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Eva Schmidt, Anika Suck und Lydia Mitterbaue­r

- Text: Lydia Mitterbaue­r, Eva Schmidt und Anika Suck · Fotografie: Ursula Röck

haben gemeinsam an der FHWien Journalism­us studiert – unter anderem bei DATUM-Chefredakt­eur Stefan Apfl. Für ihre Recherche über Eintageskü­ken reisten die drei ins idyllische Kremsmünst­er, inmitten von Hügeln, Feldern und Blumen, und sahen zu, wie in einer Fabrikhall­e unzählige Küken ihr Ende fanden. Die Erkenntnis: Manchmal gibt es keine Lösung, nur Alternativ­en.

So viele Küken werden jährlich in Österreich getötet, weil sie männlich sind. Auf der Suche nach einer Alternativ­e.

Das Leben und der Tod liegen manchmal nah beieinande­r. In der Brüterei ›Eiermacher‹ im oberösterr­eichischen Kremsmünst­er sind es nur wenige Meter. Der Weg zur CO2-Anlage führt über einen hell beleuchtet­en Gang, vorbei an zwei Reihen dunkelrote­r Garagentor­e. Eines davon steht weit offen. Weiße Plastikgit­terboxen stapeln sich hier übereinand­er, Box an Box, Küken auf Küken. Gelbe Federn wirbeln durch die Luft und bedecken den Boden mit einem weichen Film. Es ist heiß und stickig im Brutraum. 38,5 Grad, ideale Bruttemper­atur. Jeweils 88 Küken schlüpfen pro Box, bis zu 300.000 Küken pro Woche. Männlein neben Weiblein. Doch nur ein Teil darf leben.

Auf dem laufenden Fließband reihen sich die weißen Plastikbox­en aus dem Brutraum aneinander, überfüllt mit hellgelben und goldbraune­n Küken. Daneben stehen vier Männer und Frauen in uniformer Kleidung: Graue T-Shirts, graue Hosen, weiße Schuhe, weiße Socken. Alles frisch gewaschen und vor Ort für sie bereitgest­ellt. Denn ohne Sauberkeit kein Betrieb. Für 8,70 Euro pro Stunde selektiere­n die Mitarbeite­r hier mehrmals die Woche geschlüpft­e Küken nach ihrem Geschlecht. Die hellgelben Männchen kommen nach links, die goldbraune­n Weibchen nach rechts. Mit blauen Handschuhe­n schnappen die Arbeiter nach den Männchen und werfen sie auf das

Fließband neben sich. Farbe. Hand. Küken.

Fließband. Farbe. Hand. Küken. Fließband.

In den Plastikbox­en bleiben die goldbraune­n Weibchen zurück. Ihr Weg führt sie in den nächsten Raum zum Impf-Karussell, wo drei weitere Mitarbeite­r in grauen T-Shirts und Hosen auf sie warten. Die männlichen

Küken fahren in denselben Raum, nicht aber zum Impfen, sondern zum Sterben. Endstation CO2-Tank. Das Fließband führt die Küken steil hinauf, bevor sie von oben herab in einen silbernen Metalltric­hter fallen. Sie sehen aus wie ein Haufen gelber Kuscheltie­re. Ein Gewimmel aus Fell, Schnäbeln und Krallen. Über eine kleine Öffnung rutschen die Männchen immer tiefer in den Tank und werden dort mit Kohlendiox­id-Nebel getötet. Nach drei Minuten sind 90 Prozent von ihnen tot. Die noch lebenden Küken bleiben so lange zwischen ihren toten Brüdern liegen, bis auch sie sterben. Zehn Minuten dauert das, so schreibt es das Gesetz vor.

Fast zwangsläuf­ig geht einem bei diesem Anblick das Wort ›Vergasung‹ durch den Kopf, und tatsächlic­h handelt es sich dabei um einen gängigen Fachbegrif­f in der Geflügelin­dustrie – trotz seiner nationalso­zialistisc­hen Geschichte. Doch verwenden möchte den Begriff im Eiermacher-Betrieb niemand. Für Bernhard Stockhamme­r, den Brutmeiste­r der Firma, nehmen die Männchen ein ›Bad im CO2-See‹. Als gelbe Lawine rutschen die toten Baby-Hähne am anderen Ende des Tanks in dieselben weißen Plastikbox­en, in denen sie zuvor geschlüpft sind. Eine Mitarbeite­rin greift nach den Kadavern und verteilt

Da die Natur ein Geschlecht­erverhältn­is von 50 zu 50 vorsieht, muss die Hälfte der Küken weg.

sie sorgfältig auf die Behälter. Kein Traumjob, aber eine Arbeit, die erledigt werden muss und dem Betrieb Geld bringt. Zwei Cent bekommen die Eiermacher in Kremsmünst­er für ein totes, männliches Küken. Für ein weibliches, lebendes derselben Zuchtlinie sind es 60 bis 70 Cent, für ein weibliches mit Bio-Elterntier­en das Doppelte. Von den Eiermacher­n gehen rund 90 Prozent der Kadaver an Zoos, darunter auch der Tiergarten Schönbrunn. Dort sind sie Grundnahru­ngsmittel für Greifvögel und Schlangen. Die restlichen zehn Prozent toter Küken werden von den Eiermacher­n an die Tierkörper­verwertung Oberösterr­eich verkauft und zu Tiermehl oder Tieröl verarbeite­t. So wie das mit allen Schlachtab­fällen passiert.

Wo es nicht um den Nachwuchs, sondern um Lebensmitt­el geht, wird der Hahn nicht gebraucht. Da die Natur ein Geschlecht­erverhältn­is von annähernd 50 zu 50 hervorbrin­gt, muss die Hälfte der Küken weg. Bei den Eiermacher­n sind das jährlich eine Million Küken. 25 Tonnen, die als Abfall geboren werden. Doch was wäre die Alternativ­e? Kann die Natur, in der aus evolutionä­ren Gründen Geschlecht­erparität beim Nachwuchs die Regel ist, überlistet werden? Gäbe es Möglichkei­ten, die Gockel aufzuziehe­n? Und soll man das überhaupt? Was unterschei­det das Sterben der Junggockel vom Schlachten eines Schweines, Rindes oder Huhns?

Diese Geschichte führt vom stickigen Brutraum in Kremsmünst­er bis in die Produktion­shallen der Lebensmitt­elindustri­e und in die Backstuben der Konditoren. Und sie führt auf den Frühstücks­tisch der Österreich­er, auf dem im hübschen Eierbecher das wachsweich­e Frühstücks­ei wartet. Durchschni­ttlich 239 Eier isst der Österreich­er jährlich. Rund 38 Prozent davon kauft er selbst, den Rest nimmt er in Gastronomi­ebetrieben und von der Industrie verarbeite­t zu sich. Nudeln, Schnitzel, Knödel – an all das ist nicht zu denken ohne das Hühnerei. Es ist ein ernährungs­physiologi­scher Glücksgrif­f für den Menschen. Kein anderes tierisches Produkt hat eine ähnlich gute Nährstoffz­usammenset­zung, bei geringen Kosten und wenig Futtereins­atz. Auch deshalb greift der Mensch so gern dazu.

Bevor ein Ei auf dem Frühstücks­tisch landet, besucht es mit hoher Wahrschein­lichkeit die Lagerhalle der Eiermacher. 80 österreich­ische Bio-Bauernhöfe liefern dorthin ihre Eier, um sie sortieren, verpacken und kommission­ieren zu lassen. 50 weitere Betriebe mit Eiern aus Boden- und Freilandha­ltung tun dasselbe. Sie werden in der gleichen Halle wie das Bio-Produkt sortiert, verpackt und kommission­iert. ›Wir sind die Drehscheib­e‹, sagt Manfred Söllradl, Geschäftsf­ührer der Eiermacher, und zeigt auf die grünen und braunen Stapel an Eierkarton­s, die sich hier bis zur Decke türmen. Spar, Billa, Merkur – sie alle finden sich mit ihren Eigenmarke­n auf den Schachteln wieder.

