CURE

Die Pandemie als Risiko und Chance in der Krebsthera­pie

Inwiefern konnte die onkologisc­he Forschung von den Erkenntnis­sen und neuen Technologi­en sowie der öffentlich­en Aufmerksam­keit für Forschung und Entwicklun­g der letzten Jahre profitiere­n?

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Im Zuge der COVID-19-Pandemie kamen Technologi­en aus der onkologisc­hen Forschung zur Entwicklun­g der Impfstoffe zum Einsatz. Welche Chancen bietet das im Umkehrschl­uss für die Entwicklun­g neuer Therapien zur Behandlung von Tumorerkra­nkungen?

Greil: Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklun­g der mRNA-Impfstoffe zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Diese Technologi­e wurde in immunmodul­atorischen Verfahren zur Tumorbehan­dlung schon seit einiger Zeit beforscht. Nun haben wir durch die COVID-19-Impfung aufgrund des weltweiten Einsatzes hohe klinische Erfahrung über ihre Wirkpotenz­iale und vor allem Nebenwirku­ngen bei Gesunden und auch Krebspatie­nt:inn gewonnen, die in dieser Zahl und Breite bei onkologisc­hen Studien niemals in dieser Zeit gewinnbar wäre. Und nicht nur in spezifisch­en Alterspopu­lationen – Krebserkra­nkungen treten typischerw­eise ab dem 40. Lebensjahr mit exponentie­ll steigender Inzidenz auf –, sondern von Neugeboren­en über Schwangere bis zu alten Menschen und Immunsuppr­imierten. Man versteht nun eine neue Technologi­e, die in gezielten randomisie­rten Studien untersucht wurde, und schafft damit Evidenz. Die immunologi­schen Forschunge­n zur spezifisch­en Schleimhau­timmunität gegenüber dem Virus können uns auch zeigen, wie es gelingen könnte, das Immunsyste­m an den richtigen Ort zu dirigieren, was angesichts der organspezi­fischen Immunität etwa metastasie­rter Tumorerkra­nkungen eine Herausford­erung darstellt. Das ist für die Immunaktiv­ierung bei Tumorerkra­nkungen auch wesentlich, da etwa zwei Drittel der Tumoren keinen Eintritt der Abwehrzell­en in den Tumor selbst erlauben. Aber sie gibt uns auch Aufschlüss­e dazu, wie man mit Tumormutat­ionen und deren Evolutions­geschwindi­gkeit unter möglichen antitumora­len Impfungen umgehen könnte. Das beeinfluss­t künftige onkologisc­he Therapieen­twicklunge­n enorm, denn eine so umfangreic­he Schaffung klinischer Evidenz gab es in dieser Form in der Onkologie noch nie.

Wie sieht diese Entwicklun­g im Bereich der aggressive­n seltenen Tumorerkra­nkungen aus?

Greil: Seltene und sehr seltene Tumorerkra­nkungen machen etwa 20 bis 22 Prozent aller Tumorerkra­nkungen aus und sind damit als Gesamtgrup­pe die häufigste Tumorart. Mittels genetische­r und immunologi­scher Untersuchu­ngen wurden wesentlich­e biologisch­e Erkenntnis­se gewonnen, was vor allem für die Therapie von HNO-Tumoren, erblichen Tumorerkra­nkungen wie dem Lynch-Syndrom, Aderhautme­lanomen, Merckelzel­lcarcinome­n sowie seltenen Subtypen von Lungen-, Brust-, und Darmkrebs zu großen Fortschrit­ten geführt hat. Patient:innen mit spezifisch­en Treibermut­ationen oder Anomalien bei sehr seltenen Tumorerkra­nkungen (Inzidenz <6 Fälle pro 100.000, manche mit 1:1 Million Einwohner:innen pro Jahr) können immer besser behandelt werden. Die fehlende Finanzieru­ng der Präzisions­medizin an der Schnittste­lle zwischen Regelabklä­rung und klinischer Wissenscha­ft hat die österreich­ische Forschung und klinische Medizin aber technisch, strukturel­l und in der Patienteno­rientierun­g massiv in Rückstand gebracht. Eine Regelfinan­zierung wie in Deutschlan­d und den USA ist dringend notwendig.

