Interview: „Wir haben eine Zwei-Klassen-Medizin!“
Er kam auf leisen Sneaker-Sohlen ins Amt und wird nun immer lauter: Sozial- und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein. Er sieht sich als Mann der kurzen Wege – und will sich jetzt auf mehr als nur die Pandemie konzentrieren.
Er kam auf leisen Sneaker-Sohlen ins Amt und wird nun lauter: Sozial- und Gesundheitsminister Mückstein will sich jetzt auf mehr als nur die Pandemie konzentrieren.
Vermutlich hat er irgendwo im geräumigen Büro ein Sakko herumliegen. Doch Wolfgang Mückstein mag’s leger. Das weiße Hemd passt gut zum heißen Sommertag. Und es vermittelt – ob gewollt oder nicht – eine Botschaft, die da lautet: Sportlich. Lässig. Entspannt. Im Gespräch wird allerdings sofort deutlich: Der politische Quereinsteiger nimmt sein Amt als Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hochernst. Keine Antwort kommt locker oder gar blitzschnell. Jede wirkt überlegt, nur wenige scheinen vorab zurechtgelegt. Ganz so, als müsse der 47-Jährige erst abwägen, ob nun der Arzt in ihm oder der Politiker, der er jetzt ist, antworten soll. Dass man „an Schrauben drehen“müsse, formuliert Mückstein gern und oft. Und im österreichischen Gesundheitssystem harren viele der Notwartung durch den neuen Chefmechaniker.
Sie sind nun schon über 100 Tage im Amt. Was ist leichter: Arztberuf oder Politik?
Mückstein: Das ist schwer zu sagen. In der Politik ist für mich vieles neu. Gesichter. Eindrücke. Themen. Und die Taktung ist recht eng. Das ist freilich anstrengend – aber es macht Spaß. Inzwischen habe ich die ersten Runden im Parlament und im Bundesrat gedreht. Ich weiß, was ein Ausschuss ist (lacht), und ich hab meine Ministerkolleginnen kennengelernt. Ich muss sagen, bis jetzt funktioniert alles gut.
Gibt es denn Parallelen zum Arztberuf?
Mückstein: Ja, das Zuhören. Das ist in der Politik ebenso wichtig.
Apropos zuhören: Ihr Vorgänger Rudolf Anschober war dafür bekannt, allen zuzuhören, alle einzubeziehen. Jetzt sagen Sie von sich, ein Mann „der kurzen Wege“sein zu wollen. Macht Sie das freier, oder führt das eher zu neuen Konflikten?
Mückstein: Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, stets im Gespräch zu bleiben. Die kurzen Wege sollen diesen Zugang eher unterstreichen: Ich bin gut erreichbar, ich hebe also in der Regel ab, wenn jemand anruft. Aber ich sitze nicht stundenlang in jeder Sitzung dabei. Da bekomme ich lieber eine Zusammenfassung. Auch muss man sagen, dass das bei der großen Themenvielfalt gar nicht möglich wäre. Da hilft dann eben der Überblick. Und den suche ich.
Durch Ihren Wechsel in die Politik gibt es in Österreich jetzt noch einen Arzt weniger. Dabei ist der Ärztemangel inzwischen ein echtes Problem. Was wollen Sie dagegen unternehmen?
Mückstein: Stimmt, der Engpass bei Kassenärzten, bei Kinderärzten und Hausärzten ist groß. Das hat aus meiner Sicht mit den Bedingungen zu tun, unter denen vor allem die Kassenärzte arbeiten. Das beziehe ich jetzt gar nicht auf das jeweilige Honorar.
Einen Kassenvertrag anzunehmen passt einfach oft nicht mehr ins Lebenskonzept von jungen Ärztinnen und Ärzten. Gerade auf dem Land bedeutet das meist einen 60-Stunden-Job. Junge Ärztinnen und Ärzte wollen aber die Möglichkeit haben, Teilzeit zu arbeiten oder in einem Team. Diese Flexibilität kann die aktuelle Situation oft nicht bieten, und somit wird der Berufsstand immer weniger attraktiv. Daher glaube ich, dass der Zusammenschluss von mehreren Ärztinnen und Ärzten grundsätzlich ein Modell ist, das Sinn ergibt. Weil man sich dann vertreten lassen oder in Teilzeit arbeiten kann. Inzwischen haben Ärztinnen und Ärzte wenigsten auch die Möglichkeit, Kolleginnen und Kollegen anzustellen. Solche Schritte helfen aus meiner Sicht, den Beruf wieder interessanter zu machen.
Aber geht die Idee vom Hausarzt, der seine Patienten kennt, nicht verloren, wenn Ärzte eine Zeitlang da und dann wieder anderswo angestellt sind?
