Eva Konzett
hat das ›Museum auf der Flucht‹ fast von Beginn an begleitet. Auf Arabisch bis drei zu zählen hat sie trotz großen Bemühens in 18 Monaten nicht geschafft. Unterstützt wurde das journalistische Langzeitprojekt durch ein Stipendium der Literar-MechanaStiftung.
Wie fünf Menschen ihre Flucht ins Museum bringen.
Der Fotograf kennt kein Pardon. ›Bitte mehr nach links, du da hinten, du musst die Hose runterkrempeln! Schultern nach vorne!‹ Von der Wand blicken gestreng die Schlögelgrubers, ein Bauernpaar aus dem frühen 19. Jahrhundert, darunter zeugen ein reich bemalter Holztisch und der Bauernschrank mit den Evangelisten vom ländlichen Stolz von einst. Mit energischen Gesten richtet der Fotograf die Personengruppe mitten in diesem österreichischen Setzkasten aus. Yarden Daher, der Transmann aus dem syrischen Homs, der in Syrien Hijab trug und sich Regenbögen auf den Rucksack klebte, in der Hoffnung, dass einer verstünde – er muss nach hinten. Der Kabuler Aktivist Ramin Siawash mit dem immer frisch gebügelten Hemd, der sich in Österreich seit drei Jahren durch Notquartiere schlägt und so dringend ein WG-Zimmer sucht: bitte nach vorne rechts. Die Irakerin Sama Yaseen mit dem in Bagdad von amerikanischen GIs geschliffenen Englisch versucht, sich aus dem Bild zu nehmen. Das geht aber nicht, weil ihr der Journalist Reza Zobeidi im Weg steht, der sich als Araber sieht, obwohl sein Pass das iranische Emblem auf dem Umschlag trägt. In der ersten Reihe steht die Künstlerin Negin Rezaie in Modell-Pose über alledem, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Sie kommt aus einer regimekritischen Familie aus dem iranischen Shiraz und ist die letzte, die geflohen ist. Ihre Mutter konnte bei der eigenen Flucht vor zehn Jahren nach Großbritannien nur die jüngere Tochter mitnehmen.
Missbrauch, Verfolgung, Krieg: Faktoren, die sie nicht beeinflussen konnten, haben alle fünf flüchten lassen, der Zufall hat sie nach Österreich geführt und ein Programm hierher in die Laudongasse, Hausnummer 15–19, ins Volkskundemuseum Wien. Eineinhalb Jahre lang haben sie in den weitläufigen Räumen des ehemaligen Palais das kuratorische Handwerk gelernt, haben daran gearbeitet, ›Flucht‹ zu abstrahieren, museal umzusetzen, sie haben schlussendlich in die bestehende Dauerausstellung und damit in die DNA des Hauses eingegriffen. Man kann auch sagen: Sie haben die Dauerausstellung auf den letzten Stand gebracht. Jetzt brandet das Meer in der Tiroler Bauernstube, jetzt ruft das Metallstockbett aus der Notschlafstelle zur unbequemen Schlafstatt unterm hölzernen Baldachin, jetzt fordern die Habseligkeiten der Heimatlosen die österreichischen Selbstverständlichkeiten heraus. ›Ich will ein stolzes Foto!‹, ruft der Fotograf noch, bevor er mehrmals abdrückt. Das Pressefoto ist geschossen. Mit lauten ›Klick! Klick! Klick!‹ gehen Monate der Vorbereitung zu Ende. Das ›Museum auf der Flucht‹ ist fertig.
Drei Jahre ist es nun her, dass rund 700.000 Menschen auf der sogenannten Balkanroute nach Europa gekommen sind. Entlang von Trampelpfaden und Schleichwegen über einen halben Kontinent bis zur Küste, wo die Plastikboote warteten, dann weiter entlang der Zugschienen durch Länder, die sich selbst an den Krieg erinnern, als sei er gestern gewesen. Drei Jahre ist es her, dass rund 90.000 von ihnen in Österreich blieben, dass ein Kleinlaster, der einst Hühnerfleisch transportiert hatte, an einem hochsommerlichen Augusttag auf der A4 die Leichen von 71 erstickten Menschen freigab.
