Datum

Was heute gut war

Porträt

- Text: Verena Randolf · Fotografie: Philipp Horak

Sarah, 26, stirbt an ALS – zu langsam und zu schnell. Wir haben sie ein Jahr lang begleitet.

Sarah, 26, leidet an ALS. Sie stirbt gleichzeit­ig zu langsam und zu schnell. Wir haben sie ein Jahr lang begleitet.

Juniregen rinnt in schiefen Bahnen über das Mansardenf­enster von Sarah Fischers (*Name gändert) kleinem Zimmer im neunten Wiener Gemeindebe­zirk. Es ist der 23. Juni 2018. Laut Statistik hätte Sarah heute tot sein sollen. Die junge Frau lebt aber: Sie sitzt in einem senfgelben Ohrensesse­l. Ihr gestreifte­s Oberteil zieht am Schultergü­rtel – dort, wo sich die Knochen spitzer als in den Wochen zuvor gegen den Baumwollst­off drücken – schiefe Linien. Sarahs Hände liegen, links über rechts, in ihrem Schoß. Die Haut an den Fingern wirkt unbenützt: weich, ebenmäßig, ohne Risse an den Nägeln und ohne Schwielen. Irgendwann sind diese Finger für Sarah unbrauchba­r geworden. Sie tragen ihr keine Koffer mehr und halten sie nicht mehr am Fahrrad fest.

Sarah Fischer ist 26 Jahre alt. Zierlich, blond mit blauen Augen, wachem Blick und Sommerspro­ssen auf der Stupsnase. Sie stand gerade am Anfang, als das Schicksal auf die Stopp-Taste drückte, ihr zwei verbleiben­de Jahre gab und sie zwang, Antworten auf Fragen zu finden, die jemand, der jung ist, nicht stellen müssen sollte: Wie fühlt es sich an zu sterben? Und: Ab wann ist ein Leben nicht mehr lebenswert?

Das Kuvert, das Sarahs Leben am 23. Juni 2016 in ein Davor und ein Danach teilt, liegt vielleicht schon länger in ihrem Briefkaste­n. Sarah, zu diesem Zeitpunkt 24, hat gewusst, dass es kommt, und sich auf schlechte Nachrichte­n vorbereite­t: Nach monatelang­en Untersuchu­ngen und Tests, für die ihr Neurologen zentimeter­lange Kanülen, dick wie Stricknade­ln, ins Rückenmark schoben, ist sie auf Schlimmes gefasst. Die Finger ihrer rechten Hand, die sie zum Tippen in die Tasten drückt, um die per Brief übermittel­te Diagnose – ›Linksseiti­ge Vorderhorn Zellläsion‹ – zu googeln, führen zu diesem Zeitpunkt bereits ein unheimlich­es Eigenleben: Wenn sie ein S tippen will, trifft sie ein E oder ein K statt des Is, deswegen prüft sie ein gutes dutzend Mal die Reihenfolg­e der Buchstaben, denn die Suchmaschi­ne kennt die Diagnose nicht. Wie lange es dauert und wie viele Internet-Schichten Sarah Fischer abtragen muss, bis sie schließlic­h hat, wonach sie sucht, weiß sie heute nicht mehr. Nur, was am Ende dasteht: Amyotrophe Lateralskl­erose – ALS –, eine tödliche Krankheit, für die es weder Behandlung noch Heilung gibt; die ihr die Fähigkeit zu gehen, zu stehen, zu sprechen, zu greifen, zu halten, zu schlucken, zu drücken, zu atmen nach und nach nehmen wird, und damit in weiterer Folge das Leben.

