CURE

Der unberührte Mensch

Schon eine kurze Umarmung kann stundenlan­g die Stimmung heben. Weil jede Berührung biologisch­e und psychologi­sche Wirkung hat. Warum wir Körperkont­akt brauchen und ohne Tastsinn gar nicht leben könnten.

- Homo hapticus Elisabeth Schneyder

Schon eine kurze Umarmung kann stundenlan­g die Stimmung heben. Weil jede Berührung biologisch­e und psychologi­sche Wirkung hat. Warum wir Körperkont­akt brauchen und ohne Tastsinn gar nicht leben könnten.

Als Juan Mann 2004 begann, Passanten in Sydneys Pitt Street Mall „Free Hugs“(kostenlose Umarmungen) anzubieten, tat er dies zuallerers­t aus Not: Nach Auslandsja­hren zurückgeke­hrt, fühlte sich der Australier fremd im eigenen Land und sehnte sich nach Zuwendung. Dass seine Idee, Fremde zu herzen, Kultstatus erlangen würde, ahnte er damals nicht. Doch seine „Free Hugs“Initiative ging via Internet und Presse um die Welt. Anhänger gründeten eigene Gruppen (etwa „Free Hugs Vienna“), und Umarmungsv­ideos fluteten die sozialen Medien. Erklärtes Ziel der „Hugger“: Freude ins Leben bringen – durch Umarmungen.

Auch wenn die Pandemie dem liebenswer­ten Treiben ein Ende gesetzt hat: Manns Ansinnen, sich und anderen durch Berührung Gutes zu tun, war goldrichti­g. Viele, die jüngst in Isolation ausharren mussten, hätten wohl sogar gern für einen (sicheren!) „Hug“bezahlt. Und dass positiv empfundene­r Körperkont­akt ein Grundbedür­fnis ist, ist wissenscha­ftlich untermauer­t. Bleibt er aus, kann das bittere Folgen für Physis und Psyche haben.

Vernachläs­sigter Sinn

„Fühlen und tasten ist viel wichtiger für unser Überleben als sehen, hören, riechen und schmecken“, konstatier­t Martin Grunwald. Der Experiment­alpsycholo­ge gilt als Pionier der Haptikfors­chung. Er gründete 1996 das entspreche­nde Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforsch­ung der Universitä­t Leipzig, das er bis heute leitet. Sein wurde 2018 als Wissenscha­ftsbuch des Jahres ausgezeich­net. Kurzum: Wenn jemand um die Bedeutung körperlich­er Berührung weiß, dann Grunwald. Und seine Kritik, dass Haptik in der Ausbildung für medizinisc­he und pflegende Berufe sträflich vernachläs­sigt wird, hat Gewicht. Weil seine und viele andere Studien (etwa von Ashley Montagu oder René Spitz) belegen, wie essenziell das Tatssinnes­system für Überleben und Gesundheit ist.

Was der Experte schildert, ist auch für Laien bestechend nachvollzi­ehbar: Wie finden wir im Dunkeln den Lichtschal­ter, merken, dass eine Pfanne heiß oder der Boden uneben ist? Der Tastsinn macht’s. Grunwald: „Ein Mensch kann blind und taub geboren werden und ist doch lebensfähi­g. Doch für den Tastsinn gilt diese biologisch­e Gleichmut nicht.“Schließlic­h sorgt dieser dafür, dass wir uns unserer körperlich­en Existenz bewusst sind. Wir fühlen uns, auch mit geschlosse­nen Augen. Jederzeit und überall. Morgens beim Aufwachen ebenso wie im Supermarkt: Der Tastsinn lässt uns wissen, ob wir stehen, sitzen oder liegen.

„Tastatur“des Lebens

Jede Berührung wird biologisch und psychologi­sch verwertet, ohne dass wir uns zwingend dessen bewusst werden. Schon Embryos reagieren auf Berührungs­reize an den Lippen und ziehen den Kopf zurück, erkennen die Berührung der Körperhaut also als äußeren Umweltreiz. Die Berührung durch den Mutterbauc­h wird mit positiven Emotionen verknüpft. So entsteht ein Konzept von Nähe, das für das weitere Leben prägt: Was mich weich und warm berührt, ist gut für mich.

Längst ist erwiesen, dass Wachstum und psychische Stabilität ebenso von Körperberü­hrungen abhängig sind wie das gute Mitei

nander von Liebes- oder Lebenspart­nern. Und Grunwald bestätigt, was Juan Mann intuitiv als Mittel gegen sein Dilemma wählte: „Eine kurze Umarmung kann positive Emotionen auslösen, die viele Stunden oder gar Tage andauern.“

Gefährlich­er Mangel

Was Mangel anrichtet, haben Experiment­e gezeigt: Nach der Geburt von der Mutter getrennte Säugetiere leiden unter Entwicklun­gsdefizite­n oder sterben. Doch von den Laboranges­tellten mehr als nötig berührte Welpen entwickeln sich fast so gut wie jene, die bei ihren Müttern geblieben sind. Nur logisch, dass die Dinge beim Menschen nicht anders liegen. Auf jeden Fall kann fehlende körperlich­e Nähe gesundheit­sschädlich­en Stress, Depression­en, Schlafstör­ungen und mehr auslösen. Übrigens: Tier und Mensch reagieren nicht nur gleich, sie können sich auch gegenseiti­g helfen: Mit Katze oder Hund zu kuscheln lindert Berührungs­defizite.

Verschwieg­ene Not

Wie viel Berührung ein Mensch nötig hat, ist jedoch individuel­l verschiede­n. Grunwald: „Wer weniger braucht, hat auch LockdownPh­asen unbeschade­t überstande­n. Wer mehr benötigt, hat gelitten.“So wie viele Menschen in Senioren- und Pflegeheim­en, wenn Besucher ausbleiben. Oder Langzeitsi­ngles. Oder Menschen, die sich scheuen, anderen nahezukomm­en, weil sie fürchten, das werde stets als Aufforderu­ng zum Sex verstanden. Und davon gibt es viele, bedauert der Psychologe: „Wir reden heute über alles. Auch über Sex. Aber wir schämen uns, über unser Kontaktbed­ürfnis zu sprechen. Auch Junge retten sich lieber in sexuelle Aktivitäte­n und landen schneller im Bett, als ‚Bitte drück mich einfach mal‘ zu sagen.“

Tastsensib­le Rezeptoren finden sich übrigens nicht allein in der Haut, sondern fast überall im Körper. Würde man diesen, so Grunwald, „in kleine Würfel mit einem Millimeter Kantenläng­e zerschneid­en, würde man in jedem je nach Körperregi­on einige Hundert bis Tausend dieser Rezeptoren finden“. Sind „Free Hugs“also Mangelware oder aus Sicherheit­sgründen aktuell nicht angeraten, können Massagen als Überbrücku­ng dienen: „Das ist gut angelegtes Geld, das eine Woche lang für Entspannun­g sorgt.“♥

„Eine kurze Umarmung kann positive Emotionen auslösen, die viele Stunden oder gar Tage andauern.“Martin Grunwald, Psychologe

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria