In der Empörungsfalle
Was die Erregung über Politik in Zeiten von Ibiza bewirken kann – und was nicht.
Was die Erregung über Politik in Zeiten von Ibiza bewirken kann – und was nicht.
Es ist keine schöne Szene an diesem Abend in einem feinen Wiener Restaurant: Zwei Frauen, die eine älter, die andere jünger, geraten auf eine Art aneinander, mit der sie es mühelos in die Serie ›Desperate Housewives‹ geschafft hätten. Nur geht es nicht um Männer oder Kinder, sondern um Politik.
Es wird laut. Der Mann in der Mitte versucht zu beruhigen, vergeblich. An den umstehenden Tischen denken sich die Gäste vielleicht: Zickenkrieg! Über die Gesprächsfetzen wundern sie sich wahrscheinlich: ›Wie lange wollen Sie warten …‹ ›Immer diese Aufgeregtheit …‹ ›Wie lange? Bis es zu spät ist?‹ ›Ich halte dieses Empört-Sein über jede Kleinigkeit …‹ Gut, die Musik ist laut. Vielleicht verstehen sie auch gar nichts.
An diesem Abend im März 2018 ist die neue Regierung von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache erst ein paar Monate im Amt. Dass sie wenig mehr als ein Jahr später alt aussehen würde, war nicht vorherzusehen. Was die Ältere so sehr aufgebracht hat, war die bereits erkennbare Tendenz zur Missachtung der Institutionen wie des Parlaments, zur Geringschätzung bisher gepflogener Usancen, zur Verweigerung des politischen Dialogs mit allen außerhalb des eigenen parteipolitischen Orbits, sowie die vielen ›Einzelfälle‹ in der FPÖ. Vor allem aber fand die Ältere die Vorliebe der FPÖ für Viktor Orbáns ›illiberale Demokratie‹ empörend. Strache hatte sie erst im Jänner desselben Jahres beim Frühschoppen der FPÖ offen eingestanden: › Hätten wir die absolute Mehrheit, könnten wir es wie Orbán machen …‹
Die Jüngere konnte damit nichts anfangen: Alles nicht so schlimm, alles nur Worte, alles nicht der Aufregung wert. Je mehr die Jüngere alle bedenklichen Vorkommnisse zu Nebensächlichkeiten herabstufte, desto ärgerlicher wurde die Ältere. Lehrt die Geschichte nicht das Gefährliche an jeglicher Beschwichtigungspolitik ?
Die Szene war nicht schön. Dennoch war sie es wert. Denn in einem Punkt hatte die Jüngere Recht. Flächendeckende Empörung ohne Konsequenzen bleibt entweder wirkungslos oder gereicht politisch nur jenen zum Vorteil, über die – mit oder ohne Hilfe der modernen Technologien – Entrüstung hereinbricht. Global gesehen gibt US-Präsident Donald Trump das beste Beispiel dafür – mit den traditionellen und neuen Medien als Kollaborateuren, als Partner in der Manipulation gewissermaßen.
Trump verdankte seine Nominierung zum Kandidaten der Republikaner hauptsächlich der ständigen Provokation und der reflexartigen Empörung darüber, sowie dem ungeheuren Ablenkungspotenzial. Wie wäre die Wahl wohl ohne seine täglichen Ungeheuerlichkeiten, Angriffe, Lügen und, ja, auch Dummheiten, die er via Twitter verbreitete, ausgegangen? Was wäre passiert, wenn er nicht Millionen Sympathisanten damit erreicht hätte, weil die traditionellen Medien Verbreitung und endlose Diskussionen darüber verweigert hätten? Was, wenn die Fernsehstationen, auch die kritischen, seine direkten Anrufe in ihre Shows nicht entgegengenommen hätten, um sich danach stundenlang darüber zu erregen? Was, wenn Trump
Alles nicht so schlimm, alles nur Worte, alles nicht der Aufregung wert. Lehrt Geschichte nicht das Gefährliche an jeglicher Beschwichtigungspolitik?
nicht jede für ihn negative Meldung mit einer neuen Provokation aus den Nachrichten verdrängen hätte können? Wir werden es nie wissen. Seine Politik als Präsident folgt weiterhin genau diesem Muster. Und es funktioniert.
National gesehen, im Mini-Format gewissermaßen, liefert die politische Entwicklung seit der Flüchtlingskrise 2015 ebenfalls ein einschlägiges Beispiel. Die Vermutung, dass die Empörung über die mangelnde Empathie, ja mitunter Bösartigkeit, in der Asylpolitik nur jene
gestärkt habe, die daraus politisches Kapital schlagen wollten, ist berechtigt. Bezüglich des Ablenkungspotenzials gibt die Entwicklung seit dem Strache-Video aus Ibiza auch einiges her: Mittels Empörung über das Zustandekommen und die Veröffentlichung wird – wieder mit tatkräftiger Unterstützung