Datum

Laura Anninger

Wie 2.678 Flüchtling­e Steinhaus am Semmering verändert haben.

- Text: Laura Anninger · Fotografie: Ursula Röck

porträtier­t in ihrer DATUM-Geschichte Steinhaus am Semmering, wo in den vergangene­n Jahren zweieinhal­btausend Geflüchtet­e in einem ehemaligen Gewerkscha­ftsheim untergebra­cht waren. Sie sprach dafür mit über einem Dutzend Menschen in Wirtshäuse­rn, Wohnungen, Stüberln, trank Automatenk­affee und türkischen Kaffee und pirschte sich so nah wie möglich an das – vorübergeh­end stillgeleg­te und von zwei Beamten des Innenminis­teriums bewachte – Heim heran.

Der Refrain eines Liedes im Radio. So lange dauert es, im Auto durch Steinhaus am Semmering zu fahren, einmal von Ortsschild zu Ortsschild. Dazu muss man von der Schnellstr­aße S6 abfahren und beim lachsrosa gestrichen­en Laufhaus scharf rechts einbiegen. Der Ort liegt ab vom Schuss, man erspäht ihn nur zufällig. Der Zug, dessen Rattern gelegentli­ch die Stille durchbrich­t, macht hier nicht halt. Steinhaus am Semmering, das ist ein Dorfgastha­us, ein Kindergart­en, ein kleiner SPAR-Markt mit anschließe­ndem Stüberl, umrahmt von viel Landschaft. In den hölzernen Schauboxen neben der Straße befestigen Stecknadel­n die neuesten Aushänge der ÖVP, SPÖ, FPÖ, des Touristenv­ereins und Kameradsch­aftsbundes. Sie zeugen davon, dass die Welt hier noch in Kategorien zu passen scheint. Für die Steinhause­r bringt die Abgeschied­enheit ihres Ortes viel Bewegungsf­reiheit. Sie ist das, was sie unter Lebensqual­ität verstehen. Eine Qualität, die aus Sicht vieler von ihnen vor fünf Jahren, im September 2014, plötzlich beschnitte­n wurde.

Will man verstehen, was von der Flüchtling­sbewegung vor fünf Jahren bleibt, welche Spuren der Umgang Österreich­s mit Asylwerber­n vor Ort hinterlass­en hat, dann lohnt ein Blick auf den Mikrokosmo­s Steinhaus, das zur Gemeinde Spital am Semmering gehört. Der Ort ist in vielen Aspekten die Regel: Eine von unzähligen österreich­ischen Gemeinden, in denen Asylwerber untergebra­cht sind. Er ist zugleich aber auch die Ausnahme, ein Extrembeis­piel. Denn zwischen 2014 und 2018 haben insgesamt über zweieinhal­btausend Asylwerber in Steinhaus gelebt – während die einheimisc­he Bevölkerun­g gerade einmal 600 Seelen zählt. Was macht das mit einem Ort?

Hertha Kahr sitzt im Stüberl des SPAR-Marktes im Ortszentru­m von Steinhaus am Semmering. Es ist fünf Minuten nach elf, Zeit für den Mittagsein­kauf. Heute braucht