Längst hat der Duden den Begriff der ›Balkanroute‹ in der deutschen Sprache inventarisiert. Längst wirken diese Wochen politisch nach. Wo Grenzen auf der einen Seite gesperrt wurden – in Gevgelija, in Röszke, in Spielfeld und in Nickelsdorf – da wurden sie auf der anderen Seite verschoben. Wie aber werden sich die Menschen in diesem Land künftig an die Flüchtlinge erinnern? Welche Bilder werden in den Schulbüchern landen: die Bilder der Polizisten in den weißen Schutzanzügen von Parndorf oder doch die Polizeipatrouillen in Salzburg? Und wer darf überhaupt an dieser Erinnerung mitwirken, sich einbringen, wem steht der Beitrag zum künftigen Gedächtnis zu? Dem Betroffenen? Dem Staatsbürger?
Das kollektive Gedächtnis stärkt den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft, es zimmert aus Bildern, Riten, Orten und Monumenten ein Bezugssystem der Erinnerung – willentlich, nicht willkürlich. Im Volkskundemu-
Sie hatte nur einen Schuh und bekam in Belgrad einen Nerzmantel geschenkt. ›Den ziehst du dann an, und Kinn hoch‹, sagt Negin Rezaie.
seum, wo die Artefakte des österreichischen Selbstbildes gesammelt sind, arbeitet eine Handvoll Menschen daran, dass die Erinnerungen an den Sommer und Herbst 2015 nicht zu einseitig ausfallen.
Ich habe immer das Bedürfnis, jemanden zu mir nach Hause einzuladen, auch wenn mein Zimmer noch so klein ist.
Das ›Museum auf der Flucht‹ nimmt seinen Anfang im Herbst 2016, als zwei freie Kuratoren unabhängig voneinander mit einem Projektvorschlag zum Flüchtlingsthema beim Volkskundemuseum anklopfen. Alexander Martos, theoriefester Kommunikator, und Niko Wahl, versierter Ausstellungsgestalter mit Erfahrung im Haus, beschließen, ihre Ideen und Kräfte in einem gemeinsamen Projekt zu bündeln. Hochqualifizierte Asylwerber wollen sie im bürokratischen Warteraum abholen, in dem diese bis zum Verfahrensende stecken – sie herausholen aus dieser Zwischenzeit, über die man nicht Herr ist, sondern die man nur absitzen kann. Die Kuratoren wollen ein Stipendium schaffen, mithilfe dessen einzelne Asylwerber sich professionell dem Thema Flucht widmen und eine Sammlung dazu aufbauen können. Ein Dach über dem Kopf bietet das Volkskundemuseum, die Anschubfinanzierung von 50.000 Euro kommt schließlich vom Bundeskanzleramt.
Im Frühjahr 2017 brechen Wahl und Martos in Richtung Ägäis auf, um an den neuralgischen Punkten Fluchtobjekte zu sammeln. Weil Flüchtlinge auf der einen Seite nicht an die spätere museale Verwertbarkeit des Fluchtalltags denken und andererseits nach Antragsstellung nicht reisen dürfen, bleibt Wahl und Martos nichts anderes übrig, als selbst vor Ort Stücke aufzulesen. Sie hätten sich Mühe gegeben, bei der Auswahl ›so wenige Entscheidungen wie möglich‹ zu treffen, wird Wahl später sagen. Niemand will den kuratorischen Spielraum von vornherein einschränken. Auf Lesbos suchen die beiden mithilfe einer Touristenkarte nach dem Nachlass der großen Flucht. Nach der Deponie, die man den Friedhof der Schwimmwesten nennt, etwa. Sie finden sie und sie finden Schlauchboote, sie finden Gebrauchsgegenstände und Kleidung. Wie viel Leben hat Platz in einem Rucksack? Sie finden an der türkischen Küste die frische Verpackung eines Außenbordmotors und daneben einen Benzinkanister. Sie packen ein, was transportfähig ist, und schicken die Objekte nach Wien. Von griechischer Seite per Paketdienst, von der türkischen als ›bulky luggage‹ aus Izmir im Bauch eines Flugzeugs. Wofür die Flüchtlinge teils Monate gebraucht haben – für 1.800 Kilometer Fluchtroute über die Ägäis und dann durch die Westbalkanstaaten – , benötigt ihre Hinterlassenschaft nur wenige Stunden. Die Propangasdose, die Kopfwehtabletten, eine winzige Auswahl aus all den Klei- dungsstücken und all den Schuhen – überall Schuhe – überqueren die Grenzen im Luftraum ohne Zwischenfälle.
