Gesundheitsdaten – der ungehobene Schatz der Forschung
Anonymisierte Gesundheitsdaten könnten das Gesundheitssystem zum Nutzen der Patient*innen verändern und Forschung und Entwicklung entscheidend voranbringen.
Das österreichische Gesundheitssystem hat durch ELGA flächendeckend Daten zur Verfügung. Was ist das Besondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern?
Brunninger: Österreich ist eines der wenigen Länder Europas, in denen jede*r Bürger*in über eine elektronische Gesundheitsakte verfügt. Jede*r hat die Möglichkeit zum Opt-out von ELGA und bisher haben sich nur rund drei Prozent der Bürger*innen abgemeldet. Darüber hinaus haben wir mit der E-Card als Schlüssel zur elektronischen Gesundheitsakte ELGA ein umfassendes System, in dem Prozesse und medizinische Leistungen abgebildet sind. Im Zuge der COVID19-Pandemie kommt auch der elektronische Impfpass vermehrt zum Einsatz. Im nächsten Ausbauschritt wird das elektronische Rezept als Teil der E-Card-Services im ganzen Land verfügbar sein. Was also Digitalisierung und die Dokumentation von medizinischen Leistungen betrifft, sind wir in Österreich im europäischen Vergleich sehr gut aufgestellt. Aufholbedarf gibt es ohne Zweifel bei der Nutzung von ELGA: Die Gesundheitsakte fungiert derzeit als reine Dokumentationsplattform. Könnte man Diagnosen kodiert erfassen, hätte das große Vorteile für die Arbeit des medizinischen Gesundheitspersonals und damit für die Behandlung von Patient*innen.
Wozu werden direkt im Feld gewonnene Real-WorldDaten in der Forschung gebraucht? Welcher Vorteil ergibt sich aus ihrer Nutzung für Patient*innen?
Stamm: Daten, die außerhalb von klinischen Studien erhoben werden, wie z.B. Gesundheitsdaten aus der Routineversorgung, bezeichnet man als Real World Data. Sie geben Aufschluss über die Wirkungsweise von Behandlungen und Medikamenten im normalen klinischen Alltag und liefern damit zusätzlich zu den Ergebnissen von klinischen Studien wichtige Einsichten, zum Beispiel welche Patient*innen am meisten von bestimmten Medikamenten profitieren. Durch die Einbeziehung solcher Daten können Behandlungen gezielter verabreicht und angepasst werden. Basierend auf diesen Informationen können daher auch Krankheitsbilder besser differenziert werden: Bei Vorliegen bestimmter Biomarker sprechen Patient*innen mit derselben Tumorerkrankung unterschiedlich gut auf bestimmte Medikamente an. Mittels spezifischer Biomarker lässt sich daher eine Krankheit besser differenzieren und die Therapie entsprechend wählen. Dabei werden viele Daten generiert, die man – wenn man sie entsprechend miteinander vernetzt – für weitere Erkenntnisse im klinischen Bereich verwenden kann, auch zum Nutzen von einzelnen Patient*innen. In Österreich fehlen uns zusätzlich zu den klinischen Daten allerdings weitgehend noch Patient Reported Outcomes. Das sind alle Daten, die von Patient*innen selbst berichtet werden, z.B. Messungen von Lebensqualität, Schmerz und Müdigkeit, aber auch dem Zurechtkommen von Menschen im Alltag. Wir sprechen dabei oft von psychosozialen Markern, die ähnlich wie Biomarker zur besseren Ausrichtung der Behandlung auf die individuelle Situation der Patient*innen dienen können. Die Patientenperspektive ist zusätzlich zu objektiven, klinischen Daten enorm wichtig, damit wir wissen: Wie geht es einer Person mit oder nach der Therapie und hat die Behandlung ein zufriedenstellendes Ergebnis gezeigt? Pleiner-Duxneuner: Gesundheitsdaten werden seit vielen Jahren in anonymisierter Form verwendet, erhoben werden sie zumeist in klinischen Studien. Der Nachteil: In klinischen Studien befindet sich nur ein Bruchteil der tatsächlichen Anzahl von Patient*innen. Der Großteil der Daten wird in der klinischen Routine gesammelt und es ist schade, dass dieses Wissen nicht genutzt werden kann – zum Wohl der Patient*innen, aber auch, um Kosten im Gesundheitssystem zu reduzieren.
Wie sehen Sie beim Thema Datennutzung die Rolle der Patient*innen?