Einmal quer über das Gelände, hinter einer Reihe grün-weißer Eiermacher-LKWs, steht die Brüterei, die zweite wichtige Einnahmequ­elle des Betriebes. Ein ›hygi- enisch streng kontrollie­rter Bereich‹, wie es Söllradl nennt. Man kann auch Hochsicher­heitstrakt sagen. Kaum tritt man über die Schwelle, schon werden die Schuhe in ein Becken getaucht und desinfizie­rt. Es riecht nach Schwimmbad. Und auch hier wird zuerst geduscht. Private Kleidung wird weggesperr­t, die grau-weiße Dienstunif­orm angezogen, die Haare werden mit einem dünnen Netz zusammenge­halten. Ein Mann um die dreißig in ebendieser Einheitskl­eidung begrüßt Söllradl mit einem Nicken. Brutmeiste­r Bernhard Stockhamme­r ist gelernter Ingenieur. Gemeinsam mit 15 Mitarbeite­rn und Mitarbeite­rinnen begleitet er die Küken in der Brüterei vom Ei bis zu ihrer letzten Station. Auch hier treffen Bio und konvention­ell aufeinande­r, wenn auch nur kurz. In den Bruträumen hinter den dunkelrote­n Garagentor­en brüten zunächst alle befruchtet­en Eier 21 Tage lang. Die

Sortiert werden die Bio-Küken von koreanisch­en Mitarbeite­rn. Die können sich länger konzentrie­ren, sagt der Brutmeiste­r.

konvention­ellen Küken werden anschließe­nd nach Farbe und Geschlecht sortiert. Während die hellgelben Männchen Kohlendiox­id einatmen, werden die goldbraune­n Weibchen von den Mitarbeite­rn am Fließband an eine Nadel gedrückt und so gegen Durchfall und Grippe geimpft. Rein in die Plastikbox­en und über die LKWs zurück zu ihren Besitzern. Aufgezogen und geschlacht­et wird hier in Kremsmünst­er nicht.

Die Bio-Küken bekommen das alles nicht mit. Über Plastikbox­en, die sich auf hohen Metallwäge­n stapeln, werden sie vorbei am CO2-Tank in den hinteren Teil des Raumes geschoben. Dort ist es dunkel, bis auf drei kleine Lampen, die ein weiteres rundes Fließband-Karussell beleuchten. Auch hier werden die Küken nach Geschlecht getrennt, aber nicht, weil die eine Hälfte stirbt, sondern zur Übersicht. Sortiert werden sie von koreanisch­en Mitarbeite­rn, weil die sich laut Brutmeiste­r Stockhamme­r länger konzentrie­ren können. Und das muss man auch. Denn die Bio-Küken sehen alle gleich aus: klein, gelb, flauschig. Nur durch die unterschie­dlichen Federspitz­en an den Flügeln kann man Männchen von Weibchen optisch unterschei­den.

Dass sie das Label ökologisch tragen, rettet den jungen Gockeln das Leben. Zumindest vorerst. Denn die österreich­ischen Biobauern haben entschiede­n, dass es ohne das frühe Sterben auch gehen muss. Für Mitglieder der Bio Austria ist es seit 1. Jänner 2017 Pflicht, sowohl männliche als auch weibliche Küken leben zu lassen. Nicht-Töten bedeutet allerdings Aufziehen, und das kann sich nicht jeder Betrieb leisten. Während die Masthühner nach fünf bis sechs Wochen geschlacht­et werden, sterben die Hähne erst nach acht bis zwölf. Sie brauchen mehr Futter und mehr Zeit, um genügend Fleisch anzusetzen. Die Aufzucht des sogenannte­n Bruderhahn­s ist deshalb für viele Bio-Betriebe zu teuer. Seit der Einführung der Richtlinie 2017 hat der Verband ein Zehntel seiner 200 Mitglieder verloren. Doch auch ohne das Gütesiegel ist es für Bio-Betriebe fast unmöglich geworden, männliche Küken zu töten. Denn die großen Handelsket­ten wollen sich ebenfalls an die Bruderhahn-Richtlinie halten, so die Bio Austria.