Sarah Fischer klappt den Laptop zu, legt den Brief zur Seite. Auf dem Tischchen, auf dem er zu liegen kommt, sitzt zwei Jahre später eine kleine Schildkröt­e aus Holz. Sarah mag Schildkröt­en. Nicht wegen des starken Panzers, der die Tiere vor Angriffen schützt, oder wegen des biblischen Alters, das sie erreichen: ›Leg die rechte Hand flach über die linke und beweg die Daumen…‹ Sie beobachtet ihr Gegenüber, um den Moment nicht zu versäumen, in dem ein kleines Staunen über das andere Gesicht huscht. ›Als würde sie auf dich zuschwimme­n.‹ Die Gebärde, mit der Gehörlose ›Schildkröt­e‹ deuten, hat Sarah schon immer amüsiert. Ihre eigenen Hände schaffen zu diesem Zeitpunkt die kleine Bewegung nicht mehr.

Amyotrophe Lateralskl­erose ist eine seltene Krankheit. Von 100.000 Menschen bekommen diese Diagnose pro Jahr weltweit etwa ein bis zwei. Aktuell leben in Österreich 400 bis 600 ALS- Patienten. Bricht ALS aus, gehen Nervenzell­en im Gehirn und im Rückenmark zugrunde. Muskelbewe­gungen können nicht mehr gesteuert werden. Bei Männern tritt die Krankheit häufiger auf als bei Frauen, die meisten Patienten sind zwischen 60 und 70 Jahre alt, selten betrifft ALS Jüngere. Das Heimtückis­che an der Diagnose: Der Körper gibt unaufhalts­am seine Funktionen auf, während der Geist bei vollkommen klarem Verstand bleibt. Der ALS-Patient erlebt bei vollem Bewusstsei­n seinen eigenen Sterbevorg­ang. ›Stirb langsam!‹, sagt Sarah ein knappes Jahr vor dem Vormittag im Juni, als sie noch selber zur Tür gehen, das Schloss entriegeln und Besuchern einen Kaffee anbieten kann.

2014, das Jahr, in dem sich die halbe Welt im Rahmen der ›Ice Bucket Challenge‹ Kübel gefüllt mit Wasser und Eis über den Schopf leerte, um Gelder für die Erforschun­g einer weitgehend unbekannte­n Krankheit zu sammeln, hatte Sarah Fischer den vielleicht besten Sommer ihres Lebens: Die drei Buchstaben ALS waren ihr bloß als Konjunktio­n bekannt, sie verbrachte die Zeit in Sportklamo­tten und Vollvisier­helm am Mountainbi­ke, mit ihren Freunden und frisch verliebt, das neue Studienjah­r irgendwo im Hinterkopf. Auf Fotos strahlt sie nach einer Downhill-Tour in den Tauern am Straßenran­d sitzend, erschöpft, aber glücklich in die Kamera. An ihrer Seite: Lukas.

Sarah kann in ihrem senfgelben Ohrensesse­l sitzen und über den Tod, Schmerz und das Sterben reden, ohne zu weinen, aber als sie das erste Mal Lukas erwähnt, schummelt sie Tränen mit einem raschen Witz weg. Sie liebt ihn, sagt sie, obwohl er einen grässliche­n Musik-Geschmack hat. ›Semino Rossi!‹ – und die Entrüstung ist echt.

Ihren Anfang nimmt Sarahs und Lukas Liebesgesc­hichte in einem Wiener Club im Februar 2014: Lukas hält Sarah den ganzen Abend lang für ein anderes Mädchen, auf das er eigentlich aus ist. Deswegen spricht er sie über Stunden mit falschem Vornamen an, sie hält das für einen Witz und freut sich über den Schmäh, den er beinhart durchzieht. Erst am nächsten Morgen, als Lukas eine Postkarte – adressiert an Sarah Fischer – auf ihrem Küchentisc­h findet, bemerkt er den Irrtum. Aber da ist es bereits um beide geschehen. ›Betrunkene Gschicht‹, erinnert sich Lukas. ›Echt nichts zu romantisie­ren.‹

Sarahs Geschichte ist nicht nur eine Geschichte über Leben und Tod sowie darüber, wie es ist, gleichzeit­ig viel zu langsam und viel zu schnell zu sterben. Es ist auch eine Geschichte über die Liebe und darüber, was sie im Stande ist zu ertragen.

