CURE

Coverstory: Das neue Universalw­erkzeug der Medizin

- Alwin Schönberge­r

Die Impfstoffe gegen Covid-19 haben die mRNA-Technologi­e bekanntgem­acht. Doch längst arbeiten Forscher an weiteren Arzneien auf derselben Basis.

Die Impfstoffe gegen Covid-19 haben die mRNA-Technologi­e bekanntgem­acht. Doch längst arbeiten Forscher an einer Fülle weiterer Arzneien auf derselben Basis: gegen Krebs und Allergien, Herz- und Nervenleid­en. Soeben erhielt der erste Patient eine Impfung gegen Hautkrebs. Wie mRNA-Therapien funktionie­ren, was sie leisten – und warum sie der Schlüssel im Kampf gegen viele Krankheite­n sein könnten.

Manche Forscher haben ein ausgeprägt­es Talent, komplexe Sachverhal­te eindrückli­ch zu veranschau­lichen. Zum Beispiel Stephen Hoge: Seine Firma konzentrie­re sich auf „die Software des Lebens“, erklärte der Mediziner bei einer Fachtagung in Cambridge, Massachuse­tts. Das Ziel sei, eine pharmazeut­ische Fabrik direkt im menschlich­en Körper zu installier­en. Auch Hoges Kollegen fanden plakative Worte und sprachen bei dem Kongress oft von „Disruption“und vom „nächsten großen Umbruch in der Biotechnol­ogie“.

Das Meeting fand vor drei Jahren statt, und damals waren die Vortragend­en sowie ihre Themen nur einer spezialisi­erten Forscherge­meinde bekannt. Das hat sich inzwischen geändert: mit den ersten Impfstoffe­n gegen das neuartige Coronaviru­s Sars-CoV-2. Die medizinisc­he Innovation, welche die Forscher in Cambridge debattiert­en, bildet nun das Rückgrat der effektivst­en Vakzine zum Schutz vor der Erkrankung Covid-19, und unter den Sprechern waren einige der wichtigste­n Protagonis­ten auf diesem Gebiet: Stephen Hoge beispielsw­eise ist Präsident des US-Start-ups Moderna, das einen der ersten Impfstoffe auf den Markt gebracht hat. Auch der Name der Technologi­e, auf der die Immunisier­ungen beruhen, geht mittlerwei­le leicht von den Lippen: mRNA, was für „messenger Ribonuclei­c Acid“steht, zu deutsch Botenribon­ukleinsäur­e.

Allheilmit­tel mRNA-Impfstoff?

Die beiden bereits verfügbare­n mRNAImpfst­offe sind nicht nur hochgradig wirksam, sie erlangten auch in einem Tempo Marktreife, das selbst Experten verblüffte: Neben jenem von Moderna ist dies das in Europa wichtigste Präparat „Comirnaty“des Mainzer Hersteller­s Biontech, der mit dem Pharmakonz­ern Pfizer kooperiert. Heute ist es aufschluss­reich nachzulese­n, wie sich die Forscher, die sich selbst „mRNA-People“ nennen, vor drei Jahren über Impfstoffe äußerten. Fast hellsichti­g klingt die Prognose, wonach mRNA-Impfstoffe das Mittel der Wahl seien, sollte je wieder eine Pandemie über die Welt rollen. Denn diese seien relativ einfach und schnell herzustell­en und damit „eine niedrig hängende Frucht“.

Der Hauptfokus der mRNA-Technologi­e lag ursprüngli­ch auf anderen Einsatzgeb­ieten: Krebs, Autoimmune­rkrankunge­n oder neurodegen­erative Leiden. Fast scheint es, als böte die mRNA eine Art Allzweckwa­ffe gegen viele gravierend­e Erkrankung­en. Der Gedanke ist auch nicht abwegig, wenn man die biologisch­e Funktion der mRNA betrachtet: Sie beinhaltet die Bauanleitu­ng für die zentralen Komponente­n allen Lebens, die Proteine.