Mückstein: Überhaupt nicht! Als ich noch im Primärversorgungszentrum gearbeitet habe, waren wir zehn Ärzte, und ich habe meine Patientinnen und Patienten gehabt, die eben zu meinen Arbeitszeiten zu mir gekommen sind. Ich hatte meine Ordinationszeiten, genauso wie ein Arzt in der Einzelordination. Weil ich aber nicht mehr als 20 Stunden ordiniert habe, mussten sich die Leute eben über
„Das Zuhören ist in der Politik ebenso wichtig wie im Arztberuf.“
legen, wann sie kommen. Darüber hinaus hat immer noch ein Kollege 30 Stunden abgedeckt. So konnten wir das ganze Jahr über offen haben. Aber das erfordert natürlich, dass sich der Patient und die Patientin darüber informiert, wann der Wunscharzt in der Praxis ist. Ich kann nicht erwarten, dass ,mein‘ Arzt jede Woche 50 Stunden im Einsatz ist, trotzdem gibt es persönliche Betreuung. Klar ist aber auch: Wenn jemand einen Schnupfen hat, ist es ihm meist egal, welcher Arzt ihn krankschreibt …
Gut. Aber das löst das Problem des Ärztemangels auch noch nicht wirklich. Was wollen Sie dahingehend unternehmen?
Mückstein: Über den Wiederaufbau- und Resilienzfonds der EU haben wir nun 100 Millionen Euro für den Ausbau der Primärversorgung zugesagt bekommen. Bis Ende des Jahres werden wir die dafür notwendigen Bedingungen schaffen. Wir werden uns ansehen, wie die Primärversorgung im Allgemeinen und die Primärversorgungszentren im Speziellen ideal unterstützt werden sollen. Welche Elemente wie gefördert werden müssen. Damit wollen wir konkret Modelle schaffen, die den Beruf des Kassenarztes für junge Menschen wieder interessant machen.
Bedenkt man, dass wir 2020 und heuer jeweils fast 18.000 Anmeldungen für den Aufnahmetest zum Medizinstudium hatten, aber in Wien, Graz und Innsbruck insgesamt nur 1740 Studienplätze zur Verfügung stehen: Da müsste sich doch auch etwas ändern, oder?
Mückstein: Ja. Und ich kann mir eine moderate Erhöhung der Studienplätze auch durchaus vorstellen …
Können Sie sich vorstellen oder wollen Sie haben?
Mückstein: Es werden immer wieder 1000 Plätze mehr gefordert. Das ist aus meiner Sicht zu viel, das würde ich nicht wollen. Aber so 200 oder 300 Plätze mehr, also eine Steigerung um zehn Prozent, das wäre gut.
Viele Jungmediziner zieht es in die Schweiz und nach Deutschland, wo durch die Privatisierung des Medizinsystems mehr zu verdienen ist. Wie geht das hierzulande weiter?
Mückstein: Ich glaube, dass die knapp 2,5 Millionen Privatversicherten in Österreich schlichtweg einen Markt auslösen und es deswegen auch bei uns viele Privatärzte gibt. Weil Menschen manchmal das Gefühl haben, dass sie im Sozialversicherungssystem in Österreich nicht optimal betreut sind. Und das liegt gewiss unter anderem daran, dass etwa Wartezeiten viel zu lang sind. So gibt es in Wien mehr Kinderärzte ohne Kassenvertrag als mit. Ich glaube, dass es eine bedarfsorientierte Versorgung geben muss. Und, ja, dieses Problem wird durch Wahlärzte und Privatärzte teilweise aufgefangen. Auch weil sich das die Leute zunehmend leisten können.
Aber viele können sich’s eben nicht leisten. Und das macht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf. Mündet dies nicht in eine Zwei-Klassen-Medizin?
Mückstein: Ja. Ich glaube auch, dass wir eine Zwei-Klassen-Medizin haben. Das sehe ich auch so. Die Wartezeiten für Hüftoperationen oder Kniegelenksoperationen sind zu lang. Und ich weiß nicht, ob die Liste, die es da gibt, tatsächlich geeignet ist, diesen Rückstau jemals wieder abzubauen ...
Was wollen Sie dagegen unternehmen?
Mückstein: Ich glaube nicht, dass man dieses Problem wird lösen können, indem wir das Kassensystem so attraktiv machen, dass es mit der Privatmedizin mithalten kann. Ich glaube eher, dass es relevant ist, für junge Ärztinnen und Ärzte neue Arbeitsbedingungen zu schaffen. Ich kenne zum Beispiel keinen Wahlarzt, der in einem multiprofessionellen Team arbeitet. Das aber könnte man im Kassensystem sehr wohl gut realisieren und dieses etwa um solche Aspekte bereichern. Ich glaube auch, dass man definieren sollte, wo Spitalsambulanzleistungen effizienter angeboten werden sollen. Viele Leistungen könnten viel einfacher in einer Niederlassung abgewickelt werden.
Können Sie das umsetzen? Sie als Minister?
Mückstein: Nein. Ich kann das nur moderieren.
Moderieren wird in Sachen 24-Stunden-Pflege wohl nicht reichen. Das Thema kocht gerade über, Massenklagen gegen den Staat stehen im Raum. Wie wollen Sie diesen begegnen?