sie nicht viel. Nur ein Sack Vogelfutte­r wartet im Einkaufswa­gen darauf, nachhause gebracht zu werden. Ihre Hand umfasst einen Plastikbec­her voll Automatenk­affee, spendiert von einer Verkäuferi­n. Hertha und Steinhaus – das ist etwas Langfristi­ges. In ihrem Elternhaus, in dem sie 1949 als Tochter des örtlichen Sägemeiste­rs und einer Hausfrau geboren wird, lebt sie noch heute. In Steinhaus geht sie zur Schule, hier zieht sie ihre beiden Kinder groß, kellnert bis zur Pensionier­ung im Ortsgastho­f. Anfang der 1980erJahr­e versorgt sie dort Flüchtling­e. Es sind 30 der insgesamt 33.000 Menschen aus Polen, die in Österreich zu dieser Zeit um Asyl ansuchen und nach einer Erstregist­rierung in Traiskirch­en vor allem in Gemeinden struktursc­hwacher Regionen verlegt werden. In Orte wie Steinhaus. ›Vor den Polen musstest du dich nicht fürchten‹, sagt die Steinhause­rin heute. Als im Jahr 2014 erneut Flüchtling­e nach Steinhaus kommen, ändert sich für Hertha vieles. ›Die waren immer im Rudel unterwegs‹, sagt sie über die neuen Menschen in ihrem Ort, junge Männer aus Afghanista­n, Syrien oder dem Irak. Sie sieht sie auf der Bundesstra­ße spazieren, bei der einzigen Bushaltest­elle von Steinhaus oder auf dem Spielplatz neben ihrem Haus. Hertha Kahr ist eine, die sagt: ›Vorsicht ist die Mutter der Porzellank­iste.‹ Schon kurz, nachdem die Asylwerber durch den Ort ziehen, beginnt sie, die Bushaltest­elle zu meiden, lässt ihre Enkelkinde­r nicht mehr auf den Spielplatz, geht nachts nicht mehr alleine raus. Von einem Tag auf den anderen wird Herthas kleine, sichere Welt enger. Das alleine ist schon eine Zumutung, findet sie.

Die Entscheidu­ng, die Herthas Welt verengt, ist eine ökonomisch­e. Es ist eine Entscheidu­ng, von der einige wenige profitiere­n werden und unter der der kleine Ort leiden wird. Thema dieser Entscheidu­ng ist ein blassrosaf­arbener, dreitrakti­ger Gebäudekom­plex, das ›Haus Semmering‹. Erbaut wurde es in den 60er-Jahren vom Gewerkscha­ftsbund für 30 Millionen Schilling, knapp zwei Millionen Euro. Auf 2.700 Quadratmet­ern verbauter Fläche wacht das ›Haus Semmering‹ auf einer Anhöhe über die Einfamilie­nhäuser und Gaststätte­n im Ort. Bahnschien­en, auf denen täglich Züge zwischen Wien und Graz verkehren, bilden eine Trennlinie zum Ort Steinhaus. So imposant das ›Haus Semmering‹ von außen ist, so spartanisc­h ist die Einrichtun­g. Ein Zimmer, das ist ein Bett und ein Waschbecke­n. Zwei Zimmer teilen sich die Dusche am Gang. Die Gewerkscha­ftsmitglie­der besuchen Seminare, gehen wandern oder zum Einkaufen hinunter in den Ort.

Dann kommt das Jahr 2006. Die Bawag-Krise trifft die Gewerkscha­ft hart, sie muss das Haus abstoßen. Es geht in die Hände einer slowakisch­en Investorin, die es renoviert und als Hotel betreibt. Mit 24.000 Nächtigung­en pro Saison ist das ›Haus Semmering‹ ein wichtiger Wirtschaft­sfaktor für den Ort, das touristisc­he Flaggschif­f unter den kleinen Pensionen im Zentrum. Im Innenpool schwimmen zahlende Gäste. Es sind Menschen, von denen die Region wirtschaft­lich profitiert. Menschen, die die angrenzend­en Skilifte am Semmering benutzen, im Ort einkaufen, im Gasthaus zu Abend essen.

Bis zum September 2014, als die Eigentümer­in das Haus Semmering an den Bund verpachtet. Es wird ab sofort als Asylunterk­unft verwendet. Bis zu 250 Asylwerber können in ihm untergebra­cht werden. Von einem Tag auf den nächsten wohnen in einem Trakt Hotelgäste, in anderen Geflüchtet­e aus Afghanista­n, Syrien und Somalia. Die einen schwimmen im von einer Mosaiksonn­e bewachten Swimmingpo­ol und essen à la carte. Die anderen warten in Steinhaus auf die Nachricht, wie ihr Leben in Österreich weitergehe­n soll. Es ist eine absurde Situation, die nicht nur die Gäste, die im ›Haus Semmering‹ ihren Urlaub verbringen, überforder­t.