Stamm: Im Hinblick auf die Datennutzung beschäftigen wir uns an der MedUni Wien intensiv mit der Patientenperspektive. Dabei fällt immer wieder auf, dass Patient*innen Sorge vor Überwachung haben und befürchten, ihre Daten könnten automatisch und ohne Kontrolle ausgewertet werden. Umso wichtiger ist es, sie aktiv miteinzubeziehen. Das heißt: ihnen Rückmeldung zu geben, wie sich Krankheitsparameter in den letzten Wochen verändert haben und zu ermöglichen, die entsprechenden Daten auch mit anderen Gesundheitsdienstleistern zu teilen. Ich denke, dass dem Thema der Datennutzung mehr Menschen positiv gegenüberstehen würden, wenn sie stets die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten hätten und im Fall einer Krankheit die Vorteile nutzen könnten, die sich aus der Vernetzung ihrer Daten ergeben. Ohne Einbeziehung der Patient*innen und deren Perspektive, ohne den Nutzen davon aufzuzeigen, werden wir beim Thema Nutzung von Gesundheitsdaten nicht vorankommen.
Wo stößt die Digitalisierung im Gesundheitswesen an ihre Grenzen?
Pleiner-Duxneuner: Digitale Lösungen haben im letzten Jahr an Akzeptanz gewonnen. Als forschendes Unternehmen sind wir ständig darum bemüht, unsere Arzneimittel in puncto Wirksamkeit und Sicherheit weiterzuentwickeln. Anonyme Gesundheitsdaten können dazu einen großen Beitrag leisten. Allerdings ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten und berechtigte Bedenken im Umgang mit Gesundheitsdaten sind ernst zu nehmen. An die Grenzen stößt die Digitalisierung, wenn es um die persönliche Beziehung zwischen Ärzt*in und Patient*in geht. Das soziale Miteinander kann nicht ersetzt werden.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung im Umgang mit Gesundheitsdaten auf europäischer Ebene?
Stamm: Aktuell koordinieren wir ein Projekt auf europäischer Ebene, in dem patientenberichtete Daten erhoben, mit klinischen Daten vernetzt und den Patient*innen in brauchbarer Form zur Verfügung gestellt werden. Patient*innen sollen selbst Rückmeldung zum Verlauf bestimmter Symptome erhalten und diese mit Gesundheitsdienstanbietern teilen können. Damit soll das aktive Selbstmanagement der Patient*innen verbessert werden. Eine weitere Frage ist, wie diese Informationen zugänglich gemacht werden und wer darüber entscheidet, welche Daten für wen verfügbar sind. Das gelingt nur, wenn sich alle Stakeholder – von den Patient*innen bis zu den Behörden – ein gemeinsames Modell überlegen. Pleiner-Duxneuner: Die Nutzung von Gesundheitsdaten muss zumindest europäisch gedacht werden. Es bringt nichts, innerhalb nationaler
„Die Mitsprache der Öffentlichkeit ist essenziell, wenn wir auf lange Sicht Gesundheitsdaten nutzbar machen möchten.“
Univ.-Prof. Dr. Tanja Stamm, PhD, MedUni Wien
Grenzen Daten zu sammeln. Allein aufgrund der Größe unseres Landes hätten wir zum Beispiel zu wenige Patient*innen, wenn es um seltene Erkrankungen geht. In Österreich müssen wir allerdings die Voraussetzungen für die Nutzung von Gesundheitsdaten schaffen. Wir verfügen bereits über eine gute Infrastruktur: In ELGA sind Daten von rund 97 Prozent der österreichischen Patient*innen dokumentiert – wichtig ist, diese Daten nutzbar zu machen. Dazu braucht es geeignete gesetzliche Rahmenbedingungen.
Was muss in Zukunft die Digitalisierung für das Gesundheitswesen leisten?
Brunninger: Es ist unbestritten, dass wir alles tun müssen, damit Patient*innen bestmöglich und vor allem auch rechtzeitig behandelt werden. Wir benötigen ein umfassendes Gesundheitsmanagement. Aktuell fühlen sich Patient*innen oft alleine gelassen: Sie suchen unterschiedliche Ärzt*innen auf, es kommt aber selten zu einem Austausch zwischen den Expert*innen. Viele Krankheiten werden erst zu einem späten Zeitpunkt diagnostiziert, die Chance auf Heilung ist somit reduziert. ELGA hat das Potenzial, solche Defizite auszugleichen. Wir sind allerdings gefordert, die Bevölkerung verstärkt aufzuklären und den Wert der elektronischen Gesundheitsakte und der Datenerfassung für jede*n Einzelne*n von uns aufzuzeigen. Es geht nicht nur um den einfachen und unkomplizierten Zugriff auf eigene Daten. Mittels aggregierter und pseudonymisierter Daten könnten wir für eine größere Patientengruppe das Ansprechen auf Therapien besser bewerten.