Mückstein: Die allermeisten Pflegekräfte bieten ihre Leistungen als Selbstständige über Agenturen an. Dabei gibt es aber offenbar ein Problem in der Qualitätssicherung. Deshalb gibt es jetzt die Möglichkeit für diese Agenturen, sich selbst zu zertifizieren. Das machen auch schon einige. Wir müssen mit den beteiligten Stakeholdern in den Ländern reden, die einen Großteil der Pflege finanzieren, wie wir weiter verfahren. Und, ja, vielleicht wird die Sache eingeklagt. Das kann passieren.
In Deutschland ist es passiert, und es gibt auch ein Urteil, das besagt, dass es sich bei diesen Selbstständigen um Scheinselbstständige handelt, die eigentlich angestellt werden müssten …
Mückstein: Dieses Thema hat durch den Fall in Deutschland natürlich auch bei uns Rückenwind bekommen. Das zeigt uns, wie wichtig dieses Thema ist. Der OGH hat festgehalten, dass man im Einzelfall prüfen muss, ob die Leistungen der 24-Stunden-Betreuerinnen selbstständig oder eben unselbstständig erbracht werden. Jedenfalls müssen wir hier an mehreren Schrauben drehen. Das beginnt schon bei der Ausbildung. Wie kann man die Ausbildungen ausländischer Pflegekräfte, die oft schon in Österreich leben, rasch anerkennen? Und zwar ohne einen Sog nach Österreich zu provozieren und anderen Ländern die Pflegekräfte wegzunehmen. Oder: Wir haben nicht einmal die fast 1000 Ausbilderinnen und Ausbilder, die wir bräuchten. Das heißt, da ist ein großer Reformstau vorhanden. Aber wir sind dabei und haben für die Angehörigen, die zu Hause pflegen, mit den Community-Nurses nun ein Element geschaffen, das einen Teil entlastet.
„200 oder 300 Studienplätze mehr für Medizin, also eine Steigerung um zehn Prozent: Das wäre gut.“
Was machen diese Community-Nurses genau?
Mückstein: Sie kombinieren die Aspekte der medizinischen und der sozialen Versorgung. So werden von ihnen zum Beispiel erst einmal alle Menschen im Alter von 75 Jahren gescreent, ob sie nicht Unterstützung bräuchten. Etwa durch Essen auf Rädern, Hauskrankenpflege oder finanzielle Unterstützungsleistungen. Dieses Projekt wurde nun auch von der EU mit 54 Millionen Euro gefördert. Das heißt, wir werden bis 2024 schon 150 Community-Nurses haben. Darauf sind wir stolz!
Die Pandemie hat uns vieles gelehrt. Vor allem hat sie auch das Gesundheitswesen auf den Prüfstand und damit auf den Kopf gestellt. Welche Neuerungen werden oder sollen bleiben?
Mückstein: Wir haben sehr gut gesehen, dass sich das Thema Telemedizin, die E-Medikation sowie der elektronische Impfpass und sämtliche digitalen Bewilligungsservices bewährt haben. Diese Entwicklungen machen Sinn und sind nicht mehr aufzuhalten. Deshalb wundert es mich auch, dass die Sozialversicherung die elektronische und telefonische Krankmeldung wieder gestoppt hat. Das hatte sich etabliert. Und wenn ich den Patienten, die Patientin kenne, sehe ich kein Problem dabei. Ich glaube, man muss sich überlegen, wo und wie man bürokratische Hürden wie diese endgültig abbaut.
Man muss sich nur überlegen ...?
Mückstein: Na ja, die Sozialversicherung ist selbstverwaltet. Die Entscheidung liegt dort, nicht bei mir. Aber ich kann CURE sagen, dass ich dafür bin. Und das mache ich.
Haben Sie das Gefühl, als Politiker umsetzen zu können, was Sie als Arzt für dringend nötig und richtig halten?
Mückstein: Ich glaube, dass wir im System aktuell viele unzufriedene Seiten haben. Die Patienten, die mit dem Kassensystem nicht mehr zufrieden sind. Die Ärztekammer ist mit der Situation nicht glücklich. Die Spitalsträger sind nicht damit zufrieden, welche Leistungen in den niedergelassenen Bereich angeboten werden. Jetzt hat Andreas Huss (Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse, ÖGK, Anm.) vorgeschlagen, dass man jedem Arzt einen Kassenvertrag anbieten sollte. Ich bin gespannt, was die Kammer dazu sagt. Es wäre aber eine interessante Idee. Jedenfalls glaube ich, dass diese breitgefächerte Unzufriedenheit ein Nährboden für Lösungen ist.
Aber versuchen Sie nun als Politiker konkret umzusetzen, was Sie sich als Arzt wünschen?
Mückstein: Ja. Zum Beispiel mit den Primärversorgungszentren. Das ist eine gute Idee. Hier wird uns auch etwas Gutes gelingen. ♥