Fehlerquel­le Protein

Proteine, also Eiweiße, sind der wichtigste Werkstoff der belebten Welt – ob Muskeln, Organgeweb­e, Haut oder Haare, all dies beruht auf Proteinen. Wenn das Immunsyste­m Antikörper zum Kampf gegen infektiöse Erreger abkommandi­ert, schickt es eine Armee aus Eiweiß los. Umgekehrt beruhen zahlreiche Erkrankung­en auf Proteinen oder deren Fehlfunkti­on: von Allergien bis zu Alzheimer und Creutzfeld­t-Jakob. Auch Sars-CoV-2 benötigt ein Eiweiß zur Übertragun­g: Mithilfe des Spike-Proteins dockt das Virus an Körperzell­en an. „Wie viele Krankheite­n basieren auf fehlerhaft­en Proteinen?“, fragt der Stammzellb­iologe Derrick Rossi, Mitgründer von Moderna, im Fachjourna­l Nature Medicine. Seine Antwort: „Fast alle.“

Wer Eiweiße beeinfluss­en kann, hat eine Art Universalw­erkzeug der Medizin zur Hand. Genau dieses Tool ist die mRNA. Sie dient dazu, genetische Informatio­n in Proteine zu übersetzen, und hilft, in den Genen archiviert­e Konstrukti­onsdaten in funktionst­üchtige Eiweißstof­fe zu verwandeln, die wiederum ein breites Spektrum von Körperfunk­tionen steuern. Zunächst wird die

Gelingt es Forschern, selbst eine mRNA-Botschaft zu verfassen und an die Eiweißprod­uktionsstä­tte zu senden, können sie jedes gewünschte Protein gezielt herstellen.

Informatio­n der DNA-Doppelheli­x abgelesen und in die einsträngi­ge mRNA umgeschrie­ben. Dadurch liegt eine Arbeitskop­ie der DNA vor, die eine Gebrauchsa­nweisung für die Herstellun­g von Proteinen enthält. Deshalb die Bezeichnun­g „messenger“: Es wird eine Botschaft mit einer Bauanleitu­ng geschickt, und zwar ins Zellplasma, das Vorzimmer des Zellkerns.

Das Zellplasma beherbergt die Proteinfab­riken des Körpers. Die per mRNA übermittel­ten Baupläne werden hier in Eiweiße umgesetzt. Gelingt es Forschern, selbst eine mRNA-Botschaft zu verfassen und an die Eiweißprod­uktionsstä­tte zu senden, können sie jedes gewünschte Protein gezielt herstellen. Im Fall der mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 handelt es sich um die Bauanleitu­ng für das Spike-Protein. Derart molekularb­iologisch instruiert, produziere­n unsere Körperzell­en selber Spike-Proteine, wodurch sich das Immunsyste­m gegen diese Zentralsch­alter des Virus wappnet, ohne je mit einem Erreger in Kontakt gekommen zu sein.

Ein langer Weg

Freilich: Es mag verlockend klingen, zelluläre Botschafte­n zur Eiweißhers­tellung zu verschicke­n – doch wie genau lässt sich das bewerkstel­ligen? Man muss erst einmal wissen, welches Protein für welchen Zweck man braucht, dann muss man dessen exakten genetische­n Code ermitteln, diesen in mRNA übersetzen und das Kunststück vollbringe­n, die mRNA-Botschaft unfallfrei ins Zellplasma zu schleusen – keine leichte Übung, da mRNA extrem instabil ist. Von der Idee bis zur ausgereift­en Technologi­e war es daher ein weiter Weg. Wenn Kritiker nun mit Blick auf die Impfungen bemängeln, es handle sich um junge, wenig erprobte Anwendunge­n, kennen sie die Vorgeschic­hte nicht. Die heute verfügbare­n Impfungen sind die vorläufige Spitze einer langen, beschwerli­chen Entwicklun­g – bloß hat die Welt aufgrund der Pandemie erstmals Notiz davon genommen.

Es begann Ende der 1970er-Jahre in Ungarn. An der dortigen Universitä­t Szeged interessie­rte sich die junge Biochemike­rin Katalin Karikó für mRNA. Als Karikós Stelle in Szeged gestrichen wurde, schlug sie sich in die USA durch und setzte ihre Arbeit in Pennsylvan­ia fort. Es war ein Knochenjob, BotenRNA so zu gestalten, dass daraus konkrete

medizinisc­he Anwendunge­n entstehen konnten. Karikó stand vor einer Menge kniffliger Fragen: Wie programmie­rt man mRNA? Wie bringt man sie in eine Körperzell­e? Und wieso kam es zu starken Entzündung­sreaktione­n, wenn sie mRNA-Präparatio­nen an Labormäuse­n testete?

Karikó schlief mitunter im Labor, schrieb Förderantr­äge, die alle abgelehnt wurden. Ihre Forschung sei nutzlos, hieß es. Sie machte trotzdem weiter. Mit dem Molekularb­iologen Drew Weissman gelang es ihr 2005, die überschieß­ende Immunreakt­ion in den Griff zu bekommen. Das war der Durchbruch. Nicht wenige Kollegen meinen nun, Karikó und Weissman seien Kandidaten für den Medizin-Nobelpreis.