Gemeinsam mit den Beständen aus einem aufgelassenen Notschlafquartier der Caritas und späteren Schenkungen bilden diese Objekte die materielle Grundlage für das ›Collegium Irregulare‹, wie Martos und Wahl ihr Projekt schließlich nennen. Keine Konkurrenz für Universitäten, keine Wiederholung von AMS-Berufsprogrammen wollen die beiden Männer starten. Solche Programme wenden sich ohnehin fast ausschließlich an bereits anerkannte Flüchtlinge.
Ich habe ein Sammelsurium an wichtigen Dingen und nutzlosen Erinnerungen eingepackt.
Als Sama Yaseen so schnell rennt, wie ihre Beine sie tragen, ist es Oktober 2017, und in wenigen Tagen wird Österreich einen neuen Nationalrat wählen. Yaseen passiert die Plakate der Spitzenkandidaten, zieht sich die Kapuze gegen den Regen ins Gesicht, springt über die Lacken am Karlsplatz und ihren Kollegen direkt in die Arme. ›Ich hab’s. Ich hab’s‹, schnauft sie: ›Könnt ihr das glauben? Ich hab’s!‹ Mehr als eineinhalb Jahre hat sie auf den Brief des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gewartet und ebensolange gebangt. Würde der österreichische Staat ihr, der Irakerin Sama Taha Yaseen, geboren 1994 in Bagdad, die amerikanische Popsongs singt, wenn sie nervös ist, der Frauenrechtlerin aus wohlhabendem Hause, den Aufenthalt gewähren? Und was, wenn nicht?
Eigentlich wollen die Fellows die Ausstellung über Gastarbeiter im Wien-Museum besuchen, doch zuerst muss Yaseen erzählen. Wie ihr die Finger versagen, als sie den RSa-Brief noch im Postamt aufzureißen versucht, wie es dann die Beine tun, als sie aus dem Gebäude an die fri-
Die Flüchtlinge brauchen Monate bis nach Europa. Ihre Hinterlassenschaften kommen als ›bulky luggage‹ nach Wien.
sche Luft tritt. Wie sie vom Boden aus seit Jahren das erste Mal Gott anruft – هللدمحلا (Gott, ich danke dir). Aus tiefer Kehle. Gerade heraus. Yaseen schaut in die Runde, ringt nach Worten auf Deutsch und Englisch und findet keine, auch nicht im Arabischen, für diese Minuten, die – nun ja – über ihr weiteres Leben entscheiden werden, findet keinen Ausdruck für die Taubheit, die sie erfasst, bis sie den entscheidenden Satz versteht: ›Gemäß § 8 Absatz 1 AsylG wird Ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.‹ Die erste aus der Gruppe hat nun Papiere, wenn auch vorerst nur für ein Jahr. Die anderen freuen sich mit Yaseen, umarmen sie, klopfen ihr anerkennend auf die Schulter und hoffen doch insgeheim, dass ihr eige-
Yarden Daher legte zu Hause in Homs eine kaputte Uhr in seinen Rucksack. Wie viel Leben packt man ein, wenn man nur wenige Stunden bis zum Aufbruch hat?
nes Verfahren besser laufen wird. Dass ihre Bescheide positiv ausfallen werden. Dass sie Flüchtlinge nach der Genfer Konvention werden – und damit den Österreichern unbefristet gleichgestellt. Erst in ein paar Tagen wird Yaseen merken, dass sich subsidiärer Schutz nicht immer nach Freudentaumel anfühlt. Dass er nicht kalt ist und nicht warm. Lau fühlt er sich an. Besser als nichts, ohne Zweifel, so fühlt er sich an. Zwölf Monate nicht nachdenken müssen, nachts endlich wieder durchschlafen. Immerhin.