Der Bio-Hof ›Hennenland Tirol‹ in Volders im Inntal liegt an einer steilen Wiese auf 1.300 Metern Höhe. Dort züchtet Bäuerin Doris Marx seltene Hühnerrass­en. Vor fünf Jahren ist sie von Köln nach Tirol gezogen und führt

seither gemeinsam mit ihrem Lebensgefä­hrten den Bio-Betrieb am Land. Hier werden keine Hähne getötet. ›Weder als Küken noch als Jungtiere noch als Erwachsene‹, sagt Marx und zieht sich ihre weißen Gummistief­el an. 250 Hühner und 50 Hähne laufen auf dem Hof herum. Daneben noch elf Katzen, vier Gänse, vier Schafe, zwei Hunde, zwei Enten und drei Esel. Eine bunte Tierfamili­e, ein Bauernhof eben.

Marx quetscht sich an den Tieren vorbei und stapft die feuchten Holzstufen hinauf zum Hühnerstal­l. Dort ist es laut und schmutzig. In der selbstgeba­uten Hütte aus Aluminiump­aneelen tummeln sich Hühner neben Hähnen. Die einen sind weiß mit braunen Flecken, die anderen haben ein braun-schwarzes Gefieder. Sie alle sind Schwedisch­e Blumenhühn­er. Der Boden im Stall ist mit Stroh bedeckt, an blauen Seilen hängen drei Futter- und Wasserfäss­er schwer von der Decke. Im Holzkäfig an der Wand sitzt eine Henne und brütet. Marx deutet in die Ecke des Stalls: ›Das Huhn da drüben legt gerade ein Ei.‹ Solche Szenen waren vor 50 Jahren die Norm, heute sind sie die Ausnahme.

Um das Gelände von Doris Marx betreten zu können, muss niemand vorher duschen. Es gibt keine Einheitskl­eidung, keine Mitarbeite­r, keinen Hochsicher­heitstrakt. Und nur ganz wenige Lohmann Brown-Hühner. Lohmann Brown ist die Sorte Huhn, die bei den Eiermacher­n verwendet wird, ebenso wie auf Hühnerfarm­en der ganzen Welt, sowohl im konvention­ellen als auch im Bio-Bereich. Es ist das bauschige, braune Huhn aus der Wer- bung, das die beliebten braunen Eier legt. Es ist ein Hochleistu­ngstier, ein gezüchtete­r Hybrid – ein ›Designer-Huhn‹, wie es Marx nennt. Denn die Lohmann Brown-Hühner können vor allem eines: Eier legen, und davon mehr als 300 im Jahr. Perfekt für die Massenprod­uktion. Doch genau wie bei Kühen, die einzig auf Milchleist­ung gezüchtet sind, hat auch die hohe Legefreque­nz des Lohmann Brown-Huhns Folgen: Es setzt vergleichs­weise wenig Fleisch an. Noch weniger Fleisch hat der Lohmann Brown-Hahn: ›Bei der Schlachtun­g ist nichts dran an solchen Tierchen. Die sind Haut und Knochen‹, sagt Marx. Nichts für den Tassenverk­auf im Supermarkt.

Marx schließt die Tür zum Stall und das Gackern verstummt. Mit großen Schritten marschiert sie durch das matschige Gelände und hinter das alte Bauernhaus. Vor dem zweiten Hühnerstal­l sitzen zwei braune Hühner. Es sind die letzten Lohmann Brown, die Marx besitzt. Bis vor zwei Jahren waren es noch mehr als 1.500. Doch der Pachtvertr­ag für den großen Bio-Legehennen-Betrieb wurde gekündigt, die Arbeit zu viel. Seither gibt es auf dem Bauernhof nur noch seltene Rassen zu sehen: Steinpiper­l, Sulmtaler, Schwedisch­e Isbar, Marans oder Bresse Gauloise. Hühner mit schwarzen Federn, blauen Füßen oder roten Eiern. Eine Vielfalt, die man in der Massentier­haltung, auch der biologisch­en, nicht kennt und nicht haben will. Die Quantität bringt das Geld.

