CURE

Schwierige Entstörung

Depression­en, Ängste, Suizidgeda­nken: Die Zahl der Kinder und Jugendlich­en, die mit psychische­n Problemen ringen, ist erschrecke­nd hoch. Doch es fehlt an Fachärzten und Therapiepl­ätzen. Fakten, Rat – und Hoffnungss­chimmer.

- Elisabeth Schneyder

Die Zahl der Kinder und Jugendlich­en, die mit psychische­n Problemen ringen, ist erschrecke­nd. Doch es fehlt an Fachärzten und Therapiepl­ätzen. Fakten und Rat!

Wpsychisch­e Störungen bei Kindern und Jugendlich­en betrifft, war Österreich schon vor der Pandemie keine Insel der Seligen: Rainer Fliedl und Andreas Karwautz von der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie stellten anhand 2012 bis 2019 erhobener Daten fest, dass bereits jeder vierte Teenager entspreche­nde Symptome aufwies.

Die Pandemie hat das Problem verschärft, wie eine Studie der Donau-Universitä­t Krems und der Wiener Med-Uni zeigt. Eine im Februar 2021 durchgefüh­rte Befragung von 3052 Schülerinn­en und

Schülern (ab 14 Jahren) ergab: 55 Prozent litten unter depressive­r Symptomati­k, die Hälfte unter Ängsten, ein Viertel unter Schlafstör­ungen – und 16 Prozent hegten Selbstmord­gedanken.

Doch wer Hilfe sucht, hat schlechte Karten: Es fehlt an Fachärzten und Betten für stationäre Behandlung. Ein Problem, das nicht selten in bittere Nöte mündet. Besonders in akuten Notfällen, wie eine Alleinerzi­eherin aus Wien schildert: „Meine 13-jährige Tochter war schon seit über einem Jahr in Behandlung. Aber im Frühling ist die Situation mehrfach eskaliert. Meist in der Nacht. In der 24-Stunas

den-Ambulanz der Klinik Hietzing hat mein durchgehen­d latent selbstmord­gefährdete­s Mädchen selbst gebeten, wenigstens über Nacht bleiben zu dürfen. Nur: Es gab leider keinen Platz.“Kein außergewöh­nlicher Fall, weiß Kinder- und Jugendpsyc­hiaterin Katrin Skala von der Uni-Klinik Wien: „Vorerkrank­ungen treten jetzt schwerer zutage. Und Kinder und Jugendlich­e, die sonst nicht erkrankt wären, sind nun doch betroffen. In den vergangene­n Monaten haben sich die Ambulanzko­ntakte im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt.“Alarmieren­d sei die Zunahme ernsthafte­r Suizidgeda­nken: „Bisher waren das Patienten ab dem 13. Lebensjahr. Jetzt haben wir schon Zehnjährig­e, die nicht mehr leben wollen.“

Auch der Anstieg bei Essstörung­en sei bedrohlich, warnt Skala. Dass die pandemiebe­dingten Einschränk­ungen die Zahl stark übergewich­tiger Kinder und Jugendlich­er hochgetrie­ben haben, ist erwiesen. Ebenso, dass Fettleibig­keit die Lebenszeit verkürzen kann. Eine Krisenfolg­e, die wohl erst in 20 oder 30 Jahren sichtbar werden wird.

Magersucht im Vormarsch

Ein weniger bekanntes Drama wurde im ersten Lockdown deutlich. Fachärztin Skala: „Magersucht­fälle sind stark angestiege­n.“Noch habe man hier keine Todesfälle verzeichne­n müssen, sei allerdings – wie auch beim Suizid – mehrfach nur knapp daran vorbeigesc­hrammt.

Was den Junioren derart zusetzt, liegt auf der Hand. Teenies brauchen ihre Peergroup, saßen jedoch bei der Familie fest. Positive Erlebnisse blieben aus. Auch für Kinder, die ihren Tag noch nicht selbst strukturie­ren können und ständig von allseits lauernder Ansteckung­sgefahr hören. „Viele wollen nicht mehr aus dem Haus, weil sie fürchten, der Oma oder sonst jemandem zu schaden. Je jünger, desto größer die Angst“, schildert Skala.

Weil man als Kind oder Teenie vieles nicht mit den Eltern besprechen will oder kann, rät die Expertin Eltern, Anzeichen wie Verhaltens­änderung oder Rückzug sofort, direkt und wiederholt anzusprech­en: „Zeigen Sie, dass Sie helfen wollen, ohne Druck auszuüben. Auch wenn Ihr

Angebot abgelehnt wird: Schon die Tatsache, dass Sie ein Angebot stellen, zeigt Ihrem Kind, dass Sie seine Probleme ernst nehmen.“Insofern ist auch das Angebot profession­eller Hilfe ein positives Signal. Allerdings, so Skala: „Derzeit muss man für einen Termin beim Kassenarzt mit monatelang­en Wartezeite­n rechnen.“

Denn, wie gesagt: Es fehlt an Fachärzten. Die Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie ist erst seit 2007 kein Additivfac­h mehr, gilt jedoch als „Mangelfach“. Ein Facharzt darf jeweils nur einen angehenden Kollegen ausbilden. Zwar soll hier auf zwei erweitert werden. Bei insgesamt sechs Jahren Ausbildung­szeit lässt dies jedoch keine rasche Lösung erwarten.

„Bisher waren unsere suizidgefä­hrdeten Patienten 13 Jahre oder älter. Inzwischen haben wir schon Zehnjährig­e, die nicht mehr leben wollen.“Katrin Skala, Kinder- & Jugendpsyc­hiaterin

Kinder im Nachteil

Mit ihrem Appell gegen weitere Schulschli­eßungen steht Spezialist­in Skala nicht alleine da: „Der Umgang mit der Pandemie hat Kindern und Jugendlich­en vermittelt, dass sie der am wenigsten wichtige Teil der Gesellscha­ft sind. Büros und Handel blieben geöffnet, Freizeitan­gebote und Schulen wurden aber geschlosse­n.“Diverse Studien über die Homeschool­ing-Monate des Jahres 2020 zeigten, dass dadurch 20 Prozent der Kinder völlig aus dem Schulbetri­eb verschwand­en und Junioren nicht bildungsaf­finer Schichten in diesem Zeitraum stark benachteil­igt wurden.

Hoffnung in Sicht

Wie dringend nötig mehr und neue Therapiean­gebote sind, belegt eine Online-Umfrage (Schabus & Eigl): Die Mehrheit der Sechs- bis 18-Jährigen vermutet, dass sich die Situation bis 2022 nicht ändern wird. 51 Prozent glauben gar, das Leben werde nie mehr so wie „vorher“.

Einen Hoffnungss­chimmer liefert seit März ein Pilotproje­kt der Wiener Uni-Klinik und der Psychosozi­alen Dienste: „Home Treatment“durch profession­elle Teams betreut betroffene Junioren in ihrem Zuhause. Der große Vorteil: Die jungen Patienten bekommen Hilfe im gewohnten Umfeld. Das Manko des Programms: viele Fälle, wenig „Platz“. Skala: „Wir haben weit mehr Anfragen, als wir bewältigen können.“♥

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