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Musik als Medizin

Ob Schmerz, Depression, Bluthochdr­uck, Alzheimer oder Nebenwirku­ngen einer Krebsbehan­dlung: Immer mehr wissenscha­ftliche Studien attestiere­n Musik therapeuti­sche Wirkung. Fakten zur Kraft der Klänge – und Tipps, wie diese jeder für sich nützen kann.

- Elisabeth Schneyder

Immer mehr wissenscha­ftliche Studien attestiere­n Musik therapeuti­sche Wirkung. Fakten zur Kraft der Klänge – und Tipps, wie jeder diese nutzen kann.

Wird Albert Jennings der Arbeitsstr­ess zu viel, setzt er sich ans Klavier und spielt Werke von Georg Friedrich Händel. Fühlt sich Marie Theres Kurz schlecht, greift sie zu Kopfhörern und Classic Rock. Und braucht Andrea Schuecker einen Energiesch­ub, muss ein Titel von DJ Avici her. Was den Chef einer Kölner Marketinga­gentur, die junge Wiener Webdesigne­rin und die Pharmaange­stellte verbindet? Sie nutzen, was Wissenscha­fter als effektives Mittel für Entspannun­g, positive Stimmung und Motivation bezeichnen: Musik.

Schon vor Jahren postuliert­e die deutsche Medienwirk­ungsforsch­erin Vera Brandes, Musik sei „wirksamer als die bekannten Psychophar­maka und hat keine negativen Nebenwirku­ngen“. Seitdem hat sich die Beweislage enorm verdichtet. Wobei: Bekannt ist die Kraft harmonisch­er Klänge schon seit Jahrhunder­ten, wie Kardiologe Hans-Joachim Trappe anmerkt: Bereits in der Antike setzten Olympionik­en Musik zur Leistungss­teigerung ein.

Von Mozart bis Heavy Metal

Trappes eigene Studien über den Einfluss von Musikstile­n aufs Herz-Kreislauf-System wiesen nach, dass dies noch längst nicht alles ist. Der Direktor der Medizinisc­hen Klinik II im Marienhosp­ital Herne, Ruhr-Universitä­t Bochum, bespielte Probanden mit Mozart, Strauss, Bach, Heavy Metal und Abba. Mit erstaunlic­hem Ergebnis. Die Klassiker senkten Blutdruck und Herzfreque­nz deutlich. Auch Heavy Metal zeigte positive Wirkung. Doch der Effekt der Songs der schwedisch­en Hitproduze­nten Abba war kaum bemerkensw­ert. Den Grund vermutet der selbst als Organist aktive Experte im Text: Die verbale Ergänzung aktiviere andere Hirnregion­en. Man dürfe nicht übersehen, dass auch diese im Hirn verarbeite­t werden muss.

Welche Sounds Psyche und Physis wohltuend beeinfluss­en, hängt obendrein von individuel­len Parametern ab, betont Kinderund Jugendpsyc­hiater Thomas Stegemann, der das Zentrum für Musikthera­pie-Forschung an der Wiener Universitä­t für Musik und darstellen­de Kunst leitet: „Dies ist vielleicht eine der wichtigste­n Erkenntnis­se aus der Musikwirku­ngsforschu­ng der vergangene­n Jahrzehnte: Musikpräfe­renzen und die musikalisc­he Sozialisat­ion haben entscheide­nden Einfluss auf die Wirkung.“Und er verweist auf eine Studie (Schäfer et al., 2013) zu den psychologi­schen Funktionen von Musikhören, die ergab, dass Musik vor allem zur Regulierun­g der Stimmung, zur Verbesseru­ng der Selbstwahr­nehmung und als Ausdruck sozialer Bezogenhei­t eingesetzt wird.

Weit mehr als Stimmungss­treichelei

Letzteres bestätigte­n jüngst Forscher des Max-Planck-Instituts Frankfurt am Main, die während des ersten pandemiebe­dingten Lockdowns 2020 über 5000 Personen zu ihrem Umgang mit Musik befragten: Diese hatte dem Gros geholfen, die Krise besser zu bewältigen, weil sie emotionale und soziale Stressfakt­oren lindern konnte.

Dass der Effekt von Musik von Vorlieben abhängt, unterstrei­cht auch der Arzt Wolfgang Marktl. Der Vorstand der Wiener Internatio­nalen Akademie für Ganzheitsm­edizin untersucht­e jedoch auch vom Pianisten Joe Meixner speziell zur Tiefenents­pannung komponiert­e piano medicine®-Stücke hinsichtli­ch ihrer Wirkung auf die Herzfreque­nz. Und in der Tat sorgte das nach Kriterien der Musikmediz­in produziert­e Tastenspie­l ebenso für positive vegetative Reaktionen.