„Der Gesetzgeber müsste eine Basis schaffen, damit auf deren Grundlage Daten dauerhaft miteinander verschränkt werden können.“
DI Martin Brunninger, MEng, MSc, Dachverband der Sozialversicherungsträger
Was brauchen wir in Österreich, um der Nutzung von Gesundheitsdaten einen Schritt näher zu kommen?
Stamm: Österreich hat bereits in vielen Bereichen gute Voraussetzungen, um Gesundheitsdaten effektiv nutzen zu können. Während der COVID19-Pandemie sind zahlreiche neue Initiativen entstanden. Es gibt aber nach wie vor Bedenken, wenn es um das Teilen von Gesundheitsdaten geht. Daher braucht es gesetzliche Vorgaben und Bestimmungen, die zum Schutz der Menschen unbedingt einzuhalten sind. Jede Person soll über den individuellen Nutzen informiert sein. Die Mitsprache der Öffentlichkeit ist essenziell, wenn wir auf lange Sicht Gesundheitsdaten nutzbar machen möchten.
Pleiner-Duxneuner: Um der verantwortungsvollen Nutzung näher zu kommen, benötigen wir gesetzlich definierte Rahmenbedingungen für die Verwendung von Gesundheitsdaten in der Forschung. In das Gesetzgebungsverfahren müssen sowohl die akademische Forschung als auch forschende Unternehmen eingebunden sein. Statt in der Öffentlichkeit über Opt-in und Opt-out zu diskutieren, sollten wir die Patient*innen in den Fokus stellen und für sie Lösungen entwickeln. Brunninger: Real-World-Daten werden erst dann für das Gesundheitswesen nützlich, wenn gesammelte Daten aggregiert und pseudonymisiert verarbeitet werden können. ELGA wird sich in diesem Punkt möglicherweise weiterentwickeln und keine reine Kommunikationsplattform zwischen behandelnden Ärzt*innen und Patient*innen bleiben. Wenn wir künftig ein effektives und effizientes Gesundheitssystem haben wollen, wird die Verschränkung von Daten eine wesentliche Rolle spielen. Hierfür müssen zunächst Workflows vereinfacht und eine Einigung aller „Eigentümer*innen“erzielt werden.
Wie schnell könnte die Nutzung von Daten geschehen?
Brunninger: Die technischen Möglichkeiten zur Umsetzung sind gegeben. Das hat die Geschwindigkeit gezeigt, mit der während der COVID19-Pandemie Risikogruppen definiert wurden. Die weitere gesetzliche Ausgestaltung obliegt naturgemäß dem Parlament und hängt von der Diskussion im Nationalrat ab. Der Gesetzgeber müsste eine Basis für die dauerhafte Verschränkung von Daten schaffen. Ich denke, wir müssen auf den Erfahrungen aus der Pandemie aufbauen, damit künftig zum Wohl der Patient*innen Daten sinnvoll ausgewertet und genutzt werden.
Wo sieht Roche die eigene Aufgabe im Bereich der Digitalisierung?
Pleiner-Duxneuner: Aus der Digitalisierung ergibt sich für Roche eine Vielzahl von Aufgaben. Unsere Patient*innen sollen digitale Lösungen haben, die bei der Früherkennung von Krankheiten oder der Therapiebegleitung unterstützen. So geben zum Beispiel über eine App erfasste digitale Biomarker darüber Aufschluss, ob eine bestimmte Therapie anschlägt. Die Digitalisierung nutzen wir auch für die Optimierung unserer internen Prozesse, um Lösungen schneller am Markt verfügbar und damit den Patient*innen zugänglich zu machen. Darüber hinaus kommt die Digitalisierung in der Kommunikation mit Ärzt*innen, auf sozialen Medien immer stärker zum Tragen.
Wie funktioniert die digitale Erfolgsmessung einer Therapie?
Pleiner-Duxneuner: In der Neurologie werden beispielsweise mittels Funktionstests die Beweglichkeit und Grob- beziehungsweise Feinmotorik von Patient*innen geprüft. Ein entsprechender Test wird an der Klinik durchgeführt und nach einigen Monaten wiederholt. Mit digitalen Lösungen lassen sich diese Tests wesentlich öfter durchführen, die behandelnden Ärzt*innen erhalten kontinuierlich Messdaten und somit ein viel genaueres Bild über den Verlauf von Erkrankungen.
„Unsere Patient*innen sollen digitale Lösungen haben, die bei der Früherkennung von Krankheiten oder der Therapiebegleitung unterstützen.“
Priv.-Doz. Dr. Johannes Pleiner-Duxneuner, Medical Director Roche Austria