Österreich hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Ist das so?
Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern scheint Österreich den Anschluss zu verlieren. Welchen Anspruch haben wir an die qualitativ hochwertige Versorgung der österreichischen Patient:innen? Wie kann es gelingen, den Schritt in die Zukunft zu schaffen?
Diese Fragen werden auf dem diesjährigen Europäischen Forum Alpbach im Rahmen einer Publikumsdebatte im Oxford-Stil, die einen regen Austausch zwischen Redner:innen und dem Publikum ermöglicht, diskutiert. Bei diesem Format halten die Redner:innen der Pro- und Kontraseite abwechselnd ein Anfangsplädoyer, in dem sie ihre Argumente vorstellen. Danach hat das Publikum die Chance, sich in 1-minütigen Statements oder Fragen direkt an einzelne Redner:innen zu wenden. Ein Moderator sorgt für die Einhaltung der Redezeit und leitet die Schlussabstimmung zu den Streitfragen. Gewinner ist die Seite mit dem größten Zuwachs an Stimmen.
In Alpbach werden wichtige Themenstellungen wie Innovation, Versorgung und Nutzung von Gesundheitsdaten thematisiert: Katharina Reich, Sektionsleitung Öffentliche Gesundheit und Gesundheitssystem, CMO BMSGPK, und Thomas Czypionka, Leiter des Bereichs Health Economics and Health Policy, IHS Vienna, werden vor Ort die Pro- bzw. Kontraseite einnehmen, als Moderatorin fungiert Michaela Fritz, Vizerektorin für Forschung und Innovation an der MUW.
Wie innovationsfreudig ist das österreichische Gesundheitssystem?
Reich: Der Wille zur Innovation ist in Österreich bei den Menschen und Institutionen klar spürbar. Wir arbeiten intensiv daran, den Zugang zu Gesundheitsversorgung möglichst niederschwellig zu gestalten. Dazu gehört, dass Patient:innen über einen sogenannten Best Point of Practice versorgt werden und sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen können und nicht automatisch den einfachsten und gleichzeitig teureren Weg in die Spitalsambulanzen suchen. Das erfordert aber auch Gesundheitskompetenz der Patient:innen. Unterstützung würde hier das geforderte Berufsbild des Facharztes für Allgemeinmedizin bieten, der Patient:innen auf dem Weg durch das Gesundheitswesen lenkt.
Czypionka: Im österreichischen Gesundheitssystem geschieht viel über Planung und staatliche Konstruktionen. Und dadurch fehlt es an Innovation, vor allem was Versorgungsprozesse betrifft. Bei uns gibt es keine oder kaum Testräume – wie etwa in Deutschland – zur Evaluation, welche Ideen die Versorgungssituation verbessern können. Danach wird überprüft, ob sich diese Ideen bewähren. Und so etwas gibt es in Österreich eigentlich nicht. Die Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems geht sehr schleppend vor sich und wir lösen die Probleme der Integration der Versorgung zu langsam.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen in Bezug auf die Versorgung von Patient*innen in Österreich?
Reich: Gesundheitsförderung und eine Stärkung des Präventionsbewusstseins in der Bevölkerung sind dabei essenziell. Damit wir hier erfolgreich sind, müssen diese Leistungen vermehrt von der Sozialversicherung übernom
„Der Wille zur Innovation ist in Österreich bei den Menschen und Institutionen klar spürbar“
Katharina Reich, Sektionsleitung Öffentliche Gesundheit und Gesundheitssystem, CMO BMSGPK
„Im österreichischen Gesundheitssystem geschieht viel über Planung und staatliche Konstruktionen.“
Thomas Czypionka, Leiter des Bereichs Health Economics and Health Policy, IHS Vienna
men werden. Darüber hinaus sollte ein Umdenken geschehen – weg von der Spezialmedizin und hin zu einem breiteren und niederschwelligen Pfad durch das Gesundheitswesen. Mit den Primärversorgungszentren und den aktuellen Verhandlungen zur Schaffung des/r Fach:ärztin für Allgemeinmedizin wird an diesem wichtigen Punkt im Sinne der Patient:innen gearbeitet. Czypionka: In Österreich fehlen vernünftige Anreize, Leistungen im extramuralen oder ambulanten Bereich in Anspruch zu nehmen. Wir haben bei den Vertrags:ärztinnen Deckelungen, was dazu führt, dass Patient:innen für bestimmte Leistungen schneller ins Spital geschickt werden, weil es diesen Deckel dort nicht gibt. Auch ist es bei Geburten für die Patientin erheblich günstiger, stationär zu entbinden, als dies ambulant zu tun. Im Spital muss sie sich nicht selbst um eine Hebamme oder kinderärztliche Nachbetreuung kümmern, es gibt keinen Selbstbehalt, draußen fallen jede Menge Kosten an und man muss alles selbst organisieren. Es gibt auch nach wie vor massive Probleme in der Integration der Versorgung, die nicht gelöst werden, weil wir nicht den Anreiz haben, neue Modelle zu überlegen und umzusetzen. Da sind uns viele Länder schon voraus, wo es integrierte Zentren gibt, die sich in einem interdisziplinären Team um eine spezielle Gesundheitsproblematik kümmern. Das erhöht die Qualität der Versorgung enorm.
Wie kann die Nutzung von Gesundheitsdaten Innovation in Österreich vorantreiben?
Reich: Es gibt noch immer viele Patient:innen, die mit ihren gesammelten Befunden bei Ärzt:innen vorstellig werden. Hätten alle Beteiligten Zugriff auf die gleichen elektronischen Daten, würde man nicht Gefahr laufen, Informationen auf dem Weg zu verlieren. Dazu muss aber der/die Patient:in im Besitz dieser Daten sein, sie steuern und freigeben können. Das fördert ihre Autonomie und Bereitschaft, Gesundheitsentscheidungen mitzutragen und macht gleichzeitig den Weg für Innovation frei. Der/Die Ärzt:in kann schneller auf Veränderungen im Gesundheitszustand reagieren und Betroffene rechtzeitig einer weiterführenden Behandlung zuweisen.
Czypionka: Wir arbeiten bei unseren Analysen mit Daten, die rein zum Zweck der Administration des Systems gesammelt werden und sind deshalb im Wesentlichen auf Daten anderer Länder angewiesen. Im Sozialversicherungsbereich gibt es die Pflicht, Daten der letzten acht Quartale zu speichern. Diese Regelung stammt aus einer Zeit, als Speicherplatz nur gering vorhanden war – für eine umfassende Analyse von Krankheitsverläufen oder Verwaltungsprozessen ist das zu wenig. Darüber hinaus kann auf Daten nicht zentral zugegriffen werden, sie liegen bei unterschiedlichen Stakeholdern, die diese auch oft nicht zur Verfügung stellen. Wir brauchen für die Zukunft eine Veränderung der Datenkultur und die Voraussetzungen, Daten über Sektorengrenzen hinweg miteinander verknüpfen zu können.
Das Gesundheitssystem von morgen
Der Publikumsdebatte folgt ein visionärer Ausblick in die Zukunft des Gesundheitssystems. Wenn alle Probleme des Gesundheitssystems von heute auf morgen einfach verschwunden wären – wie könnte ein modernes Gesundheitssystem aussehen? „Die Covid19-Pandemie hat eindrücklich gezeigt, dass sich Krankheiten nicht für Ländergrenzen interessieren. Das hat in der Europäischen Union viele Fragen aufgeworfen, wie wir in Gesundheitsfragen künftig zusammenarbeiten sollen“, sagt Claudia Gamon, Abgeordnete des Europäischen Parlaments, NEOS. Sinnvolle Kompetenzverteilungen und ein starker Austausch zwischen den Gesundheitsbehörden kann dazu beitragen, grenzüberschreitenden Krisen besser entgegentreten zu können. „Die Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe stellt eine enorme Innovationsleistung dar. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie Forschung und Innovation erfolgreich gelingen können, wenn der politische Wille da ist, intensiv in diesen Bereich zu investieren. Denn nur so kommen wir dem Ziel einen Schritt näher, dass alle Bürger:innen der Europäischen Union gleichen Zugang zu allen Medikamenten haben, unabhängig davon, in welchem Land sie leben.“
Gemeinsam stärker
„Der Schlüssel zum Wandel im Gesundheitssektor liegt meiner Meinung nach in der Vernetzung und Zusammenarbeit aller Stakeholder“, ist Susanne Erkens-Reck, General Manager von Roche Austria, überzeugt. „Die Zukunft von Diagnostik, Therapie und Prävention entsteht im Austausch aller Stakeholder, wobei der einzelne Mensch in eine aktivere Rolle als bisher kommt. Patient:innen nutzen heute immer häufiger digitale Gesundheitsanwendungen einfach und diskret am Handy, um ihre Erkrankungen zu managen und Therapieentscheidungen zu treffen – sie nehmen ihre Gesundheit selbst in die Hand.“Ein Kernthema der anstehenden Vernetzung ist der Austausch von anonymisierten Gesundheitsdaten, die strukturierte Erhebung, das Teilen und Auswerten dieser Informationen. „Das würde unsere Versorgung effektiver und effizienter machen und auch der Gesellschaft insgesamt zugutekommen“, sagt Erkens-Reck. Eine Voraussetzung dafür ist die Digitalisierung im Gesundheitsbereich: „Die Pandemie hat uns gelehrt, dass wir durch Digitalisierung viel schneller und effizienter auf globale Herausforderungen reagieren können. Wenn man dieses Potenzial für die Bekämpfung aller Krankheiten nützt, sind wir wirklich auf dem Weg zu einer Transformation des Gesundheitswesens.“