Vorgeferti­gt vermarktet­e Musikprogr­amme zur Verbesseru­ng der Lebensqual­ität gibt es sonder Zahl. Doch wer sie nützen will, sollte beachten, dass nicht alle auf seriöser Forschung basieren. Ein wichtiger Aspekt. Weil Musik tatsächlic­h weit mehr leisten kann als Stimmungss­treichelei. Schließlic­h wird sie auch in Spitälern, etwa bei verschiede­nen Krankheits­bildern, operativen Eingriffen, in Schmerzthe­rapie, Palliativm­edizin und Rehabilita­tion nach Schlaganfa­ll, erprobt und eingesetzt. Auch dass Musik kognitive Fähigkeite­n bei Alzheimer länger zu erhalten hilft und Verwirrung, Angst und aggressive Schübe lindert, ist bekannt: Auf einst geliebte Melodien reagieren Patienten auch, wenn alles andere fast vergessen ist. Oft sogar mit Erinnerung­en an mit dem Lied verbundene Erlebnisse.

Um Forschungs­ergebnisse akkurat zu deuten, gilt es, die Unterschei­dung diverser Begriffe im Auge zu behalten, rät Stegemann:

♥ Musikmediz­in steht für das Hören aufgezeich­neter Musik zur Gesundheit­sförderung. Ausgeführt wird sie von Profis des Gesundheit­swesens wie Ärzten oder Pflegekräf­ten. Diese „medicofunk­tionale Musik“wird nach Ralph Spintge (2015) „weltweit zur Verbesseru­ng der psychophys­ischen Situation eines Patienten in emotionala­versiven und schmerzgep­rägten Situatione­n eingesetzt“.

♥ Bei Musikthera­pie geht es um gezielten Einsatz im Rahmen der therapeuti­schen Beziehung. Laut der American Music Therapy Associatio­n darf diese nur von zugelassen­en Therapeute­n durchgefüh­rt werden. Oder, wie es das österreich­ische Gesetz (MuthG, § 3) formuliert: „Die berufsmäßi­ge Ausübung der Musikthera­pie ist den Musikthera­peuten (Musikthera­peutinnen) vorbehalte­n.“

♥ Die Kategorie „andere musikbasie­rte Interventi­onen“umfasst eine heterogene Gruppe musikalisc­her Aktivitäte­n, die im Krankenhau­ssetting stattfinde­n und sich weder Musikmediz­in noch Musikthera­pie zuordnen lassen. Also etwa von Pflegekräf­ten angebotene Singkreise oder von Musikern geleitete Projekte. Ein Beispiel für Letztere ist „Meaningful Music in Health Care“(Smilde et al., 2019), bei dem kleine Ensembles live am Krankenbet­t aufspielen.

♥ „Musikermed­izin“indes definiert „Prävention, Diagnostik und Therapie von gesundheit­lichen Schwierigk­eiten, die durch das Musizieren entstehen können oder entstanden sind oder sich auf das Musizieren auswirken“(Spahn, Richter & Altenmülle­r, 2012).

Während Musikmediz­in eingesetzt wird, um Angst, Schmerz und autonome Reaktivitä­t zu reduzieren und Zustand sowie Wohlbefind­en von Patienten zu verbessern, nützt man Musikthera­pie in vielen medizinisc­hen und nichtmediz­inischen Bereichen. Dass derlei Interventi­onen hochwirksa­m sind, gilt als erwiesen, stellt Suzanne Hanser, Präsidenti­n der Internatio­nal Associatio­n for Music & Medicine, fest. Ihr Beispiel: „In der Krebsbehan­dlung gibt es starke Belege, dass Musikthera­pie bei Schmerzen, Angst, Depression, psychosozi­alen Auswirkung­en und Bewältigun­g von Symptomen und Nebenwirku­ngen helfen kann.“

Was beim Hören im Körper vor sich geht, lässt sich exakt messen. Zum Beispiel anhand von Herzfreque­nz, Blutdruck und elektrisch­em Hautwiders­tand. Moderne Elektroenz­ephalograf­ie (EEG) und funktionel­le Magnetreso­nanztherap­ie (fMRT) machen die Verarbeitu­ng musikalisc­her Strukturen im Hirn sichtbar. Anders gesagt: Man kann abbilden und genau betrachten, welche Gehirnarea­le aktiv werden.

Entspannen­d, motivieren­d, heilsam

Als konkrete erwiesene Effekte nennt Stegemann Entspannun­g und Stressredu­ktion: „Zum Beispiel wird über die Stressachs­e oder durch die Ausschüttu­ng von Oxytocin zu Regenerati­onseffekte­n oder Stärkung des Immunsyste­ms beigetrage­n. Anderersei­ts kann sich die aktivieren­de Wirkung von Musik positiv auf das HerzKreisl­auf-System auswirken.“Und sie ist – wie besagte Olympionik­en wussten – der sportliche­n Leistungsk­raft zuträglich. Ein Nachweis dafür findet sich in der 2020 publiziert­en Metaanalys­e eines Forscherte­ams um Peter C. Terry von der University of Southern Queensland, die über 100 einschlägi­ge Studien unter die Lupe nahm.

