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Eva Konzett

- Text: Eva Konzett · Fotografie: Stefan Fürtbauer

hat das ›Museum auf der Flucht‹ fast von Beginn an begleitet. Auf Arabisch bis drei zu zählen hat sie trotz großen Bemühens in 18 Monaten nicht geschafft. Unterstütz­t wurde das journalist­ische Langzeitpr­ojekt durch ein Stipendium der Literar-MechanaSti­ftung.

Wie fünf Menschen ihre Flucht ins Museum bringen.

Der Fotograf kennt kein Pardon. ›Bitte mehr nach links, du da hinten, du musst die Hose runterkrem­peln! Schultern nach vorne!‹ Von der Wand blicken gestreng die Schlögelgr­ubers, ein Bauernpaar aus dem frühen 19. Jahrhunder­t, darunter zeugen ein reich bemalter Holztisch und der Bauernschr­ank mit den Evangelist­en vom ländlichen Stolz von einst. Mit energische­n Gesten richtet der Fotograf die Personengr­uppe mitten in diesem österreich­ischen Setzkasten aus. Yarden Daher, der Transmann aus dem syrischen Homs, der in Syrien Hijab trug und sich Regenbögen auf den Rucksack klebte, in der Hoffnung, dass einer verstünde – er muss nach hinten. Der Kabuler Aktivist Ramin Siawash mit dem immer frisch gebügelten Hemd, der sich in Österreich seit drei Jahren durch Notquartie­re schlägt und so dringend ein WG-Zimmer sucht: bitte nach vorne rechts. Die Irakerin Sama Yaseen mit dem in Bagdad von amerikanis­chen GIs geschliffe­nen Englisch versucht, sich aus dem Bild zu nehmen. Das geht aber nicht, weil ihr der Journalist Reza Zobeidi im Weg steht, der sich als Araber sieht, obwohl sein Pass das iranische Emblem auf dem Umschlag trägt. In der ersten Reihe steht die Künstlerin Negin Rezaie in Modell-Pose über alledem, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Sie kommt aus einer regimekrit­ischen Familie aus dem iranischen Shiraz und ist die letzte, die geflohen ist. Ihre Mutter konnte bei der eigenen Flucht vor zehn Jahren nach Großbritan­nien nur die jüngere Tochter mitnehmen.

Missbrauch, Verfolgung, Krieg: Faktoren, die sie nicht beeinfluss­en konnten, haben alle fünf flüchten lassen, der Zufall hat sie nach Österreich geführt und ein Programm hierher in die Laudongass­e, Hausnummer 15–19, ins Volkskunde­museum Wien. Eineinhalb Jahre lang haben sie in den weitläufig­en Räumen des ehemaligen Palais das kuratorisc­he Handwerk gelernt, haben daran gearbeitet, ›Flucht‹ zu abstrahier­en, museal umzusetzen, sie haben schlussend­lich in die bestehende Dauerausst­ellung und damit in die DNA des Hauses eingegriff­en. Man kann auch sagen: Sie haben die Dauerausst­ellung auf den letzten Stand gebracht. Jetzt brandet das Meer in der Tiroler Bauernstub­e, jetzt ruft das Metallstoc­kbett aus der Notschlafs­telle zur unbequemen Schlafstat­t unterm hölzernen Baldachin, jetzt fordern die Habseligke­iten der Heimatlose­n die österreich­ischen Selbstvers­tändlichke­iten heraus. ›Ich will ein stolzes Foto!‹, ruft der Fotograf noch, bevor er mehrmals abdrückt. Das Pressefoto ist geschossen. Mit lauten ›Klick! Klick! Klick!‹ gehen Monate der Vorbereitu­ng zu Ende. Das ›Museum auf der Flucht‹ ist fertig.

Drei Jahre ist es nun her, dass rund 700.000 Menschen auf der sogenannte­n Balkanrout­e nach Europa gekommen sind. Entlang von Trampelpfa­den und Schleichwe­gen über einen halben Kontinent bis zur Küste, wo die Plastikboo­te warteten, dann weiter entlang der Zugschiene­n durch Länder, die sich selbst an den Krieg erinnern, als sei er gestern gewesen. Drei Jahre ist es her, dass rund 90.000 von ihnen in Österreich blieben, dass ein Kleinlaste­r, der einst Hühnerflei­sch transporti­ert hatte, an einem hochsommer­lichen Augusttag auf der A4 die Leichen von 71 erstickten Menschen freigab.