Wenige Tage später wird Sebastian Kurz’ neue ÖVP die Nationalratswahl gewinnen, die FPÖ wird mit der SPÖ fast gleichziehen. Hauptmotiv für die Wählerschaft werden die Themen Migration und Flucht sein. Was die anderen vier Fellows an diesem Tag noch nicht wissen: Im Gegensatz zu Yaseen werden ihre Asylanträge negativ beschieden werden.
Ich bin ein Teil des Mülls unserer Zeit.
Gerade noch hat Negin Rezaie vor sich hingeschnupft und gehustet, jetzt steht sie vom Fieber gezeichnet vor den anderen, greift mit den weiß behandschuhten Fingern in die Kiste vor sich. ›Das ist nichts wert, das ist nichts wert. So wie wir‹, ruft sie in die Runde und lässt den Sand von der Ägäischen Küste durch die weißen Finger rieseln. Draußen hat man die Wahlplakate abgenommen, das Land diskutiert über die Regierungsbildung und den Buwog-Prozess, drinnen wirft Rezaie die langen dichten Haare über die Schulter. Die Rotznase ist vergessen, Rage steigt ihr ins Gesicht, der Fischgrätparkettboden heult auf, als sie hineinstampft. ›Wir sind der Müll dieser Zeit! Wir müssen daraus etwas machen!‹ Was mag dieser Raum einmal gewesen sein? Fünf Meter hohe Wände, Flügeltüren, den weißen mannshohen Doppelfenstern fehlt an den Ecken deutlich der Putz. Wo vielleicht einmal Bälle stattgefunden haben, damals, als das Museumsgebäude noch ein Schloss war und als Sommerresidenz genutzt wurde, lässt Rezaie jetzt erschöpft die Arme baumeln. Ihre kleine Schwester studiert im britischen Oxford mittlerweile Neurowissenschaften, Rezaies Leben hingegen steckt seit drei Jahren fest. ›Sagt ihnen, der Müll kämpft!‹
Der Herbst geht vorüber, mit dem Winter kündigt sich das neue Jahr 2018 an, und immer noch arbeitet die Gruppe an den Objekten. Dreimal in der Woche, jeweils drei Stunden lang. Ganze Nachmittage verbringt die Truppe hier über die Tische gebeugt, wieder und wieder holen sie die Objekte aus dem Industrieregal an der Wand, untersuchen sie auf ihren repräsentativen Wert, üben Mini-Ausstellungen im Trockenmodus, legen die Gegenstände dann ins Regal zurück, wo das große Caritas-Schild aus der Notschlafstelle am Nordbahnhof über sie alle wacht: über den Kinderschuh mit den korrodierten Schnallen, das zerstochene Schlauchboot, den zerbrochenen Spiegel, über all die Reminiszenzen aus den chaoti- schen Tagen, im Metallfach nach ihrer Geographie geordnet. Dikili. Lesbos. Wien.
›Ihr seht Dinge, die wir nicht sehen‹, hatte Alexander Martos den Fellows anfangs gesagt. Den Sinn der zerschnittenen Mastercard aus Nigeria etwa, wo jemand die Spuren der eigenen Person verwischen wollte. Den Zweck der Obstmesser, wie sie die Schlepper verwendeten, um die Boote einzustechen, sobald sie griechische Gewässer erreicht hatten. Oder die Bedeutung der improvisierten Plastikhülle, den behelfsmäßigen Schutz für das Wichtigste, was einem auf der Flucht bleibt: Dokumente, Fotos, das Mobiltelefon. Alles zurückgelassene Objekte von forensischem Wert – wenn man sie zu deuten weiß.
Es sind jene langen Wintertage, in denen in der Gruppe das Vertrauen wächst, eine größere Ausstellung stemmen zu können. ›Es hat uns gereizt, weil so viel an Inhalt und Objekten da war‹, sagen Wahl und Martos. Vor allem, weil das Volkskundemuseum seine Dauerausstellung für eine Intervention zur Verfügung stellt.