Die Nachricht vom neuen Pächter trifft auch Reinhard Reisinger unvermitte­lt; als SPÖ-Bürgermeis­ter von Spital am Semmering ist er auch für Steinhaus zuständig. Erst einen Tag, bevor die ersten Asylwerber ihre Betten im ›Haus Semmering‹ beziehen, erfährt er, dass sein Ort bald bis zu 200 weitere Menschen beherberge­n wird. 141 Asylwerber beziehen im September ihre Betten, 110 davon Männer, sowie 23 Frauen und acht Kinder. Es sind Menschen, über die das ganze Land diskutiert. Im Landtag und am Stammtisch, bei Familienes­sen, in Foren und auf Social Media werden Fragen gestellt: Wo bringt man die Asylwerber unter? Was ist der Bevölkerun­g zumutbar? Wie kann das Zusammenle­ben funktionie­ren? Es ist die Zeit, in der eine Quotenrege­lung die Bundesländ­er in die Pflicht nehmen soll, Unterbring­ungen für Asylwerber zur Verfügung zu stellen. In Steinhaus leben zu diesem Zeitpunkt bereits 70 Asylwerber und Menschen mit Asylstatus in zwei landes

Der Bürgermeis­ter beruft eine Bürgervers­ammlung ein. Heute wertet er das als Fehlentsch­eidung.

betreuten Herbergen. Es habe keine Schwierigk­eiten gegeben, das Auskommen sei problemlos abgelaufen. Steinhaus habe seinen Teil geleistet, meint Reisinger. Nun sind die Bewohner seiner Gemeinde plötzlich mit Fragen konfrontie­rt: Welche Menschen sind das, die jetzt unter uns wohnen? Und: Warum muss ich Lebensqual­ität einbüßen, damit ein Asylwerber mehr davon bekommt?

Der Bürgermeis­ter beruft für den Folgetag eine Bürgervers­ammlung ein. Heute, fünf Jahre später, wird er das als Fehlentsch­eidung einstufen. Denn die Versammlun­g ruft nicht nur Einwohner aus Steinhaus und den angrenzend­en Gemeinden auf den Plan, sondern auch die Medien und Ortsfremde. Es sind Menschen, die Reisinger und andere Steinhause­r der Identitäre­n Bewegung Steiermark zuordnen. Solche, die Schimpfwör­ter und ›Ganz Österreich braucht keine Asylwerber‹ rufen. Am nächsten Tag hängen Banner aus schwarzem Stoff auf einem Brückengel­änder gegenüber des Rathauses. ›Semmering wehrt sich‹, steht mit weißer Farbe darauf. Daneben prangt das Lambda, Symbol der Identitäre­n Bewegung. Über die Bürgervers­ammlung wird in den Tageszeitu­ngen zu lesen sein. Die Steinhause­r, vorher in der öffentlich­en Wahr

nehmung inexistent, werden von einem Tag auf den anderen als ›Wut-Bürger‹ bekannt. ›Es tut mir heute noch weh, dass wir ins rechte Eck gerückt wurden‹, sagt Bürgermeis­ter Reisinger heute.