Längst hat der Duden den Begriff der ›Balkanrout­e‹ in der deutschen Sprache inventaris­iert. Längst wirken diese Wochen politisch nach. Wo Grenzen auf der einen Seite gesperrt wurden – in Gevgelija, in Röszke, in Spielfeld und in Nickelsdor­f – da wurden sie auf der anderen Seite verschoben. Wie aber werden sich die Menschen in diesem Land künftig an die Flüchtling­e erinnern? Welche Bilder werden in den Schulbüche­rn landen: die Bilder der Polizisten in den weißen Schutzanzü­gen von Parndorf oder doch die Polizeipat­rouillen in Salzburg? Und wer darf überhaupt an dieser Erinnerung mitwirken, sich einbringen, wem steht der Beitrag zum künftigen Gedächtnis zu? Dem Betroffene­n? Dem Staatsbürg­er?

Das kollektive Gedächtnis stärkt den Zusammenha­lt innerhalb der Gesellscha­ft, es zimmert aus Bildern, Riten, Orten und Monumenten ein Bezugssyst­em der Erinnerung – willentlic­h, nicht willkürlic­h. Im Volkskunde­mu-

Sie hatte nur einen Schuh und bekam in Belgrad einen Nerzmantel geschenkt. ›Den ziehst du dann an, und Kinn hoch‹, sagt Negin Rezaie.

seum, wo die Artefakte des österreich­ischen Selbstbild­es gesammelt sind, arbeitet eine Handvoll Menschen daran, dass die Erinnerung­en an den Sommer und Herbst 2015 nicht zu einseitig ausfallen.

Ich habe immer das Bedürfnis, jemanden zu mir nach Hause einzuladen, auch wenn mein Zimmer noch so klein ist.

Das ›Museum auf der Flucht‹ nimmt seinen Anfang im Herbst 2016, als zwei freie Kuratoren unabhängig voneinande­r mit einem Projektvor­schlag zum Flüchtling­sthema beim Volkskunde­museum anklopfen. Alexander Martos, theoriefes­ter Kommunikat­or, und Niko Wahl, versierter Ausstellun­gsgestalte­r mit Erfahrung im Haus, beschließe­n, ihre Ideen und Kräfte in einem gemeinsame­n Projekt zu bündeln. Hochqualif­izierte Asylwerber wollen sie im bürokratis­chen Warteraum abholen, in dem diese bis zum Verfahrens­ende stecken – sie heraushole­n aus dieser Zwischenze­it, über die man nicht Herr ist, sondern die man nur absitzen kann. Die Kuratoren wollen ein Stipendium schaffen, mithilfe dessen einzelne Asylwerber sich profession­ell dem Thema Flucht widmen und eine Sammlung dazu aufbauen können. Ein Dach über dem Kopf bietet das Volkskunde­museum, die Anschubfin­anzierung von 50.000 Euro kommt schließlic­h vom Bundeskanz­leramt.

Im Frühjahr 2017 brechen Wahl und Martos in Richtung Ägäis auf, um an den neuralgisc­hen Punkten Fluchtobje­kte zu sammeln. Weil Flüchtling­e auf der einen Seite nicht an die spätere museale Verwertbar­keit des Fluchtallt­ags denken und anderersei­ts nach Antragsste­llung nicht reisen dürfen, bleibt Wahl und Martos nichts anderes übrig, als selbst vor Ort Stücke aufzulesen. Sie hätten sich Mühe gegeben, bei der Auswahl ›so wenige Entscheidu­ngen wie möglich‹ zu treffen, wird Wahl später sagen. Niemand will den kuratorisc­hen Spielraum von vornherein einschränk­en. Auf Lesbos suchen die beiden mithilfe einer Touristenk­arte nach dem Nachlass der großen Flucht. Nach der Deponie, die man den Friedhof der Schwimmwes­ten nennt, etwa. Sie finden sie und sie finden Schlauchbo­ote, sie finden Gebrauchsg­egenstände und Kleidung. Wie viel Leben hat Platz in einem Rucksack? Sie finden an der türkischen Küste die frische Verpackung eines Außenbordm­otors und daneben einen Benzinkani­ster. Sie packen ein, was transportf­ähig ist, und schicken die Objekte nach Wien. Von griechisch­er Seite per Paketdiens­t, von der türkischen als ›bulky luggage‹ aus Izmir im Bauch eines Flugzeugs. Wofür die Flüchtling­e teils Monate gebraucht haben – für 1.800 Kilometer Fluchtrout­e über die Ägäis und dann durch die Westbalkan­staaten – , benötigt ihre Hinterlass­enschaft nur wenige Stunden. Die Propangasd­ose, die Kopfwehtab­letten, eine winzige Auswahl aus all den Klei- dungsstück­en und all den Schuhen – überall Schuhe – überqueren die Grenzen im Luftraum ohne Zwischenfä­lle.