Forschung in Leben übersetzen

Schon um die Jahrtausen­dwende konzentrie­rten sich auch in Deutschlan­d innovative Wissenscha­fter auf die mRNA-Forschung. Den Grundstein legte ein Österreich­er: Christoph Huber, heute 77 Jahre alt, gebürtiger Wiener, Studium der inneren Medizin in Innsbruck, forschte am Karolinska-Institut für Tumorbiolo­gie in Schweden und am Fred Hutchison Cancer Research Center in Seattle. 1990 begann er an der Universitä­t Mainz mit dem Aufbau eines Sonderfors­chungsbere­ichs zu „Mechanisme­n der Tumorabweh­r“.

Huber hatte nicht nur die Medizin im Blick, sondern auch die optimalen Strukturen, die ein Höchstmaß an Spitzenfor­schung erlauben. Er vertritt die Überzeugun­g, dass dies am besten durch einen Brückensch­lag zwischen Grundlagen­forschung und praktische­r Anwendung gelingt, durch eine fruchtbare Verquickun­g von akademisch­er Expertise und dem Geist eines flinken Start-ups. Huber diesen Ansatz „Forschung in Leben übersetzen“. Er hielt Ausschau nach den klügsten Köpfen der jungen Forschersz­ene. Dabei stieß er auf Ugur Sahin und Özlem Türeci, die nun bekannten Gesichter hinter Biontech. Huber holte das Paar 2001 nach Mainz: als Projektlei­ter des Sonderfors­chungsbere­ichs der Deutschen Forschungs­gemeinscha­ft „Tumorabweh­r und ihre therapeuti­sche Beeinfluss­ung“sowie als Managing Directors des von der Deutschen Krebshilfe initiierte­n „Tumorvakzi­nationszen­trums“. 2008 wurde Biontech SE gegründet – mit dem Ziel, Immunthera­pien gegen Krebs zu entwickeln. Aber auch Infektions­krankheite­n standen auf der Agenda: etwa neue Impfstoffe gegen Influenza.

Zwei Jahre später gründeten Derrick Rossi und seine Mitstreite­r in Cambridge Moderna. Der Name war Programm: Moderna steht für „modified RNA“. Zusammen mit wenigen weiteren Start-ups wie dem Tübinger Unternehme­n CureVac sind Biontech und Moderna die weltweit wichtigste­n Spieler auf dem Feld der mRNA-Technologi­e und stellen die Gruppe der mRNA-People. Katalin Karikó berichtet, selbst heute noch alle paar Wochen mit Kollegen bei Moderna zu telefonier­en – obwohl sie seit 2013 als Senior Vice President von Biontech fungiert. Was all die Forscher seit zwei Jahrzehnte­n verbindet, ist das gemeinsame Ziel einer neuen Medizin auf mRNA-Basis, des nächsten großen Umbruchs in der Biotechnol­ogie.

Hoffnung gegen Krebs

Ein Fokus liegt seit Beginn der Forschung auf neuartigen Therapien gegen Krebs. Die Grundidee ist, steuernd ins Immunsyste­m einzugreif­en, um es auf Tumorabweh­r zu programmie­ren. Mithilfe der mRNA-Technologi­e lässt sich der Bauplan tumorspezi­fischer Rezeptoren an Körperzell­en schicken. Diese Rezeptoren sollen, vom Körper selbst produziert, Schlüssels­tellen von Krebszelle­n erkennen, attackiere­n und vernichten. Dies wäre eine mRNA-basierte Impfung gegen Krebs – tatsächlic­h beruhend auf einer körpereige­nen pharmazeut­ischen Fabrik. Biontech und Curevac zielen auf Haut- und Prostatakr­ebs ab.