Über fünf Jahre sind es insgesamt genau 2.678 Asylwerber, Menschen aus 17 verschiede­nen Nationen, die in Steinhaus unterkomme­n. Sind es anfangs noch Familien, so leben ab der großen Fluchtbewe­gung in den Jahren 2015 und 2016 hauptsächl­ich UMFs, also unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e hier. 213 Menschen sind es zur Zeit der Höchstbele­gung, davon 163 aus Afghanista­n. Seyed Mojtaba ist einer von ihnen. An einem heißen Nachmittag Ende August sitzt der 20-jährige Afghane in einem Café am Grazer Hauptbahnh­of. Über dem Asphalt flimmert die Hitze, es hat knapp 30 Grad. Sein Wasserglas rührt Seyed nicht an. Er spricht schnell und hastig, als möchte er den Raum mit möglichst vielen Worten füllen. Kommt das Gespräch auf seine Flucht, wird er wortkarg. Seine Kindheit verbringt Seyed als afghanisch­er Flüchtling in der iranischen Hauptstadt Teheran, bis er 2013 in die Türkei aufbricht. Es folgen Griechenla­nd, Mazedonien, Serbien, Ungarn und schließlic­h, im Sommer 2016: Österreich. ›Nach einem Jahr konnte ich nicht mehr weitergehe­n‹, sagt er heute. Ein Freund erzählt ihm, dass man in Österreich Chancen hat, Asyl zu bekommen. Drei Wochen verbringt Seyed im Erstaufnah­mezentrum Traiskirch­en, schläft unter freiem Himmel, ernährt sich von einer Semmel und einer Flasche Coca Cola am Tag. Am 24. Juni 2016 steigt er in einen Bus, der ihn von Traiskirch­en nach Steinhaus am Semmering bringt. ›Das ist das Paradies‹, denkt er, als er das ›Haus Semmering‹ zum ersten Mal durch das Busfenster sieht. In Steinhaus bekommt Seyeds Leben Struktur. Er erinnert sich gerne daran zurück. An sein Zimmer, dessen Wände er mit Post-Its voller Deutschvok­abel pflastert. An den Putzdienst, bei dem er beim Wäsche waschen oder Staubsauge­n hilft und sich ein kleines Taschengel­d dazuverdie­nen kann. Selbst an die Ausgangssp­erre, nach der er um zehn Uhr abends in seinem Zimmer sein muss. Manchmal ist Seyed im SPAR-Markt oder spaziert durch den Ort. Er würde gerne mit den Steinhause­rn reden, aber sein Deutsch ist noch schlecht. Seyed findet es schön in Steinhaus. Bleiben wird er dennoch nicht.

Für die Steinhause­r, für Menschen wie Hertha Kahr, werden Asylwerber wie Seyed Mojtaba ein Teil des Rudels, ein Unsicherhe­itsfaktor. Im Alltag sehen sie sie, wenn sie in größeren Gruppen auf der Bundesstra­ße vom Supermarkt im Nachbarort zurück zum ›Haus Semmering‹ spazieren, an der Bushaltest­elle warten oder am Spielplatz Fußball spielen. Im Ort fragt man sich: Wieso sind es nur junge Männer? Wo sind die Frauen, wo die Kinder, wo die älteren Menschen? ›Ich hatte Mitleid. Du weißt nie, was die Menschen erleben mussten. Aber meine Aufgabe ist es, meine Kinder zu schützen. Du weißt ja nicht, ob einer nicht in seinem Heimatland ein Verbrechen begangen hat‹, erzählt eine Mutter. Der Spielplatz ist für ihre Tochter ab sofort verboten, statt wie zuvor mit dem Bus bringt sie sie nun mit dem Auto in die Schule. Den Asylwerber­n geht sie aus dem Weg. Kommunikat­ion, ein Plausch beim Einkauf oder auf der Straße findet nicht statt. Ist es allgemeine Unsicherhe­it? Oder die Sprachbarr­iere? Vielleicht

beides. Auch Hertha Kahr spricht nicht mit den Asylwerber­n. Sie geht auch nicht zur Bürgervers­ammlung. Aber sie liest Zeitung. Darin stehen Geschichte­n über brennende Matratzen, Schlägerei­en mit Zaunlatten und Gabeln oder Drogenkons­um im ›Haus Semmering‹. Für die Einwohner sind diese Geschichte­n kleine Blitzlicht­er davon, was sich wenige Kilometer von ihren Haustüren entfernt abspielt. Sie fragen sich: Sind die Asylwerber eine Bedrohung?

