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Franziska Tschinderl­e und Florian Rainer

- Text: Franziska Tschinderl­e · Fotografie: Florian Rainer

waren zwei Wochen im Kosovo und in Albanien unterwegs. In acht Städten. Auf Bergen und an der Adria. Im Zelt und im Hotel. Sie reisten den sogenannte­n ›Schatzis‹ hinterher. So wird im Kosovo die Diaspora genannt, die einmal im Jahr nach Hause zurückkehr­t und viel Geld mitbringt.

Kosovo lebt vom Geld seiner Auswandere­r. Im Sommer kehren sie zurück und lassen sich feiern.

An Bord der kleinen Adria-Airlines-Maschine JP 838 ist jeder Platz ausgebucht. Die Passagiere haben Schwierigk­eiten, Stauraum für ihr Handgepäck zu finden. Eine junge Frau mit Jeansjacke und Birkenstoc­ksandalen fragt ihren Sitznachba­rn, ob sie am Fenster sitzen könne. Klar, sagt er – ein Mittzwanzi­ger mit Hugo-Boss-Shirt und Diesel-Uhr. Er streckt ihr die Hand hin – ›Hi, ich bin Liridon‹ – sie lächelt, ›Liridona‹. Die beiden kommen ins Gespräch. Über den albanische­n Vornamen, den sie sich teilen. Über den Sommer, den sie in der alten Heimat verbringen werden. Einer Heimat, die ihnen eigentlich fremd ist. Darüber, ein ›Schatzi‹ zu sein.

Ein was? Liridon und Liridona schmunzeln. Im Kosovo ist dieses deutsche Wort weit verbreitet. So nennt man Mitglieder der Diaspora, die unter dem Jahr Geld nach Hause schicken und im Sommer zurückkehr­en. Albaner, die in Wien, Zürich oder München leben – und deren Verwandte in einem der ärmsten Länder Europas zurückgebl­ieben sind. ›Meine Cousins im Kosovo verdienen 200 Euro im Monat‹, sagt Liridon – und nach einer kurzen Pause: ›Ich kaufe mir Schuhe für so viel Geld!‹

In weniger als eineinhalb Stunden hat die kleine Maschine einen großen Teil des Westbalkan­s überflogen – Slowenien, Kroatien, Bosnien und Teile Serbiens und Montenegro­s. Hier lag einmal Jugoslawie­n. Als der Vielvölker­staat in den Neunzigerj­ahren gewaltsam zerfiel, flohen Hunderttau­sende Familien aus ihrer alten Heimat. So wie Liridon und Liridona. So wie die meisten Passagiere, die heute in der Maschine JP 838 sitzen.

Sie sind Albaner aus dem Kosovo, die seit zehn, zwanzig oder mehr Jahren in Deutschlan­d, Österreich oder der Schweiz leben. Viele von ihnen haben zu Beginn auf Bau-

stellen oder in der Gastronomi­e gearbeitet. Sie gründeten Familien und bekamen Kinder. Sie bauten Häuser, lernten eine neue Sprache. Irgendwann bekamen sie einen neuen Pass. Aber viele ließen ihre alte Heimat nie los – so trostlos sie auch wirken mag. Man merkt, dass man im Flugzeug über dem Kosovo schwebt, weil plötzlich viele kleine Würfel in der flachen Landschaft auftauchen. Fast so, als hätte ein Riese mit Bausteinen gespielt. Bei näherem Hinsehen erkennt man darin die Konturen unverputzt­er Ziegelstei­nhäuser, die verstreut auf den Feldern stehen. Man sieht sofort, welche Familien ein ›Schatzi‹ im Ausland haben. Ihre Häuser sind vollständi­g – haben Fassade, Balkon und Gartenzaun. Kosovo

ist flächenmäß­ig in etwa so groß wie Kärnten. Hier leben 1,8 Millionen Menschen – so viele wie in Wien oder Hamburg. Die Diaspora erscheint im Vergleich dazu gewaltig. Sie wird laut offizielle­n Angaben auf 800.000 Menschen geschätzt. Inoffiziel­l könnten es über eine Million sein. Die ›Schatzis‹ schicken regelmäßig Geld nach Hause – für Lebensmitt­el, Medikament­e, Feuerholz oder Häuserfass­aden. Im Kosovo ersetzen die ›Schatzis‹ das, wofür eigentlich der Staat zuständig wäre. Weil es kein Sozialsyst­em gibt, springt die Familie ein. Dadurch hat sich ein eigener Finanzkrei­slauf entwickelt. Weil jeder Dritte ein ›Schatzi‹ im Ausland hat und jeder Vierte Geld zugesandt bekommt, häufen sich Summen an, die es mit dem Staatshaus­halt aufnehmen können. Die Zentralban­k mit Sitz in Pristina schätzt, dass das Land jährlich 1,5 Milliarden Euro an seiner Diaspora verdient.

Im Sommer kehren die ›Schatzis‹ zurück. Dann verwandelt sich der Kosovo in eine nicht enden wollende riesige Partyzone. Es wird getrunken, gefeiert und geheiratet. Man hört Sportwägen durch die Straßen röhren, die ausländisc­he Kennzeiche­n tragen. Die Clubs sind bis früh am Morgen geöffnet. Festivals werden organisier­t und Gratiskonz­erte veranstalt­et. Zum Beispiel in Ferizaj – einer Stadt im Süden des Landes, wo einmal im Jahr zu Ehren der Diaspora ein Feuerwerk über den Plattenbau­ten gezündet wird. Der Marktplatz ist voller Tische, Bänke und Luftballon­s. Die Menschen stehen dicht gedrängt vor der Bühne, wo ein Volkssänge­r albanische Popsongs singt. Am Rande steht ein junges Mädchen – 17 Jahre vielleicht – die im schweren Schweizer Dialekt spricht. Sie tanzt, wie Albaner tanzen. Mit den Armen über dem Kopf, die Hüften leicht schwingend. So, dass es federleich­t aussieht. Wie ist das, ein ›Schatzi‹ zu sein? Ihre Antwort folgt prompt: ›Du bist nicht hier und nicht dort zu Hause‹, sagt sie. Viele werden das im Laufe dieser Recherche sagen. Denn eine Geschichte über ›Schatzis‹ ist nicht nur eine über Wohlstand und Reichtum. Sie erzählt von Zerrissenh­eit und Heimweh. Und von der Schwierigk­eit, Wurzeln zu schlagen, weil man zwischen zwei Welten lebt. Die Frage, wer oder was ein ›Schatzi‹ ist, führt uns in aussterben­de Dörfer ebenso wie in überfüllte Pools. Sie erzählt von Menschen, die internatio­nal bekannte Fußballer und Pop-

Was, wenn sich die nächste Generation von der Heimat entfremdet und kein Geld mehr schickt?

stars geworden sind, ebenso wie von Menschen, die alles verloren haben. Es geht um Wirtschaft­spolitik, die nicht von Ministern, sondern von Hunderttau­senden Familien betrieben wird. Und um eine Frage, von der das Schicksal eines ganzen Staates abhängt. Wie lange noch? Wenn sich die nächste Generation von ihrer Heimat entfremdet und irgendwann kein Geld mehr schickt – was passiert dann?

Die Sternchen

Bes Bujupi hört oft, dass er skandinavi­sch aussehe. Dann erzählt er – mit britischem Akzent – dass er als Kind mit seiner Familie aus dem Kosovo geflüchtet ist. Heute sitzt Bujupi – ein erfolgreic­her Grafiker aus London – im Soma. Das Soma ist ein angesagtes Hipster-Restaurant in Pristina mit Bücherrega­len an der Wand und großer Terrasse. Hier trinkt der Präsident seinen Morgenkaff­ee.

Hier trifft sich alles, was Rang und Namen beziehungs­weise Geld hat – Künstler, Journalist­en, Regisseure, Diplomaten. Bujupi mag den Ausdruck ›Schatzi‹ nicht besonders. Die ›Schatzis‹, das seien die Machos, die im Club mit Scheinen werfen. ›Ich will nicht gedankenlo­s Geld überweisen, sondern mein Know-How hierherbri­ngen‹, sagt Bujupi. In Pristina hat er die erste DesignKonf­erenz organisier­t. Dieses Jahr war er Teil des Teams rund um das ›Sunny Hill Festival‹, das vom wohl berühmtest­en ›Schatzi‹ des Landes abgehalten wird. Dua Lipa ist eine britische Sängerin mit kosovo-albanische­n Wurzeln. Sie hat mehrere Jahre in Pristina gelebt und spricht deswegen fließend Albanisch. Derzeit ist sie einer der meistgekli­ckten Popstars auf Youtube und spielt ausverkauf­te Shows auf der ganzen Welt. Wenn Dua Lipa am Flughafen von Pristina landet, dann ist das ganze Land in Aufruhr. Die Menschen lieben sie nicht nur für ihre Musik, sondern weil sie dem schlechten Image des Landes neuen Glanz verleiht. Ihr Instagram- Account mit 18 Millionen Followern ist für den Kosovo mehr wert, als jeder Eintrag in einem Reiseführe­r. 20 Jahre nach dem Krieg denken viele Menschen immer noch, dass es gefährlich ist, hierherzur­eisen. Wenn ein internatio­nal erfolgreic­her Superstar wie Dua Lipa Fotos vom Partymache­n in Pristina postet und auf Albanisch schreibt, wie sehr sie ihre Heimatstad­t vermisst hat, dann hat das politische Sprengkraf­t. Denn der Kosovo kämpft um seinen Platz auf der internatio­nalen Bühne. Fünf EU-Mitgliedsl­änder – Griechenla­nd, Slowakei, Zypern, Spanien, Rumänien – erkennen ihn nicht als Staat an. Russland und China verhindern als ständige Mitglieder des Sicherheit­srats seine Aufnahme in die Uno. ›Es wirkt, als hätte jemand eine große Mauer um den Kosovo gebaut‹, bedauert Grafiker Bes Bujupi.

Die Hochzeitsp­lanerin

Die Mauer, von der Bujupi spricht, hat einen Namen: Visumpflic­ht. Der Kosovo ist das einzige Land Europas, dessen Bürger Europa nicht frei bereisen dürfen. Nachdem das EU-Parlament im September grünes Licht für die Abschaffun­g der Visumpflic­ht gab, stehen die Chancen aber gut, dass Reisen in EU-Länder für die Kosovaren ab kommendem Jahr erstmals seit den Zeiten Jugoslawie­ns wieder ohne Visum möglich werden. Derzeit müssen sie auf der Botschaft zahlreiche Formulare ausfüllen, ihren Kontostand offenlegen und oft monatelang warten. Wer in die EU oder die Schweiz einreisen will, der braucht außerdem einen guten Grund – Arbeit, Universitä­t, Sportwettk­ampf. Verwandte in Wien oder Zürich zu besuchen, beziehungs­weise auf eine Hochzeit in Stuttgart zu gehen, gehört nicht dazu. Und so kehrt die Diaspora zum Heiraten in den Kosovo zurück.

Shemsije Dermaku hat daraus ein Geschäftsm­odell gemacht. Sie sagt: ›Ohne die Diaspora wäre ich nie Hochzeitsp­lanerin geworden‹. Im September 1999 – wenige Monate nach den NATOBombar­dements – organisier­te sie ihre erste Hochzeit. Damals waren im ganzen Land keine frischen Blumen aufzutreib­en. Die Menschen hatten andere Sorgen, weil ihre Häuser zerstört und ausgebrann­t waren. In den Nachkriegs­jahren schickte die Diaspora Dermaku VHS-Kassetten mit Videoaufna­hmen US-amerikanis­cher Hochzeiten. ›Genau so wollen wir es haben, nur im Kosovo‹, sagten sie. Heute bietet Dermaku mit ihrem Unternehme­n ›Grand Decor‹ Luxus-Hochzeiten an. ›90 Prozent meiner Kunden leben im Ausland‹, sagt sie. Sie bezahlen Dermaku zwischen 1.000 und 5.000 Euro für die perfekte Location, importiert­e Blumen aus Italien, Krankamera­s und Rauch-Installati­onen. An diesem Wochenende steht Dermaku vor einem weißen Gebäude mit Palmen und kitschigen Pferdestat­uen. Es erinnert an die Nachbauten griechisch­er Tempel, die man aus Disneyland kennt. 175 Gäste sind geladen. ›Für eine Kosovo-Hochzeit sehr klein‹, bemerkt eine Mitarbeite­rin, die den Gästen ihre Plätze zuweist. Heute heiraten Emma, 28, und Gramoz, 30. In einer Stunde sind sie Mr. und Mrs. Krasniqi – ein Name, der im Kosovo so häufig ist wie Wagner in Österreich. Gramoz ist im Kosovo geboren, lebt aber in Schweden, seitdem er ein kleiner Bub ist. Im Studentena­lter lernt er Emma auf einer Party kennen. ›Zu Hause hätten wir für so eine Hochzeit einen Kredit aufnehmen müssen‹, sagt das Paar. Statt 100.000 Euro haben sie hier 25.000 bezahlt. Kosovaren müssen dafür im Schnitt fast sieben Jahre sparen. Im Kosovo feiern ›Schatzis‹, die in Europa der Mittelklas­se angehören, Hochzeiten wie Superreich­e. Mit rotem Teppich, plätschern­dem Pool, fünfstöcki­ger Hochzeitst­orte und üppigen Blumenarra­ngements.

Die ›kleine Schweiz‹

Muhamet Hajrullahu hatte am Freitag Geburtstag. Und weil der CEO einer großen Immobilien­firma wunschlos glücklich ist, hat er stattdesse­n seiner Heimatstad­t Gjilan

im Ostkosovo ein Geschenk gemacht – einen Nachbau der amerikanis­chen Freiheitss­tatue. Im Kosovo sind die USA so beliebt wie in kaum einem anderen Land. Das liegt daran, dass eine NATO-Militärint­ervention unter Führung der USA 1999 den Krieg beendet hat. Bis heute sind US-Soldaten im Land stationier­t, um den Frieden zu sichern. ›Thank you USA, you are my best friend‹ lautet der Refrain eines nach dem Krieg populär gewordenen Songs. Gjilan hat jetzt also eine Freiheitss­tatue. Dabei bräuchte es eigentlich – Jobs. Zur Zeit Jugoslawie­ns gab es hier Fabriken für fast alles: Heizungen, Tabak, Brot und Textilien. Mit der Privatisie­rungswelle gingen all diese Jobs verloren. Hajrullahu, der die Stadt verlassen hat, um in Deutschlan­d eine Firma aufzubauen, ist heute eines der reichsten ›Schatzis‹ der Stadt. Vor drei Jahren kam er mit einem Verspreche­n nach Gjilan zurück: ›In den nächsten fünf Jahren möchte ich hier 2.000 Appartemen­ts bauen‹, sagt er in perfektem Hochdeutsc­h. Baustellen schaffen Jobs. Hajrullahu bezahlt seinen Arbeitern 500 Euro im Monat – 150 Euro mehr als der Durchschni­ttslohn. Die Baustellen braucht es, weil die Nachfrage an Wohnraum steigt. Und das wiederum ist so, weil die Diaspora kauft. So verkauft Hajrullahu Appartemen­ts, die nur für ein paar Wochen im Jahr bewohnt sind. In

Zhegër – einem Dorf in der Nähe von Gjilan – steht die Hälfte der Häuser leer. Zhegër wird ›kleine Schweiz‹ genannt, weil über 300 Familien von hier nach Genf ausgewande­rt sind. Diese Familien zahlen regelmäßig in einen Fonds ein, um Zhegër am Leben zu erhalten. Über 175.000 Euro sind in den letzten drei Jahren hierhergef­lossen. Mehr, als je irgendein Lokalpolit­iker hätte aufstellen können. Arton, ein muskulöser Mann von 36 Jahren mit enganliege­ndem T-Shirt, ist einer jener Menschen, die regelmäßig in den Fonds einzahlen. Seit 13 Jahren lebt er mit seiner Frau und den zwei Kindern in Zürich, wo er einen Job bei der Post hat. Wenn Arton den Sommer in Zhegër verbringt, dann bezahlt er die Rechnungen im Restaurant und bringt seinem Bruder Liburn auch einmal ein Auto mit. ›Stell dir mal vor, die Diaspora würde nur ein einziges Jahr kein Geld schicken‹, sagt Arton, während er seinen VW Golf durch Zhegër lenkt, ›dann hätte diese Regierung ein großes Problem‹. Er passiert einige Neubauten, die neben den Ziegelstei­nhäusern etwas fehl am Platz wirken. ›All diese Familien haben jemanden im Ausland. Deswegen sind sie ruhig und gehen nicht protestier­en. Ohne Diaspora hätten wir hier Zustände wie in Lateinamer­ika.‹

Ein Witwer kehrt zurück

Leere Häuser stehen auch in Neris Dorf. Es trägt den Namen Gadime und liegt im Zentralkos­ovo, unweit der Hauptstadt. Hier gibt es nicht viel – eine Tropfstein­höhle, Maisfelder, holprige Straßen. Neri ist ein Rückkehrer, der nicht ganz hierher zu passen scheint, mit seinen zwei Schoßhündc­hen und seiner Cowboy-Stiefel-Sammlung. Er steht in seinem Wohnzimmer, nimmt ein eingerahmt­es Foto vom Kamin, blickt es zärtlich an und sagt: ›Ich finde nie wieder eine Frau wie sie.‹ Das Foto zeigt ihn mit langem Haar und Lederjacke, wie er den Arm um eine große, rothaarige Frau gelegt hat. Mit ihr hat Neri eine Art kosovarisc­hen Traum gelebt: Geld verdienen in der Schweiz, Traumhaus im Kosovo. Sie arbeitete als Krankenpfl­egerin für eine wohlhabend­e Familie. Er jobbte zuerst auf Baustellen, dann als Barmann in einem Club. 45.000 Euro sparten sie, um sich hier ein Haus zu bauen. Dann – vor sechs Jahren – wurde Neris Frau krank. Dickdarmtu­mor, elf Operatione­n, unzählige Chemothera­pien. Und als sie starb, da sah er keinen Sinn mehr darin, in der Schweiz zu bleiben, weil das alte Leben ohne sie keinen Wert mehr hatte. Er kehrte nach Hause zurück – mit einer Pension von umgerechne­t 842 Euro. Damit kann man in der Schweiz nicht auskommen. Im Kosovo hingegen kann man damit ein schönes Leben haben. Theoretisc­h. Doch Neri sagt: ›Ich habe alles verloren. Dieses Haus bedeutet mir nichts mehr.‹ Um ihn herum stehen antik aussehende Möbel, ein Flachbildf­ernseher, Musikboxen, seine Cowboystie­fel-Sammlung. Die kosovarisc­hen ›Schatzis‹ werden im Land als Erfolgsmod­ell verkauft. Aber nicht alle finden ihr Glück im Ausland. Neri ist einer dieser gebrochene­n Rückkehrer, die ihr Leben lang gearbeitet haben und sich irgendwann fragen: Wofür eigentlich?

Urlaub an der Küste

In einer abgeschied­enen Bucht an der albanische­n Küste watet Fisnik, 14, in Badehose in die Adria hinein, die an dieser Stelle noch nicht braun vom Massentour­ismus ist, sondern blitzblau. Seine Eltern Zymer, 53, und Valbona, 45, wissen, wo die Strände ruhig sind und das Wasser klar. Sie kommen seit Jahren nach Shëngjin – ein bei der Diaspora beliebter Badeort im Nordwesten Albaniens. Ganze Hotelkompl­exe beherberge­n hier kosovarisc­he ›Schatzis‹. Kosovo und Albanien erinnern an zwei ungleiche Geschwiste­r. Sie teilen sich eine Sprache und eine Kultur. Sie fiebern beim Eurovision Songcontes­t für dieselben Kandidaten und gehen mit derselben, schwarzrot­en Flagge zu Fußballspi­elen. Und doch ist die Geschichte beider Länder unterschie­dlich verlaufen. Albanien war nie ein Teil Jugoslawie­ns. Stattdesse­n überzog sein stalinisti­scher Diktator Enver Hoxha das Land mit Hunderttau­senden Bunkern, die bis heute in der Landschaft stehen wie Maulwurfsh­ügel aus Beton. Bis in die Neunzigerj­ahre blieb Albanien vom Rest Europas isoliert. In Jugoslawie­n hingegen durften die Gastarbeit­er nach Westeuropa reisen und den Kapitalism­us kennenlern­en. Ein Grund dafür, dass sich der

›Ohne Diaspora hätten wir hier Zustände wie in Lateinamer­ika.‹

Begriff ›Schatzi‹ in Albanien nie etabliert hat, ist der, dass die Menschen von dort nach Griechenla­nd und Italien auswandert­en, wo kein Deutsch gesprochen wird. Mit der Finanz- und Wirtschaft­skrise in diesen Ländern wurden auch die Finanzflüs­se nach Albanien kleiner. Dass das Diaspora-System im Kosovo immer noch läuft wie eine gut geölte Maschine, liegt also daran, dass die Migrations­bewegungen in die reichsten Länder Europas bereits vor Jahrzehnte­n einsetzten. Valbona und Zymer sitzen – in zwei Handtücher gehüllt – im Schatten der Beach Bar. Durch das Strohdach fallen vereinzelt Sonnenstra­hlen. Es hat 37 Grad. Der Sand glüht unter den Füßen. Der Duft von Salzwasser und gegrilltem Fisch liegt in der Luft, während sie ihre Geschichte erzählen. Valbona verließ den Kosovo bereits 1987. Der jugoslawis­che Präsident Tito war da schon sechs Jahre tot, und im Vielvölker­staat begann der Nationalis­mus zu brodeln. Valbona ging in die Schweiz, wo sie zuerst als Köchin und dann in einer Keksfabrik arbeitete. Ihr Mann Zymer musste sein Studium in Pristina abbrechen und heuerte in der Schweiz als Gehilfe auf einem Bauernhof an. Die Migration hat aus Intellektu­ellen notgedrung­en Arbeiter gemacht. Menschen, die eigentlich Philosophi­e oder Wirtschaft studieren wollten, waren gezwungen, ihr Geld am Bau zu verdienen. Der berühmtest­e Kosovare, dem es so erging, ist Ramush Haradinaj. In den Neunzigerj­ahren arbeitete er als Zimmermann und Türsteher in der Schweiz. Man könnte meinen, sein Leben wäre nur eine weitere von unzähligen ›Schatzi‹-Episoden. Aber Haradinaj hat als Kommandant im Krieg Karriere gemacht – und ist heute Premiermin­ister des Kosovo. Unlängst machte er mit seiner Familie Winterurla­ub in seiner alten Heimat Schweiz. Dort soll er laut der Zeitung Insajderi für mehr als 70.000 Euro die Zaren-Suite des Carlton Hotels bezogen haben. Haradinaj behauptete später, es seien nur 7.000 Euro gewesen. Auf den kosovarisc­hen Durchschni­ttslohn umgelegt, ist auch das eine Menge Geld. Rund zwei Jahre muss ein Normalbürg­er für diese Summe arbeiten gehen. •

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Zwischen 1.000 und 5.000 Euro kostet die perfekte Hochzeit zu Hause. Das Vorbild: Amerika.
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Im Kosovo und in Albanien erhalten die ›Schatzis‹ eine ganze Tourismusi­ndustrie.
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Die Autorin empfiehlt, im Sommer das Sunny Hill Festival in Pristina von Dua Lipa zu besuchen und mitten im Wald Künstler zu sehen, die sonst in ausverkauf­ten Hallen spielen.

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