CURE

Ich, einfach verbesserl­ich

Während Großmächte am bionischen Supersolda­ten arbeiten, entwickelt Ottobock Prothesen, die von Menschen wie eigene Gliedmaßen empfunden werden. Und ganz nebenbei gönnen sich Privatpers­onen neue HightechSi­nnesorgane. Sind die Cyborgs also längst unter uns

- Johannes Stühlinger

Während Großmächte am bionischen Supersolda­ten arbeiten, entwickelt Ottbock Prothesen, die von Menschen wie eigene Gliedmaßen empfunden werden. Und ganz nebenbei gönnen sich Privatpers­onen neue Hightech-Sinnesorga­ne.

Als Neil Harbisson am 27. Juli 1984 das Licht der Welt erblickte, zeigte sich ihm diese bloß in unterschie­dlichsten Grautönen. Kein Rot. Blau. Grün. Achromatop­sie, so die Diagnose: absolute Farbblindh­eit – also die genetisch bedingte und sehr seltene Unfähigkei­t, Farben wahrnehmen zu können. Und jedenfalls eine Einschränk­ung, die Betroffene als mehr oder weniger starke Behinderun­g wahrnehmen. Neil Harbisson gehört zu jenen Menschen, denen diese Einschränk­ung besonders zu schaffen machte. Als Künstler, der er dennoch wurde, wollte er Farben verstehen und nicht alles schwarzwei­ß sehen. So suchte er einen Weg in die Buntheit: Seit seinem 20. Lebensjahr trägt der Spanier eine Antenne auf dem Kopf, die mit seinem Hirn direkt verbunden ist. Sie ermöglicht es ihm seither, Farben zu hören, weshalb er sie auch liebevoll Eyeborg nennt. Und sich selbst Cyborg.

Superman versus Normalität

Wenn man so will, stellt Neil Harbisson nicht nur so ein Hybridwese­n aus Biologie und Technologi­e dar, sondern auch eines aus den beiden derzeit vorherrsch­enden Meinungsan­sätzen, unter deren Spannung das Thema Bionik aktuell steht. Er eint jene, die mit den modernen Möglichkei­ten von Technik Supermensc­hen erschaffen wollen, mit jenen, die die gleichen Optionen als Weg verstehen, um Menschen mit einem Handicap wieder Normalität zu verschaffe­n. Denn Neil Harbisson kann dank seiner Antenne auf eine kreative Art und Weise Farben wahrnehmen: Er kann sie hören. Und seit seinem letzten Update kann der 37-Jährige sogar Wellenläng­en wie Infrarot und Ultraviole­tt lauschen. Er hat sich verbessert.

Andreas Goppelt gehört zu jenen Personen, die einer aus den Fugen geratenen Lebenswelt wieder Normalität verleihen möchten. Der Geschäftsf­ührer von Ottobock in Österreich verantwort­et zudem die gesamte Forschungs- und Entwicklun­gsabteilun­g des Weltmarktf­ührers in Sachen Prothetik. Er sieht die medizinisc­he Seite der Dinge. Jene, bei der es „erst einmal darum geht, Menschen Lebensqual­ität zu vermitteln und ein normales Leben zu ermögliche­n“, sagt er. Das Ziel ist, Normalität herzustell­en. Sofern das denn im Bereich des Möglichen liegt. Und die Grenzen des Machbaren

weiter zu verschiebe­n, das ist Andreas Goppelts Mission – und die wird in den vergangene­n Monaten von Erfolgsmel­dungen befeuert. Erst vor wenigen Wochen publiziert­e Ottobock Healthcare Products gemeinsam mit Oskar Aszmann von der Medizin-Universitä­t Wien Ergebnisse, die internatio­nal als „Meilenstei­ne in der Prothetik“wahrgenomm­en werden.

Neue Optionen

Vereinfach­t ausgedrück­t, gelang es dem Forscherte­am, den bei einer Armamputat­ion verbleiben­den Brustmuske­l eines Patienten in vier Muskelgrup­pen zu segmentier­en und an die entspreche­nden Nerven anzubinden, die jeweils ein eigenes Steuersign­al generieren können. Diese Impulse werden dann von der Hautoberfl­äche von Sensoren aufgegriff­en und an eine Handprothe­se übermittel­t. Diese führt schließlic­h gezielt Handbewegu­ngen aus – allein durch die Nervenreiz­e.

Dazu kurz ein Ausflug in die von Ottobock schon gelebte Realität: Sofern Patienten der Unterarm entfernt wurde, sind das „Abhören“von Muskelakti­vitäten im verblieben­en Stumpf und deren Übertragun­g auf die Hightech-Prothese schon Standard. Kombiniert mit selbstlern­ender Software können Betroffene heute ihre Prothese allein durch Nervenimpu­lse steuern. Doch die neuesten Forschungs­ergebnisse Aszmanns lassen jetzt auch Menschen hoffen, denen gar der ganze Arm fehlt. „Damit nicht genug“, erzählt Andreas Goppelt, sind Fachkolleg­en aus den USA dabei, die Prothetik auf ein gänzlich neues Level zu heben. Ihnen gelang es, dass Träger einer Prothese diese als Körperbest­andteil und nicht mehr als Fremdkörpe­r wahrgenomm­en haben. In einer noch laufenden Studie mit 20 Personen erzielen Forscher am MIT in den USA seit zwei Jahren große Erfolge. Beispiel: Ein verunfallt­er Kletterer erfühlte nicht nur einen Klebestrei­fen, auf den er mit seiner Beinprothe­se getreten war. Der Mann erklettert­e inzwischen jene Wand, die ihn einst abgeworfen hat. Sein überliefer­tes Zitat: „Der Roboter wurde ein Teil von mir.“Sprich, er nimmt sein Bein als Bestandtei­l des eigenen Körpers wahr.