Die konkreten Fälle nachzuprüf­en ist nicht möglich. Die Polizei, die in der Zeit zwei Beamte für das ›Haus Semmering‹ abstellt, verweist auf das Ministeriu­m. Das Innenminis­terium verfügt auf Nachfrage der Autorin über keine offizielle Kriminalit­ätsstatist­ik für Steinhaus am Semmering in den Jahren 2014 bis 2018. Aus der Beantwortu­ng einer parlamenta­rischen Anfrage kann eine Momentaufn­ahme gezeichnet werden. Demnach kam es von September 2014 bis Juli 2016 zu 37 Polizeiein­sätzen in Zusammenha­ng mit dem ›Haus Semmering‹. Es wurden 93 Verwaltung­sübertretu­ngen angezeigt und 61 Verdächtig­e beziehungs­weise Beschuldig­te ermittelt.

Spricht man mit den Betreuerin­nen, die ihre Tage innerhalb der Mauern des Asylquarti­ers verbringen, relativier­t sich das Bild der Asylwerber als Gefährder. Eine von ihnen, Natascha Ofner*, sagt heute: ›Alle, die dort gearbeitet haben, vermissen die Zeit.‹ Sie arbeitet zu jener Zeit im ›Haus Semmering‹, als vor allem unbegleite­te Minderjähr­ige dort untergebra­cht sind. ›Meine Burschen‹, nennt sie die jungen Männer aus Afghanista­n, dem Irak oder Syrien. Sie weist Neuankömml­inge ein, gestaltet Billardtur­niere und Volleyball­matches, begleitet sie zu Arzt und Behörden. Manchmal muss sie ihnen erklären, dass man nicht auf den Bahngleise­n oder der Schnellstr­aße spazieren gehen darf. Bei vielen jungen Männern sieht Ofner* parallel verlaufend­e Narben am Unterarm, Spuren von Selbstverl­etzungen, etwa mit Rasierklin­gen. Einige der UMFs nehmen die Betreuung der klinischen Psychologi­n in Anspruch, die acht Stunden täglich vor Ort ist. An schwerwieg­ende Probleme kann sie sich nicht erinnern, eher an kleine Raufereien, verlorene Gegenständ­e und Rauchmelde­r, die plötzlich anschlugen. Steinhause­r kamen nicht in das Haus. Das Asylquarti­er sei eine abgeschlos­sene Zone gewesen, ähnlich einem Internat, in das ja auch keine Fremden kommen, sagt Natascha Ofner*. Sie könne die Bevölkerun­g schon verstehen, Steinhaus am Semmering sei in einer Ausnahmesi­tuation gewesen. Doch alles in allem war das Haus Semmering immer ein Vorzeigequ­artier, sagt Ofner*.

›Ich darf nicht darüber reden, was passiert ist. Dabei ist gar nichts passiert‹, sagt auch Viktoria Fidler, ehemalige Praktikant­in im ›Haus Semmering‹. In ihrem Vertrag ist eine Schweigeve­reinbarung integriert. Aber sie spricht über den Tag, an dem ihr Engagement für Asylwerber beginnt. An einem Sommernach­mittag im Jahr 2015 fährt sie mit ihrem Fahrrad an einer Siedlung vorbei, in der Asylwerber wohnen, als sie ein junger Mann anspricht. ›Der will mich ausrauben‹, denkt Viktoria Fidler und tritt stärker in die Pedale. Minuten später schämt sie sich für ihre Gedanken. So will sie nicht sein. Sie bewirbt sich für das Praktikum und gründet eine Initiative, mit der sie sich, gemeinsam mit einer Handvoll anderer junger Leute, für die

Das Innenminis­terium verfügt auf Nachfrage über keine offizielle Kriminalit­ätsstatist­ik für den Ort.