Wenn du kein starker, knallharter Wolf bist, wirst du von den Füchsen angepinkelt.
Das Schlösschen in der Laudongasse hat schon viele Hausherren gesehen. Friedrich Karl Graf von Schönborn hatte es 1706 als Gartenpalais in Auftrag gegeben, irgendwann diente es der k. u. k. Müllabfuhr als Hauptquartier, dann sezierten die Pflanzenkundler der kaiserlichen landwirtschaftlichen Hochschule hier Grünzeug und Samen. 1917 übernahm dann das Volkskundemuseum das Gebäude, seit 2013 steht diesem Matthias Beitl vor. An einem Dienstag im September 2018 lässt sich der Direktor im Garten auf eines der Palettensofas fallen, die Rede für den kommenden Festakt als Manuskript schon in der Hand. In ei-
›Wir sind der Müll dieser Zeit. Wir müssen daraus etwas machen. Sagt ihnen, der Müll kämpft!‹
ner Woche wird die frisch angelobte Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler hier im Garten die von den Fellows neu gestaltete Dauerausstellung eröffnen, will das Museum seine alternative Einordnung der Flucht präsentieren. In Zeiten, in denen Stimmenmaximierung immer durch das Worst-Case-Szenario erzielt werde, könne man als Institution nicht apolitisch sein. Da reiche es nicht aus, nur vom Schönen zu erzählen und Probleme, wenn überhaupt, im historischen Rückblick anzugehen, sagt Beitl: ›Wir stellen die Objekte der Selbstvergewisserung, wie sie unser Haus natürlich hat, einem Diskurs gegenüber.‹ Denn man müsse im Hier und Jetzt argumentieren. Über Heimat beispielsweise. Und zeigen, dass weder der Iden-
Sama Yaseen mit ihrem iPhone, mit dem sie auf dem Boot ihre GPS-Daten pausenlos an die Mutter schickte.
tität noch der Kultur ein fester Aggregatszustand innewohnt. Sondern ein flüssiger. Dass es mehr Donau ist denn Vierkanthof.
Ich habe all meine Besitztümer auf der Flucht verloren. Als ich in Griechenland angekommen bin, habe ich sie bitterlich beweint.
In seiner dunkelblauen Jeansjacke erkennt man Yarden Daher in der Menschenmenge sofort. Er ist der unscheinbarste von allen. Die anderen Männer tragen schwarze enge Hosen und bunte Turnschuhe, die Frauen knallroten Lippenstift im blassen Gesicht. Es ist April 2018, und der Frühling ist schon so spürbar, dass die ersten Wirte ihre Schanigärten herausräumen. Weiß bemalte Bananenkisten stehen im Raum, dazu gesprochene Hörsequenzen – wochenlang hat Daher seine Flucht in dieser kleinen Ausstellung aufbereitet. Jetzt steht er in einer Ecke der Galerie, nippt an einem Bier und kann nicht glauben, dass tatsächlich so viele Menschen gekommen sind. Seinetwegen, wegen Yarden Daher, 29 Jahre alt und aus Homs, der den Koran respektiert und ihn falsch verstanden glaubt, der ›muslimisch erzogen wurde und nicht queer‹, der erst jenseits der syrischen Grenze anderen anvertraut, was er seit jeher weiß: dass er jemand anderes ist. Der Name, der auf Dahers Abschiebepapieren steht, lautet nicht Yarden. Ersterer gehört zu dem biologischen Geschlecht, dem er sich nicht zugehörig fühlt. Bei der Flucht aus Homs, da ging es auch darum, die Deutungshoheit über sich selbst zu gewinnen.