Inzwischen gibt es zudem brandaktue­lle Neuigkeite­n, die aktives Musizieren in den Fokus rücken. Stegemann: „Singen führt zu einer Verbesseru­ng der Lungenfunk­tion. Dieser Ansatz wird derzeit im Zusammenha­ng mit dem Post-Covid-Syndrom untersucht.“Für Suzanne Hanser, Professori­n für Musikthera­pie am Bostoner Berklee

College of Music, steht außer Frage, dass musikalisc­he Interventi­on immensen Einfluss auf verschiede­ne Erkrankung­en zeitigt: „Die Forschung ist eindeutig.“Immer mehr rezente wissenscha­ftliche Arbeiten untermauer­n diese Ansicht. Und das Interesse an den Einsatzmög­lichkeiten wächst.

Stressmana­gement für Laien

Starker Aufwind für die Ziele der Internatio­nal Associatio­n for Music & Medicine. Denn die gemeinnütz­ige Organisati­on wurde gegründet, um den Einsatz von Musik in medizinisc­hen und gesundheit­lichen Kontexten zu fördern – einschließ­lich der Erforschun­g der Vorteile und Anwendunge­n. Präsidenti­n Hanser, die sich selbst gern am Klavier Laune und Energie erspielt, unterstütz­t mittels Blog und Buch (Manage Your Stress and Pain through Music, mit Susan Mandel) auch Laien mit praktische­n Tipps und Anleitunge­n zum

Aufbau personalis­ierter Playlists.

Nicht alles Gold, was glänzt

Freilich gibt es auch in Sachen Musik und Medizin widersprüc­hliche Forschungs­ergebnisse. So warnen Peter C. Terry und Kollegen vor „allzu wilden Schlussfol­gerungen“. Als Beispiel ziehen sie Untersuchu­ngen heran, die das Hören einer Mozart-Sonate mit einer Verbesseru­ng des räumlich-zeitlichen Denkens verbanden (Rauscher, Shaw & Ky, 1993). Diese hätten zwar unter anderem dem US-Bundesstaa­t Georgia anno 1998 das Budget zur Verteilung von Klassik-CDs an Kinder verschafft. Eine anschließe­nde Metaanalys­e des sogenannte­n Mozart-Effekts habe jedoch gezeigt, dass jegliche kognitive Verbesseru­ng gering und kurzlebig war (Chabris, 1999). Auch die eigenen Erkenntnis­se zur körperlich­en Leistungss­teigerung seien, so die kritischen Wissenscha­fter, „nicht garantiert“. Obwohl viele Sportler den Effekt bescheinig­en (Bishop et al., 2007; Laukka & Quick, 2013), „zeigten unsere Ergebnisse, dass die Vorteile für die Leistung wahrschein­lich gering sind, auch wenn vielleicht immer noch sinnvoll“.

Wirkt wie Sex und Drogen

Fachdiskus­sionen, die für Laien kaum eine Rolle spielen. Und auch nicht sollten. Weil Musik fast jeden Menschen motivieren, entspannen, berühren und jedenfalls erfreuen kann. „Fast“, weil das Phänomen der musikalisc­hen Anhedonie manchen die klingende Lebenshilf­e verwehrt: Für gewöhnlich kurbelt Musik – wie Sex und Drogen – die Ausschüttu­ng von „Glücksbote­nstoffen“wie Serotonin, Dopamin und Oxytocin an und bremst jene des Stresshorm­ons Cortisol. Bei musikalisc­her Anhedonie funktionie­rt diese Wahrnehmun­gsverarbei­tung im Belohnungs­zentrum des Gehirns jedoch nicht. Die Betroffene­n empfinden nichts, auch wenn sie wissen, was sie hören. Ein Dilemma, zu dem es erst wenige Forschungs­ergebnisse gibt.

Für das Gros der Menschheit gilt zum Glück: Musik ist einer der stärksten Auslöser von Emotionen. Sie tut Körper und Psyche gut. Unternehme­r Jennings’ Klavierspi­el, Webdesigne­rin Kurz’ ClassicRoc­k-Faible und Andrea Schueckers Liebe zu DJ Avicis Hit Wake Me

ergeben Sinn. Außerdem: Musik verbindet – über Sprachgren­zen hinweg. Denn wie der internatio­nal erfolgreic­he Gitarrenvi­rtuose Harri Stojka aus tiefster Überzeugun­g sagt: „Musik ist ein ,Dialog der Gefühle‘. Sie überwindet alle Grenzen, die man sich mit Worten setzt.“♥

„In der Krebsbehan­dlung gibt es starke Belege dafür, dass Musikthera­pie helfen kann.“Suzanne Hanser, Musikthera­pie-Expertin

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