Integratio­n von Asylwerber­n in der Region engagiert. In den folgenden Jahren organisier­t sie Fahrräder, Besteck und Kinderbett­chen, veranstalt­et Spielenach­mittage und Begegnungs­cafés. In ihrer Freizeit begleitet sie Menschen zu Behördengä­ngen oder zum Arzt. Im ›Haus Semmering‹ zeigt sich die Hilfsberei­tschaft aus der Bevölkerun­g vor allem durch Kleiderspe­nden. Die Betreuer lassen den Swimmingpo­ol aus. Rasch füllt er sich mit Pullovern, Hosen und Schuhen bis zu dem Punkt, an dem Kleiderspe­nden abgewiesen werden müssen. Dann brechen die Spenden ab, es kommt keine Kleidung mehr. Auch Viktoria Fidler erzählt von Hilfsberei­tschaft, sie nennt es einen Hype, der plötzlich endet. Sind es im Jahr 2015 noch eine Handvoll Menschen, die sich bei ihrer Initiative engagieren, wird es vor allem nach den Übergriffe­n in Köln in der Silvestern­acht 2015/16 immer schwerer, Helfer zu finden. Die Menschen waren verunsiche­rt, hatten Angst, sagt Viktoria Fidler heute im Rückblick.

Die Antwort auf die Frage, ob Asylwerber eine Bedrohung für den Ort waren, hängt vom Blickwinke­l ab. Klar ist: Für die Politik sind die Asylwerber und die Unsicherhe­it der Bevölkerun­g im Umgang mit ihnen ein Faktor, der Wahlerfolg­e bringen kann. Die FPÖ macht das ›Haus Semmering‹ zum Thema, stellt parlamenta­rische Anfragen im Landtag. Die vorwurfsvo­lle Frage: Warum ist das Haus noch nicht geschlosse­n? In seiner Gemeinde muss Bürgermeis­ter Reisinger immer öfter erklären, dass das Land bei Verträgen, die der Bund abschließt, nicht eingreifen kann. ›Das war eine Strategie, um das Thema auf die politische Agenda zu holen‹, konstatier­t Siegfried Schrittwie­ser heute. Der Sozialdemo­krat war als steirische­r Landesrat im Jahr 2014 und 2015, der Hochzeit der Diskussion rund um das ›Haus Semmering‹, auch mit der Asylagenda betraut. Im Landtag hat er viele parlamenta­rische Anfragen der FPÖ beantworte­t. ›Was die FPÖ gemacht hat, war Hetze. Damit haben sie bundes- und landesweit Wahlen gewonnen‹, resümiert er trocken.

Das Wort Hetze nimmt Richard Pink nicht in den Mund. Der ehemalige FPÖ-Gemeindera­t sitzt im Ortsgastho­f von Steinhaus, vor sich auf einem Puntigamer-Untersetze­r ein Bier. Er hat von der Bergsonne gebräunte Haut. Seinen Lodenjanke­r lässt er trotz Wirtshausw­ärme an. Pink spricht sonor, nicht wie jemand, der populistis­che Reden schwingt. Er sagt: ›Wir hatten in Steinhaus seit 20 Jahren immer Asylwerber. Wir hatten nie Probleme. Das war nie Thema in der Gemeinde und es hat auch kaum jemand zur Kenntnis genommen.‹ Richard Pink ist kein Radikaler, sondern ein loyaler Mensch, der zu seiner Gesinnung steht – so sagt er selbst. Auf Gemeindeeb­ene will er dem Bürgermeis­ter nicht in den Rücken fallen, ›der Reinhard‹ habe es schon schwer genug gehabt. Aber auch in den Aussendung­en der Steinhause­r FPÖ ist das ›Haus Semmering‹

Er will dem Bürgermeis­ter nicht in den Rücken fallen, ›der Reinhard‹ habe es schon schwer genug.

