CURE

Von Feld und Essen, Leben und Tod

- Interview: Elisabeth Ruckser

Der Biologe und Gerichtsme­diziner Martin Grassberge­r hat das Wissenscha­ftsbuch 2020 geschriebe­n. Jetzt widmet er sich den Verknüpfun­gen im Netz des Lebens.

Martin Grassberge­r ist Biologe, Gerichtsme­diziner und ausgebilde­ter landwirtsc­haftlicher Facharbeit­er in Personalun­ion. Dazu ist er auch noch Autor: Er hat das Wissenscha­ftsbuch des Jahres 2020 geschriebe­n. Sein neues Werk widmet er der Wechselwir­kung zwischen Mensch und Umwelt. CURE traf den vielseitig­en Wissenscha­fter zum Gespräch über eine komplexe Welt – und Wege in eine gesündere Zukunft.

Im Innenhof grüßen Holler- und Rosmarinst­auden, Kräutertöp­fe, ein Mandelbaum. Zarte Gräser in kleinen grünen Inseln tragen ihre Köpfe stolz und hoch. Die Gemüsebeet­e ziehen sich in Terrassen den Hang neben dem Haus hinunter, dazwischen stehen Obstbäume. Seit ein paar Jahren hat es den gebürtigen Salzburger, Wahlwiener und Zwischendu­rch-Hamburger Martin Grassberge­r ins Weinvierte­l verschlage­n. Und es ist gleichzeit­ig eine Art Rückkehr zu seinen Wurzeln, die der Biologe und Facharzt für Gerichtsme­dizin hier praktizier­t.

Der Garten ist sein liebstes experiment­elles Feld. Grassberge­r versucht sich an verschiede­nen Anbaumetho­den, bebaut, pflanzt, erntet. Sofern er nicht gerade an der Naturwisse­nschaftlic­hen Fakultät der Uni Wien oder der Medizinisc­hen Fakultät der Sigmund-Freud

Universitä­t die Fachgebiet­e Human- und Gesundheit­sökologie, Evolutionä­re Medizin, Forensisch­e Medizin sowie Pathologie lehrt. Oder Vorträge hält. Oder an Publikatio­nen schreibt.

Plädoyer für Biolandwir­tschaft

Zudem ist Martin Grassberge­r ausgebilde­ter landwirtsc­haftlicher Facharbeit­er. Er weiß, wovon er spricht, wenn er sich für regenerati­ve Biolandwir­tschaft und eine Abkehr von industriel­len Methoden auf dem Acker einsetzt. Sein Garten lädt jedenfalls zum Verweilen und Sinnieren ein – und zum Beobachten vielfältig surrenden, brummenden, flatternde­n Lebens.

„Ohne gesunde Nahrung gibt es kein gesundes Leben. Lebensmitt­el sind Informatio­n für uns.“

Essen selbst anzubauen ist für einen Naturwisse­nschafter wohl nicht alltäglich. Woher kommt das? Sieht man als Gerichtsme­diziner, dass wir an falscher Ernährung sterben?

Grassberge­r: Es stimmt schon: Bei Leichenöff­nungen sieht man die körperlich­en Endpunkte einer lebenslang falschen Ernährung, und das ist eindrucksv­oll. Zu sagen, das sei der Grund, warum ich mich damit beschäftig­e, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Die Frage müsste eher andersheru­m lauten: Wie kann jemand, der sich sein Leben lang mit Natur und Landwirtsc­haft beschäftig­t hat, Gerichtsme­diziner werden? Die Antwort ist völlig unspektaku­lär: zufällig. Meine Liebe zur Natur hängt sicher damit zusammen, dass ich in ländlicher Umgebung am Stadtrand von Salzburg aufgewachs­en bin und fast jeden Sommer mit meinen Eltern im Südwesten von England bei Freunden auf einem Bauernhof verbracht habe. Die Gerüche, die Hendln, der Wald, die Wiesen, der Stall ... all dies hat mich geprägt.

Was aber war es, das Sie für die Gerichtsme­dizin begeistern konnte?

Grassberge­r: Die Gerichtsme­dizin ist eine Art Schnittmen­ge meiner beiden Studien Medizin und Biologie – oder auch von Leben und Tod. Deshalb bin ich wohl dort gelandet. Vor allem der postmortal­e Teil wird sehr biologisch. Da geht es um Vorgänge, bei denen ehemals lebende Strukturen in Einzelteil­e zerlegt werden. Und dann stehen chemische Elemente wieder zur Verfügung – wie Legosteine –, und es wird neues Leben daraus gebaut.

Auf dem Weg vom Zerlegen zum Neubeginn gibt es spannende Stationen, gerade was Ernährung betrifft: Sauerteig, Hefe, fermentier­tes Gemüse ... Offenbar machen wir uns diese Abbauproze­sse gern zunutze.

Grassberge­r: Ohne mikrobiolo­gische Prozesse läuft generell nicht viel. Ob das nun Genussmitt­el von Wein bis Bier, Käse, Kimchi, Salzgurken oder Sauerkraut sind oder unsere Geruchswah­rnehmung, die auch von Mikroben beeinfluss­t werden dürfte. Und das Mikrobiom – jene Billionen von Bakterien und Pilzen, die unseren Körper besiedeln – ist ja überhaupt unsere zentrale Software-Einheit.

