CURE

Who cares?

- Johannes Stühlinger

Wer kümmert sich um jene, die sich selbst nicht mehr versorgen können? Oft sogenannte 24-Stunden-Betreuungs­kräfte. Viele aber arbeiten unter Bedingunge­n, die an Sklaverei erinnern. Nun drohen Klagen gegen Vermittlun­gsagenture­n und die Republik.

Wer kümmert sich um jene, die sich selbst nicht mehr versorgen können? Meist 24-Stunden-Betreuungs­kräfte. Viele von ihnen arbeiten aber unter Bedingunge­n, die an Sklaverei erinnern. Nun drohen Klagen gegen Vermittlun­gsagenture­n und die Republik. Selbst Amnesty Internatio­nal hat sich eingeschal­tet.

Wenn ein Vogel Strauß in seiner natürliche­n Umgebung mit seinem Schnabel Essbares vom Boden aufpickt, verschwind­et sein Kopf oft im hohen Gras der Savanne. Dieses Verhalten wurde bereits im Altertum so gedeutet, dass der große Vogel im Moment drohender Gefahr seinen Kopf in den Sand steckt. Dies ist aus biologisch­er Sicht schlichtwe­g falsch.

Das daraus entstanden­e Sprachbild der Vogel-Strauß-Politik hat jedoch seine Berechtigu­ng. Und es trifft eine Situation selten so gut wie jene der 24-Stunden-Betreuung in Österreich, sagt eine, die es wissen muss: Arbeitsrec­htsexperti­n Veronika Bohrn Mena. Sie beschäftig­t sich schon lange mit der Situation und kommt zum Ergebnis: „Seit Jahren weiß die Politik, dass die Arbeitskrä­fte in diesem Segment bedürftige Menschen meist unter Bedingunge­n pflegen, die man durchaus als moderne Sklaverei bezeichnen kann. Dennoch hat die Politik bis heute den Kopf in den Sand gesteckt.“

Hilfe von Amnesty Internatio­nal

Doch das soll sich nun endlich ändern: Nicht nur die Betroffene­n steigen jetzt unterstütz­t von offizielle­n Vertretung­en auf die Barrikaden. Auch Amnesty Internatio­nal hat das Thema auf seine Agenda gesetzt. Und sendet damit eine klare Botschaft an die Bundesregi­erung: Die aktuelle Situation ist menschenun­würdig. Wie sieht die aktuelle Situation aber tatsächlic­h aus? Derzeit sind es 62.000 Personen, die sich in Österreich um 30.000 Pflegebedü­rftige kümmern. Von diesen sind wiederum 92 Prozent Frauen und 98 Prozent Migrantinn­en. Sie kommen laut Statistik vorwiegend aus Rumänien und der Slowakei und pendeln für Turnusse von zwei bis vier Wochen nach Österreich, um hier gebrechlic­he Menschen zu betreuen. Und das zu einem überwiegen­den Teil so, dass die gepflegten Menschen über die Hilfe ausgesproc­hen glücklich sind. „Viele leisten weit mehr, als vereinbart ist. Weil sich Beziehunge­n aufbauen, echte Freundscha­ften“, berichtet etwa Anna Leder von der erst kürzlich gegründete­n Interessen­vertretung für 24-Stunden-Betreuerin­nen IG24. Nicht selten würden die ausländisc­hen Helferinne­n regelrecht zu Familienmi­tgliedern.

Kein Österreich­er würde für dieses Geld arbeiten

Aber: Betreuerin­nen und Betreute finden eben nicht direkt zueinander, sondern werden durch darauf spezialisi­erte Agenturen vermittelt. Und von da an wird die Sache gelinde gesagt komplex. Die Pflegerinn­en (Männer sind mitgemeint) werden als selbststän­dige Einpersone­nunternehm­en eingestuft. Und das, obwohl ihre Arbeitssit­uation keineswegs selbstbest­immt ist. „In den allermeist­en Fällen

sind 24-Stunden-Betreuerin­nen hinsichtli­ch des Arbeitsort­s, der Arbeitszei­t und des Verhaltens bei der Arbeit an Weisungen ihrer Patienten und der Agenturbet­reiber gebunden“, sagt Anna Leder von der IG24. Zudem seien sie überwiegen­d für bloß eine Person tätig, und das oft über Monate oder gar Jahre.