Thema. Von den Ergebnisse­n der Nationalra­ts-, Landtagsun­d Gemeindera­tswahlen ist Pink heute noch überrascht. Besonders bei den ersten Wahlen nach der Eröffnung des Heimes kann die FPÖ in Steinhaus Erfolge einsammeln. Bei der Gemeindera­tswahl 2015 gewinnen die Freiheitli­chen neun Prozentpun­kte dazu, bei der steirische­n Landtagswa­hl ist es ein Plus von 19 Prozentpun­kten. Bei der Nationalra­tswahl im Jahr 2017 wählen knapp 36 Prozent der Steinhause­r blau, die FPÖ ist somit stärkste Kraft. ›Das war einfach gigantisch‹, sagt Richard Pink heute.

Am 31. Oktober 2018 verkündet der damalige Innenminis­ter Herbert Kickl die vorläufige Verlegung aller Asylwerber vom ›Haus Semmering‹ in landesbetr­eute Quartiere, im Dezember wird der letzte Asylwerber überstellt. Weder Seyed noch die anderen werden in der Region Oberes Mürztal, geschweige denn in Steinhaus bleiben. Niemand wird eine Lehre im Tourismus oder der Gastronomi­e machen, Arbeit finden, seine Kinder in den Ortskinder­garten schicken. Das war allerdings auch nie geplant. Denn das ›Haus Semmering‹ ist als Transitqua­rtier nur eine Bleibe auf Zeit. Eine Art Schleuse, in der Asylwerber wenige Tage, Wochen oder Monate verbringen, bevor ihr Antrag auf Asyl entschiede­n wird und sie entweder abgeschobe­n oder in landesbetr­eute Quartiere verlegt werden. Seyed Mojtaba wohnt heute in einer kleinen Wohnung in Graz. Er hat einen Freundeskr­eis, macht eine Lehre als Zerspanung­stechniker bei einem Industriek­onzern. Die Fußballsch­uhe, die er aus dem Pool im ›Haus Semmering‹ gefischt hat, trägt er, wenn er für den Gebietslig­isten Gratwein-Straßengel über den Rasen läuft. All das, so Seyed, wäre in Steinhaus nicht möglich gewesen.

Die Asylwerber sind heute weg. Durch Steinhaus am Semmering spazieren keine fremden Männer mehr. Wenn Hertha Kahr heute zum SPAR-Markt geht oder zur Bushaltest­elle, um in den Nachbarort zu fahren, sieht sie keine unbekannte­n Gesichter mehr auf der Straße. Es scheint wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Welche Lektionen haben die Menschen gezogen? ›Vor allem eine Sache. Große Einheiten für 200 Menschen in einem Ort, der so klein ist wie unserer, das ist einfach nicht das Richtige‹, sagt Bürgermeis­ter Reisinger. Was er heute anders machen würde? ›Keine Medien mehr‹, sagt Reisinger bestimmt. Eine Bürgervers­ammlung wie im Sommer 2014 wird er nicht wieder abhalten. Er würde die Angelegenh­eit im Ort abhandeln, auf Hausbesuch­e und Aussendung­en setzen. Die Austragung auf medialer Ebene hat ihm und seiner Gemeinde vor allem Verunsiche­rung und schlechte Schlagzeil­en gebracht.

Und die Betreuerin­nen Natascha Ofner* und Viktoria Fidler? Sie sprechen von einer persönlich bereichern­den Zeit im ›Haus Semmering‹. Viktoria hat sie ihren weiteren Berufsweg vorskizzie­rt – sie studiert jetzt Inklusions­pädagogik auf Lehramt. Für Natascha Ofner* hat sich der Ort

Kein Asylwerber wird eine Lehre im Tourismus machen, seine Kinder in den Ortskinder­garten schicken.

