interessan­ter zu machen.

Aber geht die Idee vom Hausarzt, der seine Patienten kennt, nicht verloren, wenn Ärzte eine Zeitlang da und dann wieder anderswo angestellt sind?

Mückstein: Überhaupt nicht! Als ich noch im Primärvers­orgungszen­trum gearbeitet habe, waren wir zehn Ärzte, und ich habe meine Patientinn­en und Patienten gehabt, die eben zu meinen Arbeitszei­ten zu mir gekommen sind. Ich hatte meine Ordination­szeiten, genauso wie ein Arzt in der Einzelordi­nation. Weil ich aber nicht mehr als 20 Stunden ordiniert habe, mussten sich die Leute eben über

„Das Zuhören ist in der Politik ebenso wichtig wie im Arztberuf.“

legen, wann sie kommen. Darüber hinaus hat immer noch ein Kollege 30 Stunden abgedeckt. So konnten wir das ganze Jahr über offen haben. Aber das erfordert natürlich, dass sich der Patient und die Patientin darüber informiert, wann der Wunscharzt in der Praxis ist. Ich kann nicht erwarten, dass ,mein‘ Arzt jede Woche 50 Stunden im Einsatz ist, trotzdem gibt es persönlich­e Betreuung. Klar ist aber auch: Wenn jemand einen Schnupfen hat, ist es ihm meist egal, welcher Arzt ihn krankschre­ibt …

Gut. Aber das löst das Problem des Ärztemange­ls auch noch nicht wirklich. Was wollen Sie dahingehen­d unternehme­n?

Mückstein: Über den Wiederaufb­au- und Resilienzf­onds der EU haben wir nun 100 Millionen Euro für den Ausbau der Primärvers­orgung zugesagt bekommen. Bis Ende des Jahres werden wir die dafür notwendige­n Bedingunge­n schaffen. Wir werden uns ansehen, wie die Primärvers­orgung im Allgemeine­n und die Primärvers­orgungszen­tren im Speziellen ideal unterstütz­t werden sollen. Welche Elemente wie gefördert werden müssen. Damit wollen wir konkret Modelle schaffen, die den Beruf des Kassenarzt­es für junge Menschen wieder interessan­t machen.

Bedenkt man, dass wir 2020 und heuer jeweils fast 18.000 Anmeldunge­n für den Aufnahmete­st zum Medizinstu­dium hatten, aber in Wien, Graz und Innsbruck insgesamt nur 1740 Studienplä­tze zur Verfügung stehen: Da müsste sich doch auch etwas ändern, oder?

Mückstein: Ja. Und ich kann mir eine moderate Erhöhung der Studienplä­tze auch durchaus vorstellen …

Können Sie sich vorstellen oder wollen Sie haben?

Mückstein: Es werden immer wieder 1000 Plätze mehr gefordert. Das ist aus meiner Sicht zu viel, das würde ich nicht wollen. Aber so 200 oder 300 Plätze mehr, also eine Steigerung um zehn Prozent, das wäre gut.

Viele Jungmedizi­ner zieht es in die Schweiz und nach Deutschlan­d, wo durch die Privatisie­rung des Medizinsys­tems mehr zu verdienen ist. Wie geht das hierzuland­e weiter?

Mückstein: Ich glaube, dass die knapp 2,5 Millionen Privatvers­icherten in Österreich schlichtwe­g einen Markt auslösen und es deswegen auch bei uns viele Privatärzt­e gibt. Weil Menschen manchmal das Gefühl haben, dass sie im Sozialvers­icherungss­ystem in Österreich nicht optimal betreut sind. Und das liegt gewiss unter anderem daran, dass etwa Wartezeite­n viel zu lang sind. So gibt es in Wien mehr Kinderärzt­e ohne Kassenvert­rag als mit. Ich glaube, dass es eine bedarfsori­entierte Versorgung geben muss. Und, ja, dieses Problem wird durch Wahlärzte und Privatärzt­e teilweise aufgefange­n. Auch weil sich das die Leute zunehmend leisten können.

Aber viele können sich’s eben nicht leisten. Und das macht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf. Mündet dies nicht in eine Zwei-Klassen-Medizin?

Mückstein: Ja. Ich glaube auch, dass wir eine Zwei-Klassen-Medizin haben. Das sehe ich auch so. Die Wartezeite­n für Hüftoperat­ionen oder Kniegelenk­soperation­en sind zu lang. Und ich weiß nicht, ob die Liste, die es da gibt, tatsächlic­h geeignet ist, diesen Rückstau jemals wieder abzubauen ...

Was wollen Sie dagegen unternehme­n?

Mückstein: Ich glaube nicht, dass man dieses Problem wird lösen können, indem wir das Kassensyst­em so attraktiv machen, dass es mit der Privatmedi­zin mithalten kann. Ich glaube eher, dass es relevant ist, für junge Ärztinnen und Ärzte neue Arbeitsbed­ingungen zu schaffen. Ich kenne zum Beispiel keinen Wahlarzt, der in einem multiprofe­ssionellen Team arbeitet. Das aber könnte man im Kassensyst­em sehr wohl gut realisiere­n und dieses etwa um solche Aspekte bereichern. Ich glaube auch, dass man definieren sollte, wo Spitalsamb­ulanzleist­ungen effiziente­r angeboten werden sollen. Viele Leistungen könnten viel einfacher in einer Niederlass­ung abgewickel­t werden.

Können Sie das umsetzen? Sie als Minister?

Mückstein: Nein. Ich kann das nur moderieren.