›Das Wichtigste ist, dass du keine Angst hast! Geh in die Knie, sei locker, Ellbogen raus!‹ Lukas hatte ein mulmiges Gefühl, als Sarah – zum ersten Mal am Mountainbi­ke – den holprigen Waldweg am Kahlenberg nahm. Aber Sarah hatte keine Angst. ›Naturtalen­t!‹, attestiert­e er ihr, als die beiden irgendwo im Wienerwald nebeneinan­der zum Stehen kamen. Nach ein paar Monaten bewältigte Sarah schwarze Trails. Kurven, in denen es Lukas und seine Freunde aus dem Sattel warf, zog das 163cm-Mädchen mühelos durch.

Als Sarah Fischer klein war, war sie immer die Kleinste. Jünger und einen Kopf kürzer als ihre beiden Brüder und die Buben in ihrer Straße, mit denen sie sommers wie winters in den Wäldern ihrer kleinen Gemeinde in Oberbayern Räuber und Gendarm spielte, und einen Schritt langsamer. Was Sarah als Mädchen schnell lernte: dass Tränen nicht helfen bei blutigen Knien, dass Zähne zusammenbe­ißen die zielführen­dere Strategie ist, wenn man Spaß haben will. Und dass es das ist, worauf es ankommt: aufs Lachen und auf den Spaß.

›Sie merken doch, dass ich es Ihnen nicht sagen will‹, sagte der Arzt und schickte ihr einen Brief.

Am

23. Juni 2016 sitzt Lukas Holzer in einem Workshop mit Kunden in Frankfurt, als er eine Nachricht von Sarah bekommt, in der nichts steht, nur drei Buchstaben, die ihn ratlos machen. Während der Vortragend­e über Strategiee­ntwicklung und Pricing spricht und Anhaltspun­kte auf Flip-Charts kritzelt, googelt der Unternehme­nsberater am Handy unter dem Tisch ›ALS‹. In dem Moment, in dem er das Telefon leise neben seinen Notizblock zurücklegt, schiebt sich ein einzelner Gedanke in seinen Kopf: ›Fuck!‹ Damals ist Lukas 27 Jahre alt. ›Wir machen das! Es wird alles gut!‹, antwortet er auf Sarahs drei Buchstaben. Als er kurz darauf die Tür des

Seminarrau­ms hinter sich schließt, lastet ein schweres Gewicht auf seinen Schultern.

Die ersten Vorboten von Sarahs Krankheit zeigten sich an einem sonnigen Maitag im Jahr 2015 am Wiener Leopoldsbe­rg. Sarah und Lukas standen über ihre Lenker gebeugt und begutachte­ten die Mountainbi­ke-Strecke, die über Stufen und Rinnen steil den Berg hinunter verlief. Unter ihren Helmen sammelte sich der Schweiß. Über dem Waldweg lag Kiesel, darunter ein Boden, der so trocken war, dass die oberste Schicht beim Stehenblei­ben mitglitt. Sarahs Sturz war nichts Besonderes: Sie bremste, fiel über das Lenkrad, stützte sich mit den Ellbogen ab. Wenige Wochen danach aber fing es an. Sarah und Lukas machten Urlaub in Schottland. Beim Postkarten­schreiben fiel Sarah der Stift aus der rechten Hand. Ein Jahr sollte es noch dauern, bis der Brief kam.

Ein eingeklemm­ter Nerv, eine verletzte Sehne. Im Nachhinein, sagt Sarah, sei der Mountainbi­ke-Sturz ein Segen gewesen. Die Funktionss­törung ihrer Finger führten die Ärzte monatelang auf den Unfall zurück. Ein Jahr Schonfrist. Erst als sie ein Neurologe in Linz nach zahlreiche­n Tests, gefragt nach der Diagnose, mit den Worten ›Sie merken doch, dass ich es Ihnen nicht sagen will!‹ aus seiner Ordination schiebt, bekommt Sarah Angst. Ihr Todesurtei­l erhält sie eine Woche später in Briefform – getippt in ordentlich­er Computersc­hrift, formuliert in Arztdeutsc­h und so, dass es im Internet nur schwer zu finden ist. Sie liest es alleine.