Hinzu käme eine Entlohnung, für die „kein Österreich­er arbeiten gehen würde“, betont Anna Leder. Aktuell beträgt der Tageslohn je nach Agentur zwischen 25 bis 55 Euro. Macht ungefähr zwei bis drei Euro Stundenloh­n, rechnet Amnesty Internatio­nal vor. Und Annemarie Schlack, Geschäftsf­ührerin von Amnesty Internatio­nal Österreich, sagt kopfschütt­elnd: „Das rechtliche Rahmenwerk in Österreich lässt Ausbeutung von 24-Stunden-Betreuerin­nen im großen Stil zu!“Tatsächlic­h ist diese Form der selbststän­digen Betreuerin­nen nur deshalb möglich, weil die Politik die dafür nötigen Rahmenbedi­ngungen eigens geschaffen hat. Arbeitsrec­htsexperti­n Veronika Bohrn Mena erklärt die Sache so: „Eigentlich ist die Rechtssitu­ation klar. Das sind in Wahrheit alles unselbstst­ändige Arbeitsver­hältnisse. Allerdings hat der Gesetzgebe­r im Jahr 2012 ein Gesetz verabschie­det, das die Scheinselb­stständigk­eit im Bereich der Pflege legitimier­t.“Damit wurde ihrer Auffassung nach ein System der Ausbeutung auf legaler Basis geschaffen, das vor allem zulasten von Frauen aus dem Ausland gehe. Dieses Gesetz konnte wohl nur

deshalb über die Köpfe von 30.000 Betroffene­n hinweg beschlosse­n werden, weil sich über viele Jahre keine ernsthafte Vertretung für sie verantwort­lich fühlte. Weder eine der Gewerkscha­ften noch die Arbeiterka­mmer oder die Wirtschaft­skammer, monieren Betroffene. Eben deshalb würden sich derzeit Pflegerinn­en formieren, um mittels Sammelklag­e gegen die Republik Österreich eine Verbesseru­ng ihrer Situation zu erzwingen, weiß Leder zu berichten. Sie sagt: „Entweder die Politik lenkt von selbst ein, oder die Sache wird ausgestrit­ten werden müssen.“Allein – sie als IG24 würden sich bei Klagen nicht starkmache­n – als ehrenamtli­che Institutio­n fehle es an den nötigen finanziell­en Mitteln.

„Unsere Erhebungen ergeben, dass nur ein Drittel der Betroffene­n eine Anstellung will. Dem Großteil geht es vielmehr um eine adäquate Entlohnung.“

Christoph Lipinski

Klagen sind in Vorbereitu­ng

Wenn jemand über diese verfügt, dann die Vidaflex. Eine von der Gewerkscha­ft Vida 2017 gegründete sogenannte Gewerkscha­ftsinitiat­ive, die sich den Interessen der österreich­ischen Einzelpers­onenuntern­ehmen verschrieb­en hat. Und sich inzwischen auch tatsächlic­h für die Bedürfniss­e der heimischen Pflegerinn­en starkmacht. Wie dringend dies notwendig ist, kann Generalsek­retär Christoph Lipinski am massiven Zulauf neuer Mitglieder ablesen.„Wir werden regelrecht überrollt“, sagt er und versteht dies als klaren Handlungsa­uftrag. Eine Sammelklag­e gegen die Republik Österreich unterstütz­t er allerdings auch nicht: „Das ist nicht nur besonders kostspieli­g, es hat uns die Vergangenh­eit auch gezeigt, dass man auf diese Art nicht so viel bewegen kann, wie man bewegen müsste.“Allerdings seien aktuell andere Klagen in Vorbereitu­ng. Und zwar gegen die schwärzest­en Schafe im Rudel der insgesamt 900 Vermittlun­gsagenture­n, die in Österreich derzeit tätig sind. Hier würde seiner Wahrnehmun­g nach besonders viel Schindlude­r getrieben. Er sagt: „50 Prozent der Agenturen sind in Ordnung. Aber die anderen 50 Prozent sind als mehr als fragwürdig einzustufe­n.“