Nicht sein Name aber, seine Fingerabdrücke haben ihn verraten. Diese einzigartigen Linien, mit Tinte auf die Dokumente eines kroatischen Grenzbeamten gedrückt, jeden einzelnen Finger in blau. Dublin-Fälle nennt es das europäische Beamtendeutsch, wenn Asylwerber in das Land zurückgeschickt werden, wo sie das erste Mal auf EU-Boden registriert wurden. Schicksal muss Daher es nennen. Außer ihm haben noch Hunderttausende während der Sommermonate 2015 Kroatien durchquert. Zurück müssen nur wenige. ›Als wir die Boxen für die Ausstellung gestapelt hatten, mit meinen Geschichten drinnen‹, sagt er, ›da habe ich realisiert, dass ich selber zu einer Box geworden bin. Zu einem beweglichen Objekt‹.
Wenn man keine gemeinsame Erinnerung hat, dann bedeutet das Fremdheit.
Es ist September geworden, als Daher, Yaseen und Rezaie kurz vor der Eröffnung der neuen Daueraustellung des Abends unter den haushohen Pappeln im Museumsgarten sitzen, jeder mit einer Gösser-Dose in der Hand. ›Prost‹, sagt Yaseen und lässt ihr Bier die Runde machen, ›das wäre nun also getan‹. Den ganzen Tag lang hat die Gruppe gearbeitet, sie haben die Vitrinen umgestaltet, haben das Doppelbett aus dem Dachboden geschleppt, gebohrt und gehämmert und irgendwann für sich und alle Helfer Leberkässemmeln und Cola aus dem Supermarkt geholt. Jetzt dreht Yaseen auf ihrem Handy Hip-Hop auf, wippt mit dem Beat der Musik und steckt sich Erdnüsse in den Mund. An den Rosenbüschen vorbei kann man durch die Fenster in die Ausstellungsräume blicken, in die neue Dauerausstellung, in ihr kuratorisches Werk. Sie haben es abschließend mit persönlichen Gegenständen komplettiert. In Raum 20 hängt nun Rezaies Nerzmantel, den man ihr in Belgrad gegeben hat, als sie mit nur einem Schuh im Matsch bei einer Kleiderausgabe stand. Yaseens iPhone, mit dem sie während der Überfahrt auf der Ägäis GPS-Standorte an die Mutter sandte, steht in Raum drei neben Reiseführern von einst. Daher hat seine kaputte Armbanduhr aus Sentimentalität eingepackt, als er sich zur Flucht entschied – sie funktionierte schon damals nicht. Ein letztes Andenken an Onkel und Familie. Nicht mehr.
Was werden sie mitnehmen, wenn sie wieder packen müssen?
Die Bleibeperspektive jener fünf Menschen, die gerade noch herausfordernd in die Kamera geschaut haben, ist düster, der Ausgang ihrer Berufungsverfahren unklar. Es gebe, so haben sie einmal gesagt, drei Arten der Ankunft. Die physische, die bürokratische und die emotionale. Letztlich sei man dann angekommen, wenn man sich nicht mehr erklären müsse, wenn man etwas anderes als nur Flüchtling sei. Wie weit weg sich das oft anfühlt!
Hinter den Rosenbüschen, hinter dem geschwungenen Eisentor, das den Schlossgarten vom öffentlichen Park trennt, liegt in einem ehemaligen Weltkriegsbunker und unter der Erde das Depot des Volkskundemuseums. Hier werden die Objekte des ›Museums auf der Flucht‹ irgendwann als Teil des Bestandes gelagert werden – bei konstant 60-prozentiger Luftfeuchtigkeit, in dunklen Kammern, hinter hölzernen Türen. Zwischen Perchten, Care-Paketen von 1945 und Holzspielzeug des aufstrebenden Bürgertums werden die Gegenstände überdauern. ›Archive sind kein Abbild der Vergangenheit, sondern sie schicken etwas in die Zukunft. Was in den Archiven nicht zu finden ist, dafür wird es keine Lesart geben‹, hatte Kurator Martos gesagt. Yassens iPhone, das Schlauchboot, die Datenträger mit Rezaies Performance, das Pressebild der fünf gemeinsam mit Wahl und Martos, dieser selbstbewusste Blick. Vielleicht werden die Objekte des Museums auf der Flucht verstauben, vielleicht wird man sie bespielen. Von ihnen aber wird niemand sagen können: Sie waren nicht da. •