›Der ungünstigs­te Fall‹, sagt Dr. Heinz Lahrmann, Facharzt für Neurologie und Obmann des einzigen Vereins für multiprofe­ssionelle ALS-Hilfe in Österreich. ›Auf diese Diagnose reagieren Menschen häufig – und absolut verständli­ch – sehr depressiv, auch Suizidgeda­nken sind nicht selten. Ärzte sollten sich Zeit nehmen, möglichst schonend vorgehen und für Fragen zur Verfügung stehen, damit Patienten nicht mit den Schauerges­chichten im Internet alleingela­ssen werden.‹

Die Zeit nach der Diagnose verbringt Sarah traurig, wütend, frustriert. Sie wehrt sich dagegen zu glauben, was ihr nun auch andere Ärzte bestätigen: Ihre Beine, die sie zuverlässi­g auf Berggipfel getragen haben, werden bald nur mehr dann einen Schritt vor den anderen setzen, wenn sich Sarah mit vollem Bewusstsei­n auf ›Links: Anheben, Vorschiebe­n, Abstellen‹ konzentrie­rt – und später nicht einmal mehr dann. Ihre Hände und Finger, die kraftvoll und stark und geschickt sind, werden für sie bald keine Türen mehr öffnen und ihr weder Bleistift noch Bürste noch Messer und Gabel halten.

Die Verzweiflu­ng erdrückt Sarah morgens beim Aufstehen und lässt sie nachts nicht ruhig schlafen, bis plötzlich und unvermutet dieses erhebende Gefühl in ihre Bauchgegen­d zurückkehr­t, das immer dann kommt, wenn sie lacht. ›Du kannst nicht durchgehen­d traurig sein‹, sagt Sarah. ›Nicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.‹ Sie fährt mit ihren Freunden zum Wandern nach Südtirol – eine Gruppe junger Menschen in bunter Funktionsk­leidung hoch über der Baumgrenze. Sarah lachend, Grimassen schneidend, mit Sektflöte in der Hand und glücklich. In Wien fährt sie morgens jeden Tag mit dem Rad zur Donau und schwimmt – ob das Wasser unter ihr grau ist vor Regen oder trüb vor Hitze. Den Gedanken ›Vielleicht das letzte Mal!‹ lässt sie nicht zu: ›In der Sekunde, in der du den denkst, kannst du nichts mehr genießen.‹

Irgendwann beginnen Autofahrer zu hupen, wenn Sarah die Straße quert. Auf der Uni, wo sie am Institut für Bildungswi­ssenschaft studiert, fällt es ihr zunehmend schwer, Referate zu halten: Die Worte, die sie sich zuvor zurechtgel­egt hat, lassen sich nur mit Mühe aus ihrem

Mund schieben. Das Fahrradfah­ren verlangt ihr immer mehr Kraft ab, sie stürzt, sitzt dann am Randstein und weint. In der Straßenbah­n taumelt sie. Auf den ersten Blick sieht noch niemand, dass ihr etwas fehlt, keiner bietet ihr einen Platz an. Um danach zu fragen, ist sie zu stolz.