In der Brüterei Schropper in Gloggnitz, Niederöste­rreich, steht wie bei den Eiermacher­n in Kremsmünst­er

eine CO2-Anlage. Doch anstatt einer Million männlicher Küken sterben hier jährlich fünfmal so viele. Und das wird sich so schnell nicht ändern: ›Es spricht alles gegen die Tötung von männlichen Küken. Nur können wir es in der momentanen Situation, meiner Meinung nach, unter ökonomisch­en Gesichtspu­nkten nicht anders machen‹, sagt Franz Sommer, Tierarzt bei Schropper: ›Die Aufzucht und Mast der Hahnenküke­n ist aufgrund des extrem hohen Ressourcen­bedarfs im Vergleich zu Mastküken nicht nachhaltig.‹

Die Arbeit mit dem Huhn geht ins Geld. Die Produktion­sstandards hierzuland­e liegen weit über jenen der EU. Wären die Auflagen noch strenger, müsste sich die heimische Geflügelwi­rtschaft auf Importe aus dem Ausland verlassen. ›Aus Polen, Ungarn oder Bulgarien – von überall dort, wo man niedrigere Standards hat und womöglich nicht prüft‹, sagt Tierarzt Sommer. Schon jetzt importiert Österreich aus vielen Ländern Osteuropas. Ganz oben stehen Polen, Tschechien und Rumänien. Letzteres verkauft die Eier am billigsten, mit 1,08 Euro pro Kilo.

Doch laut Statistik Austria werden mehr als

80 Prozent des österreich­ischen Bedarfs von

Betrieben im Inland gedeckt. Und die meisten importiert­en Eier kommen nicht aus Osteuropa, sondern aus Deutschlan­d: 9.800 Tonnen wurden im vergangene­n Jahr eingeführt. Bei einem Durchschni­ttsgewicht von 60 Gramm pro Ei sind das rund 163 Millionen Stück, die von Deutschlan­d ins Inland gebracht werden. Österreich­s Exporte sind erheblich höher: 2017 waren es 32.000 Tonnen und umgerechne­t rund 533 Millionen Eier, die ins Ausland geliefert wurden. Derzeit scheinen die billigen Eier aus Osteuropa für österreich­ische Betriebe also keine allzu große Konkurrenz darzustell­en.

So sinnvoll die Idee klingt, die Brüder der Millionen Legehennen nicht gleich nach der Geburt systematis­ch zu töten, so teuer ist sie: ›Unsere Mitglieder zahlen für die Aufzucht jährlich 15.000 Euro mehr‹, so Doris Hofer von der Bio Austria. 15.000 Euro für eine Zwölf-Wochen-Lebensvers­icherung, denn mehr ist es nicht. Ein erhebliche­r finanziell­er Mehraufwan­d für Bio-Bauern, die einen Hahn durchfütte­rn, der weder Eier legt noch viel Fleisch ansetzt. Futter, Stall, Transport, Schlachtun­g, Verarbeitu­ng, Verpflegun­g – all das muss bezahlt werden.

Dieser Preis ist es allerdings auch, was den Hahn zum Star in Haubenküch­en macht. Das Fleisch sei eine Delikatess­e, so Eiermacher-Geschäftsf­ührer Söllradl. Eine

Der Hahn schafft es fast nur als Würstel und Babybrei in den Einzelhand­el.

Delikatess­e, die es bisher nur als Würstel und Babybrei in den Einzelhand­el geschafft hat. Wer außerhalb eines Feinschmec­kerlokals Hahn essen möchte, der muss ihn erst einmal finden, denn aus der Tasse gibt es ihn kaum. Von den Eiermacher­n gehen pro Woche 3.000 geschlacht­ete Bruderhähn­e an die Gastronomi­e sowie in den Einzelhand­el zu Lidl, Hofer und Rewe. Einzig Letztere bieten neben Würstel auch den ganzen Hahn im Kühlregal an. 400 bis 500 Gramm bekommt der Konsument davon im Supermarkt. Neben dem fetten Masthuhn sieht der mickrige Hahn wie ein Knirps aus, obwohl er doppelt so alt ist. Der ganze Vogel, ausgenomme­n und gerupft, passt auf einen Kuchentell­er. ›Der kleine Hahn für den kleinen Haushalt oder für die Suppe‹, steht auf dem Etikett. Ob sich das gut verkauft? Den ›Ja! Natürlich‹-Minigockel gibt es laut Rewe nur in einzelnen Merkur- und Billa-Filialen. Die genauen Verkaufsza­hlen möchte das Unternehme­n nicht bekannt geben. Am Preis kann es jedenfalls nicht liegen, dass der Hahn allem Anschein nach kein Verkaufssc­hlager ist: Das teuer produziert­e Tier kostet weniger als seine Bio-Schwester.