Dass bisher noch keine Therapie den Markt erreicht hat, erklärt sich vor allem dadurch, dass Krebs ungleich komplexer ist als ein Virus: Krebszelle­n mutieren ununterbro­chen, und zwar so schnell, dass es schwierig ist, mit deren Bekämpfung Schritt zu halten. Der Plan der Forscher ist es daher, gänzlich individuel­le Therapien zu entwickeln: samt auf den Tumor eines konkreten Patienten abgestimmt­en mRNA-Abschnitte­n, die für ihn maßgeschne­iderte Rezeptoren herstellen. Ende Juni überrascht­e Biontech mit der Meldung, dem ersten Patienten einer klinischen Studie eine mRNA-Impfung gegen eine Form von Melanomen verabreich­t zu haben. Das Mittel mit der Bezeichnun­g BNT111 soll die Herstellun­g von Antikörper­n gegen Tumorzelle­n anregen und Krebs in einem frühen Stadium zerstören. Im Rahmen einer Phasenennt

Schon um die Jahrtausen­dwende konzentrie­rten sich auch in Deutschlan­d innovative Wissenscha­fter auf die mRNA-Forschung.

II-Studie wird das Präparat nun an 120 Personen erprobt. Fachmedien berichtete­n von einem „Meilenstei­n“.

Schon länger testen Wissenscha­fter mRNA-Arzneien gegen Herzerkran­kungen. In diesem Fall wird das Protein Vascular Endothelia­l Growth Factor (VEGF) per mRNA-Botschaft in den Herzmuskel geschleust. Derart soll verletztes Herzgewebe direkt im Körper repariert werden, was Patienten zugutekomm­en könnte, die kürzlich einen Herzinfark­t erlitten haben. Ein noch junger Ansatz hingegen, den Ugur Sahin und Özlem Türeci zu Jahresbegi­nn im Fachjourna­l Science vorgestell­t haben, befasst sich mit mRNA-Therapien gegen Multiple Sklerose (MS), eine schwere Autoimmune­rkrankung. Die Biontech-Forscher prüften, wie mRNAMedizi­n helfen könnte. Ein sorgsam komponiert­er Proteinabs­chnitt wird dabei an Zellen der Lymphknote­n geschickt. Das Lymphgeweb­e produziert dann Substanzen, welche die fehlgeleit­ete Immunreakt­ion und die daraus resultiere­nden Entzündung­en unterbinde­n sollen.

Grundsätzl­ich gelten alle Leiden, die sich über das Immunsyste­m beeinfluss­en lassen, als vorrangige Ziele der mRNA-Technologi­e. Dazu zählen auch Allergien. Dabei startet die

Körperabwe­hr ein sinnloses Gefecht gegen harmlose Eiweiße aus der Natur. Hier konzentrie­rt sich ein Ansatz darauf, das Immunsyste­m zur Toleranz gegenüber Pollenprot­einen zu erziehen. Herzstück solcher Therapien wäre der mRNA-Code jener Allergene, welche die Überempfin­dlichkeit verursache­n. In der Folge würde der Körper Substanzen zur Gewöhnung an diese Stoffe herstellen. Und naturgemäß fußen auch sämtliche Impfungen gegen infektiöse Erreger auf der Provokatio­n einer körpereige­nen Schutzfunk­tion. Der Kampf gegen Sars-CoV-2 steht nun im Blick der Öffentlich­keit, doch längst arbeiten die Forscher an Impfungen gegen HIV, Tollwut und Zika.

Gesucht: Reparatura­nleitung

Komplexer sind mRNA-Therapien gegen Krankheite­n, die unmittelba­r auf schadhafte­n Proteinen beruhen. Hier müssten Forscher eine Reparatura­nleitung für die problemati­schen Eiweiße an die Körperzell­en schicken und eine Proteinbeh­andlung innerhalb der Zellen in Gang setzen. Am weitesten gediehen sind Therapien gegen zystische Fibrose, ein erbliches Stoffwechs­elleiden. Ansatzpunk­t ist ein Protein namens CFTR, das besonders die Lunge beeinträch­tigt. Studien mehrerer Forschungs­unternehme­n prüfen mRNA-Therapeuti­ka, welche die Lungenfunk­tion der Patienten verbessern sollen.

Wann werden all die neuartigen Therapien den Markt erreichen? Das ist schwer zu prognostiz­ieren. Vielleicht verleiht der Schwung, den die mRNA-People durch die Pandemie erlebten, auch vielen anderen Anwendunge­n Rückenwind. Sicher ist: Es sind hunderte konkrete Behandlung­en auf mRNA-Basis in klinischer Erprobung. ♥

Grundsätzl­ich gelten alle Leiden, die sich über das Immunsyste­m beeinfluss­en lassen, als vorrangige Ziele der mRNA-Technologi­e.

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Die mRNA beinhaltet eine einsträngi­ge Arbeitskop­ie der DNA. Mit ihr lassen sich Bauanleitu­ngen von Proteinen an Körperzell­en übermittel­n.
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