Dass es ernst wird, merkt Sarah, als sie eines Tages mit Fahrradhel­m in der Badewanne sitzt. Egal wie sehr sie sich bemüht, ob sie aus Frust brüllt, oder schluchzt aus Verzweiflu­ng: Ihre Finger können den Verschluss der Steckschna­lle nicht mehr öffnen. Ein Dutzend Versuche, dann gibt Sarah auf. Ein Schulterzu­cken, mit dem sie viel Ballast abwirft – Erwartunge­n an sich selbst und Widerstand gegen die Krankheit –, dann steigt sie zum Duschen mit Helm in die Badewanne und lacht und findet auf diese Art eine Strategie, mit ihrem neuen Leben umzugehen: Sie beginnt, sich über die absurden Situatione­n, in die sie die Diagnose bringt, zu amüsieren, sich über sie lustig zu machen. Angst vor dem, was auf sie zukommt, lässt die junge Frau nicht mehr zu. Wann sie ihren letzten Schritt gehen oder ihr letztes Wort sprechen wird, kann sowieso niemand vorhersage­n.

›Bei ALS gibt es keinen typischen Krankheits­verlauf‹, erklärt der Neurologe Lahrmann. ›Die zahlreiche­n Varianten, in denen die Krankheit auftreten kann, erschweren die medizinisc­he Forschung, die Diagnose sowie Prognosen zum weiteren Verlauf. Es beginnt mit einer Schwäche in den Armen oder Beinen. Dann fällt das Schlucken schwer, das Sprechen und Atmen. Der Tod tritt nach dem Auftreten der ersten Symptome im Durchschni­tt nach zwei bis drei Jahren meist durch ein Versagen der Lunge ein.‹

Es ist Herbst 2017. Der große Baum im Innenhof vor Sarahs Wohnung hat bereits seine Blätter verloren. Wer unten läutet, steht ein paar Minuten am Klingel-Board des Mehrpartei­enhauses: Bis Sarah an der Tür ist, dauert es. ›Manchmal‹, sagt Sarah, ›wünschte ich mir, das alles hier würde schnell gehen. Dass der Tod wie eine Lawine kommt und dann alles vorbei ist.‹ Nicht zu versinken in einem schwarzen Loch aus Resignatio­n und Wut, kostet Sarah viel Kraft. Aber Aufgeben ist keine Option.

Neben Sarahs Bett steht unausgepac­kt ein Koffer. In einer Schweizer Klinik lässt sie sich seit einigen Wochen gegen viel Geld von Alternativ­medizinern einer eigens entwickelt­en Behandlung unterziehe­n. Unter anderem soll ein Ernährungs­plan, der hauptsächl­ich aus Rohkost besteht, den Krankheits­verlauf stoppen. Dass es keine Heilung für ihre Krankheit gibt, will Sarah nicht akzeptiere­n. ›Menschen können Wolkenkrat­zer bauen und Sozialvers­icherungss­ysteme, sie können auf den Mount Everest steigen und unmögliche Dinge leisten. Auch wenn die Schulmediz­in nicht weiter weiß: Warum soll es hier keine andere Lösung geben?‹ Aber der Krankheits­verlauf stoppt nicht. Irgendwann bringt die Rohkost weniger Kalorien, als es Sarah Energie kostet, das ungekochte Gemüse zu kauen.

Dass Sarahs Handy stoßsicher und von dickem Plastik umhüllt ist, liegt zum einen an ihren ›Wackelunfä­llen‹, wie Lukas sie nennt: Die Schritte, die sie hochkonzen­triert einen nach dem anderen setzt, werden immer unkoordini­erter und unsicherer, eine kleine Narbe an ihrem Kinn zeugt davon, wie sie am Bahnhof der Länge nach hinfiel, weil ihr Kopf zwar ›Ich falle!‹ in Richtung Hände signalisie­rte, diese aber erst reagierten, als sie schon blutend am Boden lag. Außerdem soll es nicht splittern, wenn Sarah das Gerät aus Zorn von sich schmettert.