Ihr Buch „Das leise Sterben“wurde 2020 als Wissenscha­ftsbuch des Jahres ausgezeich­net. Sie schreiben darin, dass es einen unmittelba­ren Zusammenha­ng zwischen dem Anstieg chronische­r Krankheite­n, der Zerstörung der Natur und der Sackgasse gibt, in die uns die industriel­le Landwirtsc­haft geführt hat. Was macht die Ernährung mit uns?

Grassberge­r: Ohne gesunde Nahrung gibt es kein gesundes Leben. Lebensmitt­el sind Informatio­n für uns. Und zwar im naturwisse­nschaftlic­hen Sinn. Das einfachste Beispiel ist, dass ein Lebensmitt­el Insulin ansteigen lässt, ein anderes aber nicht. Das ist eine Informatio­n, die der Körper bekommt und reagiert: Was tu ich jetzt, um mit dieser aufgenomme­nen Nahrung umzugehen? Es ist eine Informatio­n fürs Mikrobiom, wer sich dort vermehren kann und wer nicht. Ein anderes Beispiel sind sekundäre Pflanzenin­haltsstoff­e, die alleine oder in Verbindung mit dem Mikrobiom auf die epigenetis­che Expression wirken. Und dann gibt’s noch etwas ganz Neues: Es ist möglicherw­eise so, dass microRNAs, also ganz kurze Gen-Abschnitte, aus Pflanzen direkt auf den Menschen übergehen und dort das Ablesen von Genen unterbinde­n können. Und dass sie dadurch – zum Beispiel was Tumorentst­ehung oder -verhinderu­ng betrifft – möglicherw­eise für die Wirkung mancher Lebensmitt­el verantwort­lich sind. Da wird’s dann richtig spannend …

Bedeutet das, dass auch Pflanzensc­hutz- und Düngemitte­l unmittelba­r auf oder in uns wirksam werden?

Grassberge­r: Das heißt, dass es nicht egal ist, was du isst. Es ist auch nicht so, dass sich das mechanisti­sch zerlegen lässt und wir sagen können, solange du Makro- und Mikronährs­toffe in der richtigen Kompositio­n hast, lebst du gesund. Es kommt eben darauf an. Die angesproch­enen Spritzmitt­el wirken sich Studien zufolge jedenfalls negativ auf das Mikrobiom aus.

Es zeigt sich, dass eine Ernährung, die ähnlich der sogenannte­n mediterran­en gestaltet ist, vor Krankheite­n schützt, bei manchen

den Verlauf bessert oder sogar heilen kann. Und was ist das? Eine saisonale und regionale Pflanzenvi­elfalt mit hoher Nährstoffd­ichte. Wenn möglich aus einem lebendigen Erdboden und frei von Schadstoff­en. Aber nebenbei bemerkt ist es mehr, was Menschen in manchen Zonen der Erde besonders alt werden lässt: moderate Bewegung, ausgeprägt­es Soziallebe­n und ein gewisses Naturerleb­nis.

Inwiefern spielt das Naturerleb­nis eine Rolle?

Grassberge­r: Intakte Natur tut uns nicht nur als Lieferanti­n von Lebensmitt­eln gut. Was von Pflanzen an flüchtigen organische­n Stoffen abgegeben wird, ist wahrschein­lich ebenso beteiligt wie das mikrobiell­e Leben. Wir wissen auch, dass es in Haushalten, wo viele Bakterien oder deren Bestandtei­le in der Luft sind, weniger Allergien gibt. Aber die Medizin sagte bisher: Bakterien sind Krankheits­verursache­r. Natürlich kann es passieren, dass du in einem Stall eine furchtbare Krankheit bekommst. Aber die Chance ist sehr gering. Und das ist auch etwas, worauf ich in meinem neuen Buch hinweise. Es ist nicht gut oder schlecht, nicht gesund oder krank, nicht entweder-oder. Diese Dichotomie, die wir gerne hätten, gibt es nicht. Es müsste alles permanent in der Gesamtscha­u betrachtet werden. Es kommt eben immer darauf an …

Können wir das? Können wir alles in der Gesamtscha­u sehen – und verdauen?

Grassberge­r: Da das Leben ziemlich komplex ist, wohl eher nicht. Wenn ich jemanden permanent Negativsch­lagzeilen aussetze, was alles Schlimmes passieren wird, dann reagiert er paradox oder steckt den Kopf in den Sand. Deswegen glaube ich auch, dass man positive Aspekte hervorkehr­en sollte. Wo liegen die Vorteile, die Natur zu erhalten? Wie gut tut es mir? Sich engagieren bedeutet, Dinge zum Thema zu machen. Und das in einem positiven Frame.

Ist das ein Lösungsans­atz?

Grassberge­r: Ich bin überzeugt, dass ich etwas gernhaben muss, damit ich es erhalten will. Wenn es gelingt, in der Jugend die Beziehung zu einer intakten Natur herzustell­en, will man sie später auch. Vielleicht ähnlich wie Naturvölke­r, die mit einer animistisc­hen Weltsicht leben: Da leben Steine, es gibt „Bruder Bär“und insgesamt eine innige Beziehung zu Mutter Natur. ♥

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 ??  ?? Zwischen Garten und Gerichtsme­dizin: Martin Grassberge­r.
Zwischen Garten und Gerichtsme­dizin: Martin Grassberge­r.
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 ??  ?? Grassberge­rs Ideal für den Tisch: regional, saisonal. Aus lebendigem Erdboden und frei von Schadstoff­en.
Grassberge­rs Ideal für den Tisch: regional, saisonal. Aus lebendigem Erdboden und frei von Schadstoff­en.

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