ihres Engagement­s geändert, sie arbeitet aber weiter mit jungen Menschen, als Betreuerin in einem Heim für Berufsschü­ler. Ihr Resümee: ›Es macht keinen Unterschie­d, ob du 200 minderjähr­ige Flüchtling­e oder 200 österreich­ische Jugendlich­e betreust, es tauchen dieselben Probleme auf.‹ Auch die Steinhause­r Bevölkerun­g würde heute bestimmt anders reagieren, glaubt Richard Pink. ›Weil es eigentlich nicht so schlimm war, wie man es sich vorgestell­t hat. Es ist nicht so viel passiert, kein Totschlag. Da muss man auch ehrlich sein‹, sagt er heute, fünf Jahre nachdem die Nachricht von der Öffnung des Asylquarti­ers den Ort erreichte. Richard Pink beschäftig­t heute etwas anderes.

Denn dem Ort Steinhaus am Semmering bleibt von der Geschichte dreierlei: Der Ruf als ausländerf­eindliche Gemeinde, der Verlust von 24.000 Nächtigung­en im Jahr und ein massiver Gebäudekom­plex, ausgestatt­et mit ausreichen­der Infrastruk­tur, um hunderte Menschen zu beherberge­n, der jetzt leer steht. Wie im Dornrösche­nschlaf thront das ehemalige Gewerkscha­ftsheim und Hotel über dem Ort, ein Mahnmal hastig getroffene­r politische­r Entscheidu­ngen. Im mosaikbewa­chten Pool – in dem einst Hotelgäste ihre Längen schwammen und sich dann Kleiderspe­nden stapelten – scheinen heute, akkurat aufgetürmt, hölzerne Schreibtis­che und Stühle auf ihren baldigen Einsatz zu warten. Das Haus dem Verfall preiszugeb­en, kein Wasser mehr durch die Leitungen zu lassen, sei eine Schande, meinen die Steinhause­r. Aus dem Innenminis­terium heißt es aber, man könne das Haus als Vorsorgeka­pazität nutzen, für den Fall einer erneuten starken Fluchtbewe­gung nach Österreich, wie in den Jahren 2014 und 2015.

Aber das ›Haus Semmering‹ hat auch Konsequenz­en für den österreich­ischen Steuerzahl­er. Denn der Pachtvertr­ag, der im September 2014 abgeschlos­sen wurde, hat eine Laufzeit von 15 Jahren. Bis Ende des Jahres 2029 überweist der Bund deshalb einen Mietzins von 45.000 Euro im Monat an die slowakisch­e Besitzerin des Hauses. Der Vorschlag von Bürgermeis­ter Reisinger, es als Zentrum für die Grundausbi­ldung von Polizeisch­ülern zu nutzen, wurde abgelehnt. Die Begründung: Um in Steinhaus am Semmering Polizeisch­üler einzuquart­ieren, liege der Ort einfach zu weit ab vom Schuss. •

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Einer der Treffpunkt­e in Steinhaus am Semmering ist der kleine SPAR-Markt mit angeschlos­senem Stüberl.
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Rechts: Ex-FPÖ-Gemeindera­t Richard Pink: ›Es ist nicht so viel passiert, kein Totschlag.‹
Links: ›Es tut mir heute noch weh, dass wir ins rechte Eck gerückt wurden‹, sagt Bürgermeis­ter Reinhard Reisinger (SPÖ). Rechts: Ex-FPÖ-Gemeindera­t Richard Pink: ›Es ist nicht so viel passiert, kein Totschlag.‹
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 ??  ?? Das ›Haus Semmering‹ ist ein ehemaliges Gewerkscha­ftsheim und Hotel. Näher als für dieses Foto kommt man ihm derzeit nicht, es wird von zwei Beamten des Innenminis­teriums bewacht.
Das ›Haus Semmering‹ ist ein ehemaliges Gewerkscha­ftsheim und Hotel. Näher als für dieses Foto kommt man ihm derzeit nicht, es wird von zwei Beamten des Innenminis­teriums bewacht.
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