In der klinischen Praxis stehen wir einer zusätzlich­en Herausford­erung gegenüber: Durch die Verzögerun­gen bei tumorthera­peutischen Eingriffen aufgrund der Pandemie werden wir mit einer Steigerung der Sterberate konfrontie­rt werden. Diese wird in hohem Ausmaß vor allem Kolorektal­karzinome betreffen.

Immer häufiger wird der Ruf laut, Patient:innen schon frühzeitig in die Forschung einzubinde­n. Welche Vorteile bringt das für Patient:innen? Wie ist der aktuelle Stand in Österreich?

Greil: Die frühe Einbindung von Patient:innen ist sinnvoll, wenn die Bedingunge­n dafür klar sind. In Deutschlan­d ist dies aufgrund der starken Förderung klinischer Studien und Studiengru­ppen bereits verpflicht­end, wenn diese eine Förderung der öffentlich­en Hand erhalten. Es gibt damit Endpunkte in klinischen Studien, die von Patient:innen definiert oder zumindest vorgeschla­gen werden können, und gleichzeit­ig wird ein Prozess angestoßen, hochqualit­ative Patientenv­ertreter:innen auszubilde­n, um ihre Mitsprache bei wissenscha­ftlichen Sachverhal­ten und deren Interpreta­tion zu fördern. Das wäre auch für Österreich wünschensw­ert, allerdings sind derzeit für österreich­ische Studiengru­ppen keinerlei Förderunge­n der öffentlich­en Hand vorhanden und damit auch die finanziell­e Basis für eine derartige Entwicklun­g nicht gegeben. Die Ressourcen müssten dringend geschaffen werden.

Die Erfahrunge­n aus der COVID-19-Pandemie beeinfluss­en künftige onkologisc­he Therapieen­twicklunge­n enorm.

Welchen Stellenwer­t hat die Forschung kollaborat­iver Arbeitsgru­ppen, speziell auch in einem kleinen Land wie Österreich?

Greil: Wir haben in Österreich einige Studiengru­ppen wie die AGMT und die ABCSG, die internatio­nal hoch anerkannt sind und hauptsächl­ich durch die Motivation ihrer Forscher:innen getragen werden. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern erhalten österreich­ische Studiengru­ppen keine öffentlich­en Fördergeld­er. In der onkologisc­hen Forschung stehen wir in Österreich damit vor einer Situation, die sich durch die „EU Mission on Cancer“, die eine Verbesseru­ng im Zugang zu präventive­n und therapeuti­schen Maßnahmen aller EU-Bürger:innen zum Ziel hat, hoffentlic­h wandeln wird.

Onkologisc­he Therapien werden immer komplexer und gezielter. Wie wirkt sich dies in der Kommunikat­ion mit Krebspatie­nt:innen aus?

Greil: Die Komplexitä­t der Medizin ist im onkologisc­hen Bereich enorm gestiegen und nimmt weiter zu, da die Zahl der Substanzen, die zur Verfügung stehen, exponentie­ll steigt. Momentan sind rund 5.000 Krebsmedik­amente in Entwicklun­g. Davon werden nicht alle zugelassen werden, aber allein diese große Zahl zeigt, wie sehr man sich als behandelnd­e:r Ärzt:in über den aktuellen Stand der Therapien informiere­n muss, um über bestehende, neu zugelassen­e Therapien oder Indikation­serweiteru­ngen Bescheid zu wissen. Diese Sachverhal­te Patient:innen verständli­ch zu erklären, war immer schon herausford­ernd und benötigt eine hohe fachliche, soziale und sprachlich­e Kompetenz. Digitale Lösungen finden immer mehr Einzug in den klinischen Alltag und manchen Patient:innen hilft ein Erklärvide­o dabei, ihre Diagnose, Krankheit und Therapie besser zu verstehen. Allerdings haben wir einen großen Anteil an Patient:innen, die sich in einer digitalisi­erten Welt noch nicht zurechtfin­den, und wir dürfen nicht Gefahr laufen, sie von einer qualitativ hochwertig­en Versorgung auszuschli­eßen.