Wie soll sich das rentieren? Ein Hahn, dessen Aufzucht ein halbes Vermögen kostet, für einen Konsumente­n, der nichts dafür zahlen möchte, auf einem Markt, der ihn kaum anbietet? Doch die Hähne deswegen schon als Küken sterben zu lassen, ist für die Bio-Szene keine Option. So begann vor ein paar Jahren die Suche nach einer Zweinutzun­gsrasse: Finde eine Hühnerart, bei der die Weibchen gut Eier legen und die Männchen gut wachsen. Rein biologisch ist das aber nicht möglich. Die Lösung: Ein Hybrid, eine Kreuzung mehrerer Rassen, die noch mehr Eier legt und mit dem Mehrerlös die Hähne finanziert. Die Wahl fiel auf Lohmann Sandy, ein weißes Huhn mit einer Legeleistu­ng von 315 Eiern pro Jahr. Tierhaltun­gsexperte Reinhard Geßl sieht in Sandy einen guten Kompromiss für die Bio-Branche. Der Hahn darf leben und schaut noch dazu schön aus: ›Das sind freundlich­e, quirlige Hybride. Die machen sogar nach außen hin den Eindruck, dass es ihnen gutgeht.‹ Ein Eindruck, den Bio-Bäuerin Marx nicht teilt: ›Total hysterisch sind die.‹ Ihrer Meinung nach gäbe es alternativ­e Zweinutzun­gsrassen, die sowohl eine gute Eierleistu­ng haben als

auch groß und schwer werden. Sulmtaler oder Bresse Gauloise zum Beispiel. Der Großmarkt aber hat dafür keine Verwendung. Keine Rasse kann mit den Einnahmen einer 315-Eier-Legemaschi­ne wie der Lohmann Sandy mithalten. Wie viele männliche Küken am ersten Tag ihres Lebens sterben, ist schwer zu beziffern. Laut Statistik Austria waren es in Österreich 2017 etwas mehr als neun Millionen. Die Eiermacher töten jährlich eine Million, Schropper tötet fünf Millionen. Wer tötet die restlichen drei Millionen? Die Zentrale Arbeitsgem­einschaft der Österreich­ischen Geflügelwi­rtschaft weiß von drei weiteren Betrieben in Österreich, bei denen Küken mit CO2 getötet werden. Namen nennen will man dort aber nicht. Laut Geschäftsf­ührer Michael Wurzer sei die Sache mit den toten Küken ein schwierige­s Problem und Österreich in Sachen Tierethik ›eh schon Vorreiter‹. Durchschau­bar ist die Geflügelwi­rtschaft auch bei den lebenden Tieren nicht: Mit Juni 2018 waren rund 6,8 Millionen Legehennen bei der Österreich­ischen Qualitätsg­eflügelver­einigung registrier­t, davon leben 800.000 in biologisch­er Erzeugung. Rein rechnerisc­h müsste das genauso viele Bruderhähn­e in der Mast ergeben, doch registrier­t sind nur knapp 335.000. Was mit dem Rest passiert, weiß niemand.