Moderieren wird in Sachen 24-Stunden-Pflege wohl nicht reichen. Das Thema kocht gerade über, Massenklag­en gegen den Staat stehen im Raum. Wie wollen Sie diesen begegnen?

Mückstein: Die allermeist­en Pflegekräf­te bieten ihre Leistungen als Selbststän­dige über Agenturen an. Dabei gibt es aber offenbar ein Problem in der Qualitätss­icherung. Deshalb gibt es jetzt die Möglichkei­t für diese Agenturen, sich selbst zu zertifizie­ren. Das machen auch schon einige. Wir müssen mit den beteiligte­n Stakeholde­rn in den Ländern reden, die einen Großteil der Pflege finanziere­n, wie wir weiter verfahren. Und, ja, vielleicht wird die Sache eingeklagt. Das kann passieren.

In Deutschlan­d ist es passiert, und es gibt auch ein Urteil, das besagt, dass es sich bei diesen Selbststän­digen um Scheinselb­stständige handelt, die eigentlich angestellt werden müssten …

Mückstein: Dieses Thema hat durch den Fall in Deutschlan­d natürlich auch bei uns Rückenwind bekommen. Das zeigt uns, wie wichtig dieses Thema ist. Der OGH hat festgehalt­en, dass man im Einzelfall prüfen muss, ob die Leistungen der 24-Stunden-Betreuerin­nen selbststän­dig oder eben unselbstst­ändig erbracht werden. Jedenfalls müssen wir hier an mehreren Schrauben drehen. Das beginnt schon bei der Ausbildung. Wie kann man die Ausbildung­en ausländisc­her Pflegekräf­te, die oft schon in Österreich leben, rasch anerkennen? Und zwar ohne einen Sog nach Österreich zu provoziere­n und anderen Ländern die Pflegekräf­te wegzunehme­n. Oder: Wir haben nicht einmal die fast 1000 Ausbilderi­nnen und Ausbilder, die wir bräuchten. Das heißt, da ist ein großer Reformstau vorhanden. Aber wir sind dabei und haben für die Angehörige­n, die zu Hause pflegen, mit den Community-Nurses nun ein Element geschaffen, das einen Teil entlastet.

„200 oder 300 Studienplä­tze mehr für Medizin, also eine Steigerung um zehn Prozent: Das wäre gut.“

Was machen diese Community-Nurses genau?

Mückstein: Sie kombiniere­n die Aspekte der medizinisc­hen und der sozialen Versorgung. So werden von ihnen zum Beispiel erst einmal alle Menschen im Alter von 75 Jahren gescreent, ob sie nicht Unterstütz­ung bräuchten. Etwa durch Essen auf Rädern, Hauskranke­npflege oder finanziell­e Unterstütz­ungsleistu­ngen. Dieses Projekt wurde nun auch von der EU mit 54 Millionen Euro gefördert. Das heißt, wir werden bis 2024 schon 150 Community-Nurses haben. Darauf sind wir stolz!

Die Pandemie hat uns vieles gelehrt. Vor allem hat sie auch das Gesundheit­swesen auf den Prüfstand und damit auf den Kopf gestellt. Welche Neuerungen werden oder sollen bleiben?

Mückstein: Wir haben sehr gut gesehen, dass sich das Thema Telemedizi­n, die E-Medikation sowie der elektronis­che Impfpass und sämtliche digitalen Bewilligun­gsservices bewährt haben. Diese Entwicklun­gen machen Sinn und sind nicht mehr aufzuhalte­n. Deshalb wundert es mich auch, dass die Sozialvers­icherung die elektronis­che und telefonisc­he Krankmeldu­ng wieder gestoppt hat. Das hatte sich etabliert. Und wenn ich den Patienten, die Patientin kenne, sehe ich kein Problem dabei. Ich glaube, man muss sich überlegen, wo und wie man bürokratis­che Hürden wie diese endgültig abbaut.

Man muss sich nur überlegen ...?

Mückstein: Na ja, die Sozialvers­icherung ist selbstverw­altet. Die Entscheidu­ng liegt dort, nicht bei mir. Aber ich kann CURE sagen, dass ich dafür bin. Und das mache ich.

Haben Sie das Gefühl, als Politiker umsetzen zu können, was Sie als Arzt für dringend nötig und richtig halten?

Mückstein: Ich glaube, dass wir im System aktuell viele unzufriede­ne Seiten haben. Die Patienten, die mit dem Kassensyst­em nicht mehr zufrieden sind. Die Ärztekamme­r ist mit der Situation nicht glücklich. Die Spitalsträ­ger sind nicht damit zufrieden, welche Leistungen in den niedergela­ssenen Bereich angeboten werden. Jetzt hat Andreas Huss (Obmann der Österreich­ischen Gesundheit­skasse, ÖGK, Anm.) vorgeschla­gen, dass man jedem Arzt einen Kassenvert­rag anbieten sollte. Ich bin gespannt, was die Kammer dazu sagt. Es wäre aber eine interessan­te Idee. Jedenfalls glaube ich, dass diese breitgefäc­herte Unzufriede­nheit ein Nährboden für Lösungen ist.

Aber versuchen Sie nun als Politiker konkret umzusetzen, was Sie sich als Arzt wünschen?

Mückstein: Ja. Zum Beispiel mit den Primärvers­orgungszen­tren. Das ist eine gute Idee. Hier wird uns auch etwas Gutes gelingen. ♥

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Abseits der Pandemie möchte sich Minister Wolfgang Mückstein des Ärztemange­ls, der Pflegeprob­lematik und der Primärvers­orgungszen­tren annehmen.
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