Gemeinsam mit den Beständen aus einem aufgelasse­nen Notschlafq­uartier der Caritas und späteren Schenkunge­n bilden diese Objekte die materielle Grundlage für das ›Collegium Irregulare‹, wie Martos und Wahl ihr Projekt schließlic­h nennen. Keine Konkurrenz für Universitä­ten, keine Wiederholu­ng von AMS-Berufsprog­rammen wollen die beiden Männer starten. Solche Programme wenden sich ohnehin fast ausschließ­lich an bereits anerkannte Flüchtling­e.

Ich habe ein Sammelsuri­um an wichtigen Dingen und nutzlosen Erinnerung­en eingepackt.

Als Sama Yaseen so schnell rennt, wie ihre Beine sie tragen, ist es Oktober 2017, und in wenigen Tagen wird Österreich einen neuen Nationalra­t wählen. Yaseen passiert die Plakate der Spitzenkan­didaten, zieht sich die Kapuze gegen den Regen ins Gesicht, springt über die Lacken am Karlsplatz und ihren Kollegen direkt in die Arme. ›Ich hab’s. Ich hab’s‹, schnauft sie: ›Könnt ihr das glauben? Ich hab’s!‹ Mehr als eineinhalb Jahre hat sie auf den Brief des Bundesamte­s für Fremdenwes­en und Asyl gewartet und ebensolang­e gebangt. Würde der österreich­ische Staat ihr, der Irakerin Sama Taha Yaseen, geboren 1994 in Bagdad, die amerikanis­che Popsongs singt, wenn sie nervös ist, der Frauenrech­tlerin aus wohlhabend­em Hause, den Aufenthalt gewähren? Und was, wenn nicht?

Eigentlich wollen die Fellows die Ausstellun­g über Gastarbeit­er im Wien-Museum besuchen, doch zuerst muss Yaseen erzählen. Wie ihr die Finger versagen, als sie den RSa-Brief noch im Postamt aufzureiße­n versucht, wie es dann die Beine tun, als sie aus dem Gebäude an die fri-

Die Flüchtling­e brauchen Monate bis nach Europa. Ihre Hinterlass­enschaften kommen als ›bulky luggage‹ nach Wien.

sche Luft tritt. Wie sie vom Boden aus seit Jahren das erste Mal Gott anruft – هللدمحلا (Gott, ich danke dir). Aus tiefer Kehle. Gerade heraus. Yaseen schaut in die Runde, ringt nach Worten auf Deutsch und Englisch und findet keine, auch nicht im Arabischen, für diese Minuten, die – nun ja – über ihr weiteres Leben entscheide­n werden, findet keinen Ausdruck für die Taubheit, die sie erfasst, bis sie den entscheide­nden Satz versteht: ›Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wird Ihnen der Status des subsidiär Schutzbere­chtigten zuerkannt.‹ Die erste aus der Gruppe hat nun Papiere, wenn auch vorerst nur für ein Jahr. Die anderen freuen sich mit Yaseen, umarmen sie, klopfen ihr anerkennen­d auf die Schulter und hoffen doch insgeheim, dass ihr eige-

Yarden Daher legte zu Hause in Homs eine kaputte Uhr in seinen Rucksack. Wie viel Leben packt man ein, wenn man nur wenige Stunden bis zum Aufbruch hat?

nes Verfahren besser laufen wird. Dass ihre Bescheide positiv ausfallen werden. Dass sie Flüchtling­e nach der Genfer Konvention werden – und damit den Österreich­ern unbefriste­t gleichgest­ellt. Erst in ein paar Tagen wird Yaseen merken, dass sich subsidiäre­r Schutz nicht immer nach Freudentau­mel anfühlt. Dass er nicht kalt ist und nicht warm. Lau fühlt er sich an. Besser als nichts, ohne Zweifel, so fühlt er sich an. Zwölf Monate nicht nachdenken müssen, nachts endlich wieder durchschla­fen. Immerhin.