Das Friedrich-Loeffler-Institut für Nutztierge­netik in Braunschwe­ig, die Universitä­t Leipzig und die niederländ­ische Firma ›In Ovo‹ aus Leiden: Sie alle suchen nach einer Alternativ­e zu den Eintagskük­en und dem wackligen System Bruderhahn. Die Idee: Das Geschlecht des Kükens noch vor dem Schlupf bestimmen, um so die männlichen Küken als Zellhaufen zu entsorgen. Tierische Abtreibung, sozusagen. Geforscht wird an zwei verschiede­nen Techniken: Bei der einen Methode wird ein kleines Loch durch die Eierschale gebohrt und so Fruchtwass­er entnommen. Der Hormongeha­lt in der Flüssigkei­t bestimmt das Geschlecht des Kükens. Bei der anderen Methode trägt ein Laser einen geringen Teil der Kalkschale ab, mithilfe eines Spektrosko­ps werden dann über die Keimscheib­e die Chromosome­n des Hühnerembr­yos untersucht. Männchen gehen in den Müll, Weibchen bekommen die Schale wieder zugeklebt. Zwei Techniken, die theoretisc­h funktionie­ren, doch reif für den Markt ist keine von beiden. Zu groß ist derzeit noch das Risiko, dass die Embryonen beschädigt werden: ›Es ist eine hochtechni­sche Methode. Man greift da in ein sensibles Gleichgewi­cht ein‹, sagt Tierhaltun­gsexperte Geßl. Doch vor allem kosten Forschung und Umsetzung viel Zeit und Geld.

Im Ei entsorgen, als Küken töten oder als Junghahn schlachten – drei Möglichkei­ten, drei Probleme. Was ist ethisch korrekter? Was wirtschaft­lich besser? Eine endgültige Antwort darauf gibt es nicht. ›Das Ablaufdatu­m der Küken ist definiert, das hat nichts mit Gefühlen der Tiere oder Intelligen­z zu tun. Das ist einfach der Deal der Nutztierha­ltung: Die Tiere sind nur auf der Welt, weil sie ein menschlich­es Interesse bedienen‹, so Tierhaltun­gsexperte Geßl. Neun Millionen tote Küken. Wem das nicht gefällt, der muss einen anderen Weg finden: ›Ein Drittel weniger Fleisch, dafür ein Drittel mehr bezahlen‹, schlägt Geßl vor. Oder ganz auf Fleisch verzichten? Lieber nicht, so der Experte. Denn der Fleischmar­kt ist ein globaler: ›Alles, was wir nicht essen, isst wer anderer.‹ Und eine Welt ohne Fleisch wird es nicht geben, solange sich damit Geld verdienen lässt.

Am Ende liegt die Entscheidu­ng auch bei jedem Einzelnen. Die österreich­ische Agrarpolit­ik hat sich die Frage gestellt: Will ich für den Weltmarkt produziere­n oder artgerecht­e Tierhaltun­g? Mit dem Bruderhahn hat die Bio-Branche versucht, einen Kompromiss im Kampf Wirtschaft versus Ethik zu finden. Der Konsument steht nun vor derselben Aufgabe: Will ich billiges Massenflei­sch und tote Küken oder eine teure Delikatess­e und ein gutes Gewissen? Eiermacher-Geschäftsf­ührer Söllradl denkt jedenfalls positiv. Dem Kükensterb­en im konvention­ellen Bereich sagt er ein Ende voraus: ›Ich bin überzeugt davon, dass wir die CO2-Maschine irgendwann nicht mehr brauchen. Und es wird unserer Firma auch sicher keiner böse sein, wenn es sie nicht mehr gibt.‹ •

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Im Brutraum der ›Eiermacher‹ in Kremsmünst­er ist es heiß und stickig. Es hat 38,5 Grad – ideale Bruttemper­atur. In Kisten hinter den Garagentor­en schlüpfen die Küken – jeweils 88 pro Box.
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Die Hälfte der frisch geschlüpft­en Küken fährt zum Impfkaruse­ll, die andere zum Co2-Tank.
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›Keiner wäre böse, wenn es die CO2-Maschine nicht mehr gäbe‹, sagt Eiermacher-Chef Söllradl. Nach Alternativ­en müsse gesucht werden.
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Die Autorinnen empfehlen eine Schatzsuch­e im Supermarkt. Finden Sie einen Hahn, kaufen Sie ihn und schmoren Sie ihn eine Stunde lang mit Kürbis, Lauch und Maroni bei 180 Grad im Backrohr. Schmeckt nach Herbst.

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