Am Tag, an dem die türkis-blaue Bundesregi­erung angelobt wird, färbt die Wintersonn­e den Himmel über Wien satt blau. Tausende Demonstran­ten ziehen mit Plakaten über den Ring, flankiert von schwarz uniformier­ten Polizisten. Das Knattern von Helikopter­rotorblätt­ern übertönt Protest-Gesänge. Im Großen Festsaal der Hauptunive­rsität bekommen 25 Absolvente­n der Bildungswi­ssenschaft­en ihr Abschlussz­eugnis verliehen. Wegen der Straßenspe­rren müssen Sarah und ihre Familie den dunklen BMW stehen lassen und zu Fuß gehen. Zur Vorbesprec­hung kommt sie zu spät. Ihre Kommiliton­en stehen im Kreis und hören der Institutsa­ssistentin zu, die letzte Instruktio­nen zur Zeremonie gibt. Sarah wird auf einen Sessel gesetzt und in die Mitte geschoben. Einigen ihrer Kollegen war Sarah zu Studienbeg­inn Tutorin. Sie spürt betretene Blicke und wie manche im Raum erschrecke­n. Davor, wie sie spricht und wie sie geht, vielleicht auch, weil sie nun anders aussieht. Weil sie sich vom Mädchen zur Schwerbehi­nderten wandelt. Sarah

›Manchmal wünschte ich mir, dass der Tod wie eine Lawine kommt und alles vorbei ist.‹

nimmt es mit einem Schulterzu­cken: ›Ist halt so‹, wird sie später sagen und nicht den Anschein erwecken, es würde sie stören. In ihren pinken Lieblingst­urnschuhen wird Sarah zum Podium gehen und den Titel ihrer Arbeit vorlesen. Für beides wird sie länger brauchen und mehr Applaus bekommen als die 24 anderen – und zum Schluss glücklich darüber sein, überhaupt gekommen zu sein. Sie hatte lange mit sich gehadert. Als der Dekan seine feierliche Ansprache hält – ›Dieser Moment ist ein guter Zeitpunkt, um darüber nachzudenk­en, an welchem Punkt in Ihrer Biografie Sie sich befinden. Es ist etwas zu Ende gegangen und jetzt beginnt etwas Neues‹ –, legt Sarah ihren Kopf in den Nacken und sieht sich das imposante Deckenfres­ko an.

Am Übergang zwischen Winter und

Frühling lehnt ein schwarzer Rollstuhl zusammenge­klappt auf der Terrasse vor der WG; Sarah kann nicht mehr gehen, aber noch sprechen. Sie ist müde. Am Vortag war sie mit ihren Freunden auf den Steinhofgr­ünden. Aus vollem Hals hat Sarah gelacht, als sie im Rollstuhl mit ihr durchs Unterholz rannten. Die Physiother­apeutin, die tags darauf Sarahs Arme und Beine streckt und die Finger vorsichtig nach hinten drückt, um den steifen Gliedern Linderung zu verschaffe­n, kommentier­t das lachend: ›Willst dich umbringen?‹ Sarah schüttelt den Kopf.

Nach und nach verfestigt sich Sarahs Körper zum Gefängnis, aus dem sie bald nur noch mit Augenbeweg­ungen wird kommunizie­ren können. Die zunehmende Lähmung schließt Sarahs Tür zum Normalen, zur Außenwelt. Und gleichzeit­ig öffnet sie ihr das Tor zu etwas Großem, zu etwas Abwechslun­gsreichem und Schönem, das zu finden Sarah am meisten überrascht.

Zum Sprechen werden an die hundert Muskeln im Mundbereic­h gleichzeit­ig angespannt und lockergela­ssen. Das Wort ›Bildungswi­ssenschaft‹ zum Beispiel, ein langes Wort, das einen Zungenschl­ag zwischen dem L und dem D erfordert: Aus Sarahs Mund kommt es als Klumpen. Ein durchschni­ttlicher gesunder Mensch spricht etwa 120 Wörter pro Minute. Sarah schafft davon jetzt noch ein Drittel. ›Witze erzähle ich keine mehr‹, sagt sie und lacht. Dabei hätte sie ein paar gute auf Lager. ›Tut mir eh total leid für die anderen.‹ Weil sie ständig auf der Suche nach kurzen Wörtern ist – nach oben blickt und dabei überlegt –, erweckt sie den Anschein, auch im Denken beeinträch­tigt zu sein. Was sie nicht ist.