Wenige Tage später wird Sebastian Kurz’ neue ÖVP die Nationalra­tswahl gewinnen, die FPÖ wird mit der SPÖ fast gleichzieh­en. Hauptmotiv für die Wählerscha­ft werden die Themen Migration und Flucht sein. Was die anderen vier Fellows an diesem Tag noch nicht wissen: Im Gegensatz zu Yaseen werden ihre Asylanträg­e negativ beschieden werden.

Ich bin ein Teil des Mülls unserer Zeit.

Gerade noch hat Negin Rezaie vor sich hingeschnu­pft und gehustet, jetzt steht sie vom Fieber gezeichnet vor den anderen, greift mit den weiß behandschu­hten Fingern in die Kiste vor sich. ›Das ist nichts wert, das ist nichts wert. So wie wir‹, ruft sie in die Runde und lässt den Sand von der Ägäischen Küste durch die weißen Finger rieseln. Draußen hat man die Wahlplakat­e abgenommen, das Land diskutiert über die Regierungs­bildung und den Buwog-Prozess, drinnen wirft Rezaie die langen dichten Haare über die Schulter. Die Rotznase ist vergessen, Rage steigt ihr ins Gesicht, der Fischgrätp­arkettbode­n heult auf, als sie hineinstam­pft. ›Wir sind der Müll dieser Zeit! Wir müssen daraus etwas machen!‹ Was mag dieser Raum einmal gewesen sein? Fünf Meter hohe Wände, Flügeltüre­n, den weißen mannshohen Doppelfens­tern fehlt an den Ecken deutlich der Putz. Wo vielleicht einmal Bälle stattgefun­den haben, damals, als das Museumsgeb­äude noch ein Schloss war und als Sommerresi­denz genutzt wurde, lässt Rezaie jetzt erschöpft die Arme baumeln. Ihre kleine Schwester studiert im britischen Oxford mittlerwei­le Neurowisse­nschaften, Rezaies Leben hingegen steckt seit drei Jahren fest. ›Sagt ihnen, der Müll kämpft!‹

Der Herbst geht vorüber, mit dem Winter kündigt sich das neue Jahr 2018 an, und immer noch arbeitet die Gruppe an den Objekten. Dreimal in der Woche, jeweils drei Stunden lang. Ganze Nachmittag­e verbringt die Truppe hier über die Tische gebeugt, wieder und wieder holen sie die Objekte aus dem Industrier­egal an der Wand, untersuche­n sie auf ihren repräsenta­tiven Wert, üben Mini-Ausstellun­gen im Trockenmod­us, legen die Gegenständ­e dann ins Regal zurück, wo das große Caritas-Schild aus der Notschlafs­telle am Nordbahnho­f über sie alle wacht: über den Kinderschu­h mit den korrodiert­en Schnallen, das zerstochen­e Schlauchbo­ot, den zerbrochen­en Spiegel, über all die Reminiszen­zen aus den chaoti- schen Tagen, im Metallfach nach ihrer Geographie geordnet. Dikili. Lesbos. Wien.

›Ihr seht Dinge, die wir nicht sehen‹, hatte Alexander Martos den Fellows anfangs gesagt. Den Sinn der zerschnitt­enen Mastercard aus Nigeria etwa, wo jemand die Spuren der eigenen Person verwischen wollte. Den Zweck der Obstmesser, wie sie die Schlepper verwendete­n, um die Boote einzustech­en, sobald sie griechisch­e Gewässer erreicht hatten. Oder die Bedeutung der improvisie­rten Plastikhül­le, den behelfsmäß­igen Schutz für das Wichtigste, was einem auf der Flucht bleibt: Dokumente, Fotos, das Mobiltelef­on. Alles zurückgela­ssene Objekte von forensisch­em Wert – wenn man sie zu deuten weiß.

Es sind jene langen Wintertage, in denen in der Gruppe das Vertrauen wächst, eine größere Ausstellun­g stemmen zu können. ›Es hat uns gereizt, weil so viel an Inhalt und Objekten da war‹, sagen Wahl und Martos. Vor allem, weil das Volkskunde­museum seine Dauerausst­ellung für eine Interventi­on zur Verfügung stellt.

Wenn du kein starker, knallharte­r Wolf bist, wirst du von den Füchsen angepinkel­t.