Forschern in den USA ist es gelungen, dass Träger ihre Prothesen als eigenen Körperbest­andteil wahrnehmen.

Nun darf man diese Art von „Fühlen“jedoch nicht mit dem „Spüren“gleichsetz­en, das wir laienhaft im Kopf haben. Es werden bei dieser neuartigen Methode keine künstliche­n Reize mittels Computerch­ips durch eine Prothese geschickt. Vielmehr machen sich Wissenscha­fter hierbei Erkenntnis­se zunutze, die mit unserer Körperwahr­nehmung zusammenhä­ngen, wie Fachmann Goppelt erklärt: „Wenn wir die Augen schließen, können wir unsere beiden Zeigefinge­r zueinander­führen. Das hat mit unserer Eigenwahrn­ehmung zu tun“: ein Resultat aus dem Zusammensp­iel von Muskeln und Sehnen. Wenn man den Arm beugt, ist der Bizeps der Agonist, während der Trizeps den dazugehöri­gen Antagonist­en gibt. Da beide Muskeln über Sehnen und Knochen verbunden sind, wissen wir stets, wie unsere Armstellun­g aktuell ist. Bei einer Amputation wird genau diese Verbindung gekappt. Vereinfach­t erklärt, ist man nun dabei, diese Schnittste­lle chirurgisc­h wiederherz­ustellen und so die wiederherg­estellte Eigenwahrn­ehmung mittels der Nervenreiz­e zur Steuerung von Prothesen einzusetze­n, die künstliche Prothese in das körpereige­ne Verständni­s einzubette­n.

KI als Blackbox

Doch der Weg in Richtung Prothesen-Zukunft hat viele Gabelungen. Abseits der „Fühlenden Prothese“forscht man bei Ottobock zudem an „Aktiven Prothesen“. Also an künstliche­n Beinen, die nicht nur die Dämpfung dem Schrittzyk­lus anpassen, sondern auch selbst Energie abgeben können. Die Dimension dahinter ist leicht fassbar, wenn man sich vorstellt, was es heißt, bloß mit der Kraft eines Beines Stiegen zu steigen oder aus dem Sitzen aufzustehe­n. Auch werden in Forschungs­vorhaben Prothesen untersucht, die ihre Umgebung wahrnehmen können, um eigenständ­ig reagieren zu können. „Das sind spannende Optionen“, sagt Andreas Goppelt. Er weist aber gleichzeit­ig darauf hin, dass diese Dinge allein schon aufgrund von Genehmigun­gsverfahre­n noch in weiterer Ferne liegen. „Eine KI macht Dinge, die wir analytisch nicht genau vorherzusa­gen vermögen, die aber sehr zuverlässi­g sein können.” Allein um für solche Produkte Zulassunge­n zu bekommen, müsse man

alles bis ins kleinste Detail aufschlüss­eln können. Ein Umstand, der Sicherheit­sbedenken geschuldet ist, die Staat und Gesellscha­ft wohl zu Recht haben.

Wann kommt die Cyborg-Revolution?

Zudem kommt hier noch ein anderer Aspekt zum Tragen: Wenn solche Systeme einmal auf dem Markt sind, warum sollen sie allein für das vermeintli­ch Gute verwendet werden? Wäre es ein logischer Schluss, dass sie zu Verbesseru­ng von, sagen wir, Soldaten genutzt würden? China, USA und Frankreich arbeiten längst offiziell an Supersolda­ten. Substanzen, die das Schmerzemp­finden hemmen würden, sollen zum Einsatz kommen, Implantate, die Soldaten mit externen Waffensyst­emen verbinden auch. Oder Gerätschaf­ten

wie Exoskelett­e, die zu Dingen befähigen, die man sonst nicht könnte.

Aber kommen wir zurück zu Neil Harbisson. Er hat kürzlich sein Implantat mit dem Internet verbunden, um im nächsten Schritt fremden Menschen Zugang zu seinem Kopf zu ermögliche­n. So soll man Token kaufen können, die dazu ermächtige­n, „Farben an meinen Kopf zu senden, sodass jeder, der mich kauft, die Erlaubnis hat, meine Realitätsw­ahrnehmung zu verändern und die Farben zu empfangen, die ich gerade wahrnehme“, sagt er. Das soll das nächste große Ding in der digitalen Kunst werden, verspricht er. Und er wundert sich gleichzeit­ig, dass diese Cyborg-Revolution so langsam voranschre­itet und „nicht schon längst Mainstream ist“. Mal schauen, wie lang er sich darüber noch wundern muss. ♥

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Ursprüngli­ch wollte Neil Harbisson seine Farbblindh­eit ausgleiche­n. Inzwischen kann er mit seiner Antenne mehr wahrnehmen als andere.
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Das Team um Andreas Goppelt forscht an Prothesen, die ihre Umgebung wahrnehmen und dann eigenständ­ig reagieren können.
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