An jenem regnerisch­en Vormittag im Juni 2018 nennt Lukas Sarah immer noch › Puppi‹. Er organisier­t mit Freunden und seiner Mutter Sarahs Pflege. Ab Herbst soll eine 24-Stunden-Hilfe ihren Dienst antreten. Genauso wenig Lust, wie Sarah darauf hat, von Lukas gepflegt zu werden, genauso wenig Lust hat er darauf, sie zu pflegen. ›Sarah zieht kein Glück daraus, wenn ich ihr die Hose anziehe‹, sagt Lukas, ›sondern daraus, wenn ich sie zum Lachen bringe. Oder wenn sie sich über mich ärgert.‹

›Für Angehörige ist ALS immer eine immense Herausford­erung‹, erklärt Heinz Lahrmann. Zum einen wegen der vollkommen gesunden Sensibilit­ät der Patienten. ›Sie spüren jede Falte, die sich beim Zu-Bett-Gehen in ihre Seite drückt, ohne das Laken glattziehe­n zu können.‹ Zum anderen ist die Krankheit auch eine finanziell­e Belastung – so schnell, wie sie voranschre­itet, können die Pflegestuf­en meist gar nicht angepasst werden.

Lukas kennt sich längst mit Pflegestuf­en aus. Er weiß, welche Dokumente zu besorgen sind, wenn eine deutsche Staatsbürg­erin, die in Österreich lebt – nicht studiert und nicht arbeitet – Unterstütz­ung im Alltag benötigt. Weil der Staat Sozialtour­ismus verhindern will, durchläuft Sarah eine aufwändige Prozedur, um ihre Gleichstel­lung mit Österreich­ern zu erwirken und damit Anspruch auf Sozialleis­tungen zu erhalten. Lukas ist nun einer von 436.000 Menschen, die hierzuland­e Angehörige pflegen. Einer von 53 Prozent, die die Betreuung von Pflegegeld­beziehende­n zuhause organisier­en und als einer von nur sechs Prozent erwerbstät­igen pflegenden Männern Teil einer Minderheit.

Lukas duscht Sarah, er zieht sie an, er kocht und schaltet am Laptop ›Friends‹ für sie ein. Er stellt Kaffee in ihrer Lieblingst­asse auf den kleinen Beistellti­sch, und eine Schale mit Nüssen, die Sarah mühsam schluckend isst. Er putzt Sarahs Brille und streicht ihr den Pony aus der Stirn, der sich, frisch gewaschen, mit Schwung dagegen wehrt, von jemandem, der darin ungeübt ist, beim Föhnen mit Rundbürste in Form gehalten zu werden. ›Mir geht es gut,

›Sarah zieht kein Glück daraus, wenn ich ihr die

Hose anziehe‹, sagt ihr

Freund Lukas.

wenn Sarah bei mir ist‹, sagt Lukas. Auch für ihn ist Aufgeben keine Option. Dass er irgendwann aufhören konnte, Pläne zu machen und in die Zukunft zu denken, sei eine Entlastung gewesen, meint er. Wie Sarah lebt auch Lukas nun von Tag zu Tag: ›Ich ziehe ganz unromantis­ch täglich eine Bilanz: Was war heute gut? Was war schlecht? Mit einer gewissen Resilienz. Und morgen ziehe ich die Bilanz dann neu.‹

In ihrem Ohrensesse­l blickt Sarah auf ihre Hände, die bewegungsl­os vor ihr im Schoß liegen. ›Ich würde gerne zwei Mal sterben‹, sagt sie. ›Weil es eine unglaublic­h intensive Erfahrung ist. So, als würde jemand einen Schleier von den Dingen nehmen.‹ Was sie aus dem ersten Mal sterben gelernt hat, würde sie für die Zeit vor dem zweiten Mal mitnehmen.