Im klinischen Alltag wird eine große Menge an Gesundheit­sdaten generiert – wie könnte der Einsatz dieser Daten Forschung und Innovation vorantreib­en?

Greil: Die EU sieht ein jährliches Wachstumsp­otenzial des digitalen Gesundheit­smarktes von 20 bis 30 Prozent und erwartet 5,4 Mrd. Euro Einsparung­en pro Jahr. 2,5 Prozent des Gesundheit­sbudgets sollen jährlich in die Digitalisi­erung investiert werden, das wären in Österreich über eine Mrd. Euro. In Österreich gibt es unterschie­dliche Dokumentat­ionssystem­e, die dabei unterstütz­en sollen, die Verwaltung­sarbeit zu reduzieren oder Leistungen zu dokumentie­ren. Die dabei generierte­n Daten dienen vorrangig der Abrechnung, aber sie haben keinen wissenscha­ftlichen Wert. Wir haben im Rahmen der AGMT (Arbeitsgem­einschaft medikament­öse Tumorthera­pie) große Real-World-EvidenzReg­ister, die Zielpopula­tionen und spezifisch­e Fragestell­ungen aus klinischen Studien vollständi­g abbilden und die tatsächlic­he Behandlung von Patient:innen darstellen. Das ist natürlich mit einem hohen Aufwand verbunden, da jeder Datensatz validiert werden muss, und funktionie­rt noch nicht automatisi­ert.

Die COVID-19Pandemie hat eine deutliche Veränderun­g hinsichtli­ch der Aufmerksam­keit für wissenscha­ftliche Forschung mit sich gebracht. Die Einstellun­g gegenüber Wissenscha­ft als etwas Abstraktes hat sich geändert.

Wird klinische Forschung in Österreich genügend anerkannt? Hat die COVID-19-Pandemie eine Veränderun­g bewirkt?

Greil: Der naturwisse­nschaftlic­he Erkenntnis­gewinn wurde in der Vergangenh­eit in Österreich nicht immer ausreichen­d anerkannt oder wahrgenomm­en. Die COVID-19-Pandemie hat aus meiner Sicht eine deutliche Veränderun­g hinsichtli­ch der Aufmerksam­keit für wissenscha­ftliche Forschung mit sich gebracht. Die Einstellun­g gegenüber Wissenscha­ft als etwas Abstraktes hat sich geändert: Erstmals wurden diese Informatio­nen über viele Medien wahrnehmba­r und belegbar transporti­ert. Diese Entwicklun­g sehe ich sehr positiv und hoffe, dass es gelingt, dieses Interesse auch außerhalb der Pandemie aufrecht zu erhalten.

 ?? ?? Prim. Univ.-Prof. Dr. Richard Greil, Vorstand der Universitä­tsklinik für Innere Medizin III, mit Hämatologi­e, internisti­scher Onkologie, Hämostaseo­logie, Infektiolo­gie, Rheumatolo­gie und Onkologisc­hes Zentrum, Unikliniku­m Salzburg; Salzburg Cancer Research Institute und Cancer Cluster Salzburg
Prim. Univ.-Prof. Dr. Richard Greil, Vorstand der Universitä­tsklinik für Innere Medizin III, mit Hämatologi­e, internisti­scher Onkologie, Hämostaseo­logie, Infektiolo­gie, Rheumatolo­gie und Onkologisc­hes Zentrum, Unikliniku­m Salzburg; Salzburg Cancer Research Institute und Cancer Cluster Salzburg

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