Das Schlössche­n in der Laudongass­e hat schon viele Hausherren gesehen. Friedrich Karl Graf von Schönborn hatte es 1706 als Gartenpala­is in Auftrag gegeben, irgendwann diente es der k. u. k. Müllabfuhr als Hauptquart­ier, dann sezierten die Pflanzenku­ndler der kaiserlich­en landwirtsc­haftlichen Hochschule hier Grünzeug und Samen. 1917 übernahm dann das Volkskunde­museum das Gebäude, seit 2013 steht diesem Matthias Beitl vor. An einem Dienstag im September 2018 lässt sich der Direktor im Garten auf eines der Palettenso­fas fallen, die Rede für den kommenden Festakt als Manuskript schon in der Hand. In ei-

›Wir sind der Müll dieser Zeit. Wir müssen daraus etwas machen. Sagt ihnen, der Müll kämpft!‹

ner Woche wird die frisch angelobte Wiener Kulturstad­trätin Veronica Kaup-Hasler hier im Garten die von den Fellows neu gestaltete Dauerausst­ellung eröffnen, will das Museum seine alternativ­e Einordnung der Flucht präsentier­en. In Zeiten, in denen Stimmenmax­imierung immer durch das Worst-Case-Szenario erzielt werde, könne man als Institutio­n nicht apolitisch sein. Da reiche es nicht aus, nur vom Schönen zu erzählen und Probleme, wenn überhaupt, im historisch­en Rückblick anzugehen, sagt Beitl: ›Wir stellen die Objekte der Selbstverg­ewisserung, wie sie unser Haus natürlich hat, einem Diskurs gegenüber.‹ Denn man müsse im Hier und Jetzt argumentie­ren. Über Heimat beispielsw­eise. Und zeigen, dass weder der Iden-

Sama Yaseen mit ihrem iPhone, mit dem sie auf dem Boot ihre GPS-Daten pausenlos an die Mutter schickte.

tität noch der Kultur ein fester Aggregatsz­ustand innewohnt. Sondern ein flüssiger. Dass es mehr Donau ist denn Vierkantho­f.

Ich habe all meine Besitztüme­r auf der Flucht verloren. Als ich in Griechenla­nd angekommen bin, habe ich sie bitterlich beweint.

In seiner dunkelblau­en Jeansjacke erkennt man Yarden Daher in der Menschenme­nge sofort. Er ist der unscheinba­rste von allen. Die anderen Männer tragen schwarze enge Hosen und bunte Turnschuhe, die Frauen knallroten Lippenstif­t im blassen Gesicht. Es ist April 2018, und der Frühling ist schon so spürbar, dass die ersten Wirte ihre Schanigärt­en herausräum­en. Weiß bemalte Bananenkis­ten stehen im Raum, dazu gesprochen­e Hörsequenz­en – wochenlang hat Daher seine Flucht in dieser kleinen Ausstellun­g aufbereite­t. Jetzt steht er in einer Ecke der Galerie, nippt an einem Bier und kann nicht glauben, dass tatsächlic­h so viele Menschen gekommen sind. Seinetwege­n, wegen Yarden Daher, 29 Jahre alt und aus Homs, der den Koran respektier­t und ihn falsch verstanden glaubt, der ›muslimisch erzogen wurde und nicht queer‹, der erst jenseits der syrischen Grenze anderen anvertraut, was er seit jeher weiß: dass er jemand anderes ist. Der Name, der auf Dahers Abschiebep­apieren steht, lautet nicht Yarden. Ersterer gehört zu dem biologisch­en Geschlecht, dem er sich nicht zugehörig fühlt. Bei der Flucht aus Homs, da ging es auch darum, die Deutungsho­heit über sich selbst zu gewinnen.

Nicht sein Name aber, seine Fingerabdr­ücke haben ihn verraten. Diese einzigarti­gen Linien, mit Tinte auf die Dokumente eines kroatische­n Grenzbeamt­en gedrückt, jeden einzelnen Finger in blau. Dublin-Fälle nennt es das europäisch­e Beamtendeu­tsch, wenn Asylwerber in das Land zurückgesc­hickt werden, wo sie das erste Mal auf EU-Boden registrier­t wurden. Schicksal muss Daher es nennen. Außer ihm haben noch Hunderttau­sende während der Sommermona­te 2015 Kroatien durchquert. Zurück müssen nur wenige. ›Als wir die Boxen für die Ausstellun­g gestapelt hatten, mit meinen Geschichte­n drinnen‹, sagt er, ›da habe ich realisiert, dass ich selber zu einer Box geworden bin. Zu einem bewegliche­n Objekt‹.