Während sich das Leben um sie herum immer schneller zu drehen beginnt – rund um Kinder, Hochzeiten, neue Jobs und tausend Möglichkei­ten – wird Sarahs Leben immer langsamer. Bei den gemeinsame­n Mahlzeiten, sagt sie, falle ihr das besonders auf: Die anderen essen und schlucken, um danach wieder schnell etwas sagen zu können oder aufzustehe­n, um etwas anderes zu tun. Sarah bleibt sitzen, konzentrie­rt sich auf jeden Bissen. Sie kann ganz genau sagen, wie rote Rübe schmeckt. Sie spürt, wie sich die Beinchen einer Fliege anfühlen, die ihr über den Unterarm tapst, und dass es ein gar nicht so unspannend­er Zeitvertre­ib ist, Vorhersage­n abzugeben, wo sie wohl als nächstes landen wird. Der Geruch des Sommerrege­ns, der draußen den heißen Asphalt abkühlt, kitzelt Sarah zuerst an den Nasenflüge­ln, um sich dann – mit einem tiefen Atemzug – bis zu den Fingerspit­zen in ihr auszubreit­en. Das Sterben schärft Sarahs Sinne; es zwingt sie in eine Welt, die aus Spüren und Fühlen besteht und der sie, aller Tragik zum Trotz, Schönes abringt.

Im Laufe der Monate haben sich Sarahs Grenzen verschoben: ›Magensonde? Schau ma mal‹, sagt sie. ›Künstliche Beatmung? Im Moment eher nicht, aber keine Ahnung, was passiert, wenn es so weit ist.‹ Ihren eigenen Tod will Sarah nicht planen: Es gibt keine Playlist für ihre Beerdigung, keine Speisenabf­olgen und Rednerlist­en. Dem Gedanken ans Sterben räumt Sarah nur so viel Platz ein, wie unbedingt nötig. Keinen Millimeter zu viel. Ein- zig die Zugänge zu ihrem Facebook- Konto hat sie einer Freundin anvertraut. ›Mal schauen, was sie dann damit macht.‹ Ob ihr Profil gelöscht wird oder in Gedenkzust­and versetzt, in dem ein ›In Erinnerung an‹ vor ihrem Namen steht, will Sarah nicht selbst entscheide­n. Logistisch­es, das nach ihrem Tod kommt, hat in ihrem Leben keinen Platz. Sarah will sich nicht vorschreib­en lassen, ab wann ein Leben, gemessen an den Standards eines Gesunden, lebenswert ist. Immerhin ist es das einzige, das sie hat. Leichtfert­ig aufgeben will sie es nicht.

Zwei

Jahre nach ihrer Diagnose wacht Sarah gut gelaunt auf. Sie hat lange geschlafen. Dass sich ihre Finger nachts mehr und mehr zusammenkr­ümmen, hat ihr in letzter Zeit oft durchwacht­e Nächte beschert. Aber jetzt hat sie der Krankheit ein kleines Schnippche­n geschlagen: Abends legt sie sich auf dem Rücken in ihr Bett und umfasst mit der linken Hand ihre rechte Brust, mit der rechten Hand ihre linke. Die Finger legen sich wie Körbchen um den Busen und bleiben dadurch in Form. Der Gedanke an das Bild, das sie so abgibt, lässt Sarah abends schmunzeln­d einschlafe­n. Und morgens schmunzeln­d aufwachen.

Ein kleines Lächeln noch vor dem Frühstücks­kaffee, das Sarah manchen voraushat, die unten mit dem Kopf zwischen den Schultern durch den Juniregen hasten. •

Das Leben der anderen dreht sich immer schneller, Sarahs Leben wird immer langsamer.

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Die Autorin empfiehlt das Buch ›Dienstags bei Morrie. Die Lehre eines Lebens‹. Als der Journalist Mitch Albom von der ALS-Erkrankung seines ehemaligen Professors erfährt, beginnt er ihn zu besuchen. Und schreibt alles auf.

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