Seltene Krankheit Schilddrüsenkrebs
Während Knoten in der Schilddrüse häufig auftreten, ist Schilddrüsenkrebs vergleichsweise selten.
Mit einer Häufigkeit von rund 10 bis 12 Fällen pro 100.000 Einwohner pro Jahr treten Schilddrüsenkarzinome eher selten auf. In Österreich werden im Schnitt jährlich 800 bis 1000 Neuerkrankungen diagnostiziert. Davon entfallen etwa 50 auf das sogenannte medulläre Schilddrüsenkarzinom, 10 bis 15 davon sind erblich bedingt. Frauen erkranken meist häufiger als Männer. Die Erkrankung kann in jedem Alter auftreten, am häufigsten zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr bzw. ab 60 Jahren.
Anlässlich des Schilddrüsenkrebs-AwarenessMonats September haben wir mit Prim. Univ.-Doz. Dr. Alexander Becherer, Abteilung für Nuklearmedizin am LKH Feldkirch, und Univ.-Prof. Dr. Christian Pirich, Universitätsklinik für Nuklearmedizin und Endokrinologie, Uniklinikum der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) Salzburg, über die verschiedenen Formen der Erkrankung, ihren Verlauf und Therapien gesprochen.
Welche Risikofaktoren begünstigen die Entstehung eines Karzinoms?
Becherer: Ein erhöhtes Erkrankungsrisiko besteht für Personen, die sich Bestrahlungen in der Halsregion unterziehen müssen. Insbesondere sind hier die Strahlentherapie aufgrund von Lymphdrüsenkrebs und Tumoren der Kopf-HalsRegion wie etwa der Kehlkopfkrebs zu nennen. Die Schilddrüse sollte daher nach Strahlentherapie regelmäßig auf Veränderungen untersucht werden – zunächst jährlich, nach zehn Jahren können die Intervalle für die Kontrolluntersuchung verlängert werden. Die kindliche Schilddrüse ist besonders strahlenempfindlich. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl war daher das Schilddrüsenkarzinom bei Kindern und Jugendlichen der Krebs mit dem deutlichsten Häufigkeitsanstieg.
Wie äußert sich Schilddrüsenkrebs?
Becherer: Schilddrüsenkarzinome werden zumeist während Vorsorgeuntersuchungen festgestellt. Dabei werden die Halsgefäße mittels Ultraschalls untersucht; werden Knoten in der benachbarten Schilddrüse entdeckt, müssen diese durch einen Spezialisten hinsichtlich eines möglichen Tumors näher abgeklärt werden. Dies geschieht durch eine Punktion, bei der mit einer feinen Nadel Gewebeproben entnommen und histologisch untersucht werden. Symptome, die man selbst bemerken kann, sind schnell wachsende, schmerzlose Knoten in der Schilddrüse. Im fortgeschrittenen Stadium oder wenn sich der Tumor bereits in umliegendes Gewebe ausgebreitet hat, können Symptome wie Schluckbeschwerden und Heiserkeit auftreten.
Handelt es sich bei Schilddrüsenkrebs um eine Erkrankung oder gibt es unterschiedliche Formen? Gibt es erbliche Komponenten?
Becherer: Schilddrüsenkarzinome werden im Wesentlichen in zwei Gruppen unterteilt: jene, die sich von Schilddrüsenhormon-produzierenden Zellen ableiten – dazu zählen die papillären und follikulären Schilddrüsenkarzinome –, und das medulläre Schilddrüsenkarzinom, welches von den sogenannten C-Zellen der Schilddrüse ausgeht. Die meisten Schilddrüsenkarzinome sind nicht-erblich. Wir sprechen bei nicht-erblichen auch von sporadischen Karzinomen. Papilläre und follikuläre Tumoren machen 90 bis 95 Prozent aller Schilddrüsenkarzinome aus, unter ihnen sind erbliche Formen überaus selten. Bei den medullären Karzinomen macht der vererbbare Anteil etwa ein Viertel aller Fälle aus.
Haben die unterschiedlichen Subtypen einen unterschiedlichen Krankheitsverlauf?
Becherer: Tumoren, die von den Schilddrüsenhormon-produzierenden Zellen ausgehen, haben in der Regel sehr gute Heilungschancen. Sie verfügen weiterhin über die Fähigkeit, Jod aktiv aufzunehmen und stabil im Gewebe zu binden, weshalb diese Karzinome nach der kompletten chirurgischen Entfernung von Schilddrüse und allfälligen Metastasen in den Lymphknoten erfolgreich mittels Radiojod-Therapie behandelt werden können. Sie nehmen das radioaktive Jod so stark auf, dass die lokale Strahlenwirkung etwaige verbliebene Zellen des Karzinoms abtötet. Chemotherapie und Bestrahlung von außen werden bei diesen Tumoren nicht angewendet. Leider entwickeln sich aber manchmal Karzinomzellen weit vom Ursprungsgewebe weg, sodass sie die Fähigkeit der Jodaufnahme verlieren. Dann gewinnt der Tumor an Aggressivität und wird schlechter behandelbar. Medulläre Schilddrüsenkarzinome können nicht mit radioaktivem Jod behandelt werden, weil sie kein Jod speichern. Für sie ist die wichtigste Therapie eine genaue Operation.
Pirich: Bei einer kleinen Gruppe von Patienten entwickeln sich Metastasen. Die meisten Metastasen von differenzierten Karzinomen sprechen gut auf die Radiojodtherapie an, eine kleine Gruppe leider nicht. Diesen Zustand bezeichnet man als Radiojod-refraktär und eine Änderung der Therapie ist notwendig. Dazu ist es wichtig, den molekulargenetischen Status des Tumors zu kennen. Beim Nachweis spezifischer molekulargenetischer Veränderungen wie BRAF-V600EMutationen, RET-Alterationen oder NTRK-Fusionen kann das Vorgehen nach Standardtherapie mit Multikinase-Inhibitoren individuell profiliert werden. Diese Vorgehensweise gewährleistet nicht nur eine höhere Ansprechrate auf die Therapie, sondern ist auch mit einem günstigeren Nebenwirkungsprofil verbunden. Auch die medullären Karzinome können mit neuen Therapieoptionen behandelt werden.
Becherer: Man kennt mittlerweile eine breite Anzahl an genetischen Veränderungen/Alterationen in Zellen des Schilddrüsenkarzinoms; manche davon können sogenannte Treibermutationen sein, die das Tumorwachstum antreiben, sowohl bei erblichen als auch bei nicht-erblichen Formen. Allerdings sind nicht bei allen aggressiven Formen eben diese Treibermutationen feststellbar und momentan ist auch nur für wenige dieser Treibermutationen eine spezifische Therapie zugelassen. Hier liegt die Hoffnung darin, dass es wie gegen viele andere Tumoren bald auch für das Schilddrüsenkarzinom weitere zielgerichtete Medikamente gibt.
Was sind Biomarker? Werden diese in Österreich routinemäßig überprüft?
Pirich: Biomarker sind biochemische oder molekulargenetische Parameter, die zur Diagnosesicherung, Risikobestimmung, und Prognoseeinschätzung und Beurteilung des Ansprechens auf bestimmte Therapieformen eingesetzt werden können. Die oben genannten molekulargenetischen Merkmale betreffen beim Schilddrüsenkarzinom nur eine kleine Patientengruppe. Die Fokussierung der Testung auf diese Patienten mit ungünstigem Krankheitsverlauf ermöglicht die potenzielle Erweiterung der Behandlungsoptionen.
„Differenzierte Schilddrüsenkarzinome haben in der Regel eine gute Chance auf Heilung.“Prim. Univ.-Doz. Dr. Alexander Becherer, Abteilung für Nuklearmedizin am LKH Feldkirch
Die Entwicklung zielgerichteter Therapeutika hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen.
Welche Rolle spielen diese in der Therapie des Schilddrüsenkarzinoms?
Becherer: Einige der modernen Therapien wirken gut, auch wenn keine speziellen genetischen Veränderungen im Tumorgewebe nachweisbar sind. Mehrere neue medikamentöse Entwicklungen greifen speziell an veränderten Genen an und behindern so den Tumor zielgerichtet in seinem Stoffwechsel, damit er nicht weiterwächst, ja sogar deutlich schrumpft. Das attraktive an diesen neuen Medikamenten ist, dass sie, je gezielter sie am Tumor ansetzen, umso besser verträglich sind. Kein Vergleich mehr mit den Nebenwirkungen, die wir von klassischer Chemotherapie kennen. Diese Medikamente revolutionieren auch die Behandlung des fortgeschrittenen Schilddrüsenkarzinoms, mit der Einschränkung, dass sie nicht generell wirksam sind. Die passenden genetischen Veränderungen, gewissermaßen das Schloss, in das der Schlüssel des Medikaments passt, müssen vorhanden sein. Das erbliche medulläre Schilddrüsenkarzinom zeigt deshalb besonders gute Ansprechraten, weil es immer durch Veränderungen in einem Tumorspezifischen Genkomplex verursacht wird, die einen Angriffspunkt für die Therapie darstellen. Ein unkritischer Versuch des Einsatzes dieser Medikamente ist aber wegen der hohen Kosten nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt, z.B. wenn besonderer Zeitdruck besteht und man nicht auf die etwas zeitaufwändigen Genanalysen warten kann.
Bei Vorsorgeuntersuchungen werden die Halsgefäße mittels Ultraschalls untersucht.
Welchen Einfluss haben molekulargenetische Biomarker auf das Verständnis um seltene Erkrankungen wie das Schilddrüsenkarzinom?
Pirich: Sie sind ein wichtiger Puzzlestein der modernen Krebstherapie. Deren Diagnostik ermöglicht es den Behandlungszentren, Patienten mit einem schweren oder komplexen Krankheitsverlauf gezielte Therapien anbieten zu können. Gleichzeitig erweitern sie unser Krankheitsverständnis.
Das Schilddrüsenkarzinom ist eine der Tumorerkrankungen, die hinsichtlich ihrer Genetik am besten entschlüsselt sind, und der Erkenntnisgewinn der letzten Jahre hat das therapeutische Spektrum erweitert. So gibt es nun erste Anzeichen, dass wir künftig auch Patienten mit einem anaplastischen Schilddrüsenkarzinom, der aggressivsten und am schlechtesten behandelbaren Form, besser versorgen und ihre Überlebensprognose steigern können.
„Molekulargenetische Biomarker sind ein wichtiger Puzzlestein der modernen Krebstherapie und machen den Einsatz gezielter Therapien für Patienten mit schwerem oder komplexem Krankheitsverlauf möglich.“
Univ.-Prof. Dr. Christian Pirich, Uniklinik für Nuklearmedizin und Endokrinologie, Uniklinikum PMU Salzburg