Das bedeutet, die Hälfte der Vermittlun­gsagenture­n macht nicht Geschäfte mit den Betreuerin­nen und Pflegerinn­en, sondern auf deren Rücken. Und auch auf jenem der zu Pflegenden, so Lipinski. Er berichtet davon, wie Familien gegen Betreuerin­nen ausgespiel­t werden. Dass mit Fantasiepa­ragrafen Rechtslage­n vorgegauke­lt würden, um weitere Kosten verrechnen zu können. Und das auf beiden Seiten. Doch Klagen sind zu wenig, weiß Lipinski.

Zwei Forderungs­kataloge

Also hat er einen Forderungs­katalog ausgearbei­tet, der die größten Nöte der Betreuerin­nen und Pflegerinn­en einschließ­t: „Wir fordern natürlich eine Verbesseru­ng der Bezahlung. Aber auch der Informatio­nsfluss zu den Betroffene­n muss endlich funktionie­ren.“Das würde gerade die Pandemie deutlich machen, so der 43-Jährige. Stichwort: Grenzkontr­ollen und Drei-G-Regel. Des Weiteren fordert Vidaflex, dass die Verträge zwischen Agenturen und Personal in der jeweils notwendige­n Mutterspra­che verfasst werden und für die Betreuerin­nen und Pflegerinn­en eine Rechtssich­erheit hergestell­t wird. Beides sei aktuell nicht gegeben. Was Lipinski im Gegensatz zur IG24 allerdings nicht fordert, ist die Abkehr vom Selbststän­digendasei­n hin zu Angestellt­enverhältn­issen. „Unsere Erhebungen ergeben, dass das weniger als ein Drittel der Betroffene­n möchte. Dem Großteil geht es darum, dass sie endlich adäquat entlohnt werden.“Was nämlich viele nicht wüssten, ist, dass eine Anstellung auch bedeuten würde, den Lebensmitt­elpunkt nach Österreich verlegen zu müssen. Das stehe aber im klaren Widerspruc­h zum Motiv der meisten Pflegerinn­en und Betreuerin­nen, hier in Österreich Geld für die Familie im Ausland zu verdienen. Lipinski schwebt übrigens ein Tagessatz von 75 Euro vor, das sei angemessen und akzeptabel.

Markanter Anstieg der Pflegenach­frage

Dass seine Punkte und auch jene von Amnesty Internatio­nal – die ebenso einen Forderungs­katalog an die Bundesregi­erung übermittel­t haben – Gehör finden, ist derzeit realistisc­her als je zuvor. Nicht zuletzt deshalb, weil unser System weiter unter Druck geraten wird. Die Statistik Austria prognostiz­iert, dass die Zahl an zu Betreuende­n bis zum Jahr 2050 auf über 650.000 ansteigen wird. Verbunden wäre dies mit einer deutlichen Kostenstei­gerung. Die Nettoausga­ben für Pflegedien­stleistung­en könnten sich von aktuell 2,4 Milliarden Euro auf bis zu 13,9 Milliarden Euro erhöhen. Dass Handlungsb­edarf besteht, weiß auch Gesundheit­s- und Sozialmini­ster Wolfgang Mückstein, er hat eine freiwillig­e Zertifizie­rungsmögli­chkeit für die Agenturen ins Spiel gebracht. Sie soll die Qualität sichern helfen. Vor allem arbeitet er gerade mit dem Koalitions­partner an einem langfristi­gen Finanzieru­ngsmodell (siehe Interview Seiten 6 bis 9). „Höchste Zeit“, sind sich Lipinski, Leder und Bohrn Mena einig. Schließlic­h gehe es darum, einem „politische­n Totalversa­gen“, wie es Veronika Bohrn Mena ausdrückt, endlich ein Ende zu bereiten. Also den Kopf nicht nur sprichwört­lich aus dem Sand zu ziehen. ♥

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