Das Pionierinnen-Problem
Im Rahmen des Netzwerk-Events „Ich bin ein Gesundheitswesen“wird Lisz Hirn ein Impulsreferat zu „Gendergap an der Spitze des Gesundheitswesens oder fehlender Führungsanspruch von Frauen?“halten. Wir konnten im Vorfeld mit der Philosophin sprechen.
Medizin weiblich denken
„Eine der großen Herausforderungen ist, Frauen im Gesundheitswesen sichtbarer zu machen: ihre Leistungen, aber auch als Patient:innen. Wir müssen weg von der Vorstellung des Standardkörpers, der historisch männlich, ist und uns vermehrt an den spezifischen Bedürfnissen von Frauen orientieren hinsichtlich ihrer Behandlung und Diagnose“, so die Philosophin Lisz Hirn. Dazu gehört auch, die medizinische Ausbildung darauf auszurichten, die Medikamentenforschung anzupassen und Aspekte wie Menstruation und die Wechseljahre mitzudenken. „Die klassische medizinische oder pflegerische Ausbildung erfolgt nach standardisierten Normen, eine diversifizierte Herangehensweise an den/die Patienten ermöglicht, den Blick auszuweiten, und sensibilisiert – auch in Richtung Innovation und künftige Therapien“, so Lisz Hirn.
Im Gesundheitsbereich sind etwa 80 Prozent der Beschäftigten weiblich, in den Führungsebenen spiegelt sich dies nicht wider. Trauen sie sich etwa zu wenig zu, oder liegt es rein am Spannungsfeld der Vereinbarkeit von Beruf und Familie? „Natürlich ist Letzteres ein Thema. Aber es gibt auch genügend Frauen, die sich gegen Kinder entscheiden, und trotzdem sehen wir hier einen Unterschied auf Führungsebene“, so Lisz Hirn. „Es gibt viele sozialwissenschaftliche Studien, aber das erklärt noch nicht, warum in
Lisz Hirn, Philosophin
manchen Bereichen trotzdem Frauen zu wenig präsent sind. Manchmal scheint es, als trauen sie sich nicht, dass es eine Frage von Selbstbewusstsein und Selbstverständlichkeit ist. Man könnte es als Pionierinnen-Problem bezeichnen: die Vorstellung, dass man – egal in welchem Beruf – die erste Frau ist, die sich diesen Job zutraut, und umso mehr leisten muss.“Traditionelles Rollendenken und Klischees vermitteln in der Öffentlichkeit oft den Eindruck, dass zum Beispiel junge Mädchen und Frauen in technischen Berufen nun endlich erste, vorsichtige Schritte wagen könnten, „dabei“, so Hirn, „gab es immer schon Frauen, die in all diesen Bereichen tätig waren“. Ist man als Frau in einer Führungsposition erfolgreich, stößt man ebenfalls auf Klischees und Vorurteile: Schwierigkeiten bei der Partnersuche aufgrund des höheren sozialen Status oder sich dafür rechtfertigen zu müssen, trotz Familie und Kindern Karriere zu machen. „Die Gründe sind also vielfältig. Ich denke aber, ein wichtiger Schritt wäre es, Frauen zu mehr Selbstverständnis zu ermutigen, sich nicht ständig für ihre beruflichen Ambitionen rechtfertigen zu müssen.“
Aus der Geschichte lernen
Lisz Hirn ist selbst in einem Bereich tätig, der im öffentlichen Bewusstsein historisch männerdominiert ist: „Ich habe es immer als selbstverständlich gesehen, was ich mache. Interessanterweise hat mich ein Professor aufmerksam gemacht, dieses Geschlechterthema in der Philosophie näher zu betrachten. In der Geschichte gab es immer schon eine Vielzahl von Frauen, die sich mit Philosophie und Geisteswissenschaften beschäftigt haben – in den Archiven liegen zahlreiche Handschriften, die nie übersetzt oder aufgearbeitet wurden, und ihre Arbeiten sind in der Öffentlichkeit unbekannt. Das betrifft nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern auch das ‚geistige Leben‘. Im Mittelalter etwa gab es genügend Frauen, die wohlsituiert waren und mit ökonomischem Geschick die Finanzierung von kirchlichen Stiften gesichert haben, wie zum Beispiel die Hl. Hemma von Gurk. Überliefert ist aber das Bild der pflegenden Frau, die sich um ihre Familie kümmert, und nicht das der tatkräftigen Frau mit Führungsanspruch, den sie zu ihrer Zeit zeigte. Wenn man sich die Geschichte ansieht, merkt man schnell, dass über die Jahrhunderte Frauen auch aus medizinischen Berufen verdrängt wurden.“Diese Geschichte aufzuarbeiten, darüber zu lesen und zu sprechen, könnte helfen, Geschlechterklischees aufzubrechen, „und auch unseren seltsamen Umgang damit, wie wir Frauen und Männer bewerten – was sie dürfen und was nicht“.