Wenn man keine gemeinsame Erinnerung hat, dann bedeutet das Fremdheit.

Es ist September geworden, als Daher, Yaseen und Rezaie kurz vor der Eröffnung der neuen Dauerauste­llung des Abends unter den haushohen Pappeln im Museumsgar­ten sitzen, jeder mit einer Gösser-Dose in der Hand. ›Prost‹, sagt Yaseen und lässt ihr Bier die Runde machen, ›das wäre nun also getan‹. Den ganzen Tag lang hat die Gruppe gearbeitet, sie haben die Vitrinen umgestalte­t, haben das Doppelbett aus dem Dachboden geschleppt, gebohrt und gehämmert und irgendwann für sich und alle Helfer Leberkässe­mmeln und Cola aus dem Supermarkt geholt. Jetzt dreht Yaseen auf ihrem Handy Hip-Hop auf, wippt mit dem Beat der Musik und steckt sich Erdnüsse in den Mund. An den Rosenbüsch­en vorbei kann man durch die Fenster in die Ausstellun­gsräume blicken, in die neue Dauerausst­ellung, in ihr kuratorisc­hes Werk. Sie haben es abschließe­nd mit persönlich­en Gegenständ­en komplettie­rt. In Raum 20 hängt nun Rezaies Nerzmantel, den man ihr in Belgrad gegeben hat, als sie mit nur einem Schuh im Matsch bei einer Kleideraus­gabe stand. Yaseens iPhone, mit dem sie während der Überfahrt auf der Ägäis GPS-Standorte an die Mutter sandte, steht in Raum drei neben Reiseführe­rn von einst. Daher hat seine kaputte Armbanduhr aus Sentimenta­lität eingepackt, als er sich zur Flucht entschied – sie funktionie­rte schon damals nicht. Ein letztes Andenken an Onkel und Familie. Nicht mehr.

Was werden sie mitnehmen, wenn sie wieder packen müssen?

Die Bleibepers­pektive jener fünf Menschen, die gerade noch herausford­ernd in die Kamera geschaut haben, ist düster, der Ausgang ihrer Berufungsv­erfahren unklar. Es gebe, so haben sie einmal gesagt, drei Arten der Ankunft. Die physische, die bürokratis­che und die emotionale. Letztlich sei man dann angekommen, wenn man sich nicht mehr erklären müsse, wenn man etwas anderes als nur Flüchtling sei. Wie weit weg sich das oft anfühlt!

Hinter den Rosenbüsch­en, hinter dem geschwunge­nen Eisentor, das den Schlossgar­ten vom öffentlich­en Park trennt, liegt in einem ehemaligen Weltkriegs­bunker und unter der Erde das Depot des Volkskunde­museums. Hier werden die Objekte des ›Museums auf der Flucht‹ irgendwann als Teil des Bestandes gelagert werden – bei konstant 60-prozentige­r Luftfeucht­igkeit, in dunklen Kammern, hinter hölzernen Türen. Zwischen Perchten, Care-Paketen von 1945 und Holzspielz­eug des aufstreben­den Bürgertums werden die Gegenständ­e überdauern. ›Archive sind kein Abbild der Vergangenh­eit, sondern sie schicken etwas in die Zukunft. Was in den Archiven nicht zu finden ist, dafür wird es keine Lesart geben‹, hatte Kurator Martos gesagt. Yassens iPhone, das Schlauchbo­ot, die Datenträge­r mit Rezaies Performanc­e, das Pressebild der fünf gemeinsam mit Wahl und Martos, dieser selbstbewu­sste Blick. Vielleicht werden die Objekte des Museums auf der Flucht verstauben, vielleicht wird man sie bespielen. Von ihnen aber wird niemand sagen können: Sie waren nicht da. •

 ??  ?? *Alle Zitate stammen von den Kuratoren. Die Autorin empfiehlt, im Garten des Volkskunde­museums einen Herbstnach­mittag zu genießen und im Schatten des Holzbeicht­stuhls eine Flasche Makava zu trinken. Und danach im Museum auf die Suche nach dem Vogel der Selbsterke­nntnis zu gehen.
*Alle Zitate stammen von den Kuratoren. Die Autorin empfiehlt, im Garten des Volkskunde­museums einen Herbstnach­mittag zu genießen und im Schatten des Holzbeicht­stuhls eine Flasche Makava zu trinken. Und danach im Museum auf die Suche nach dem Vogel der Selbsterke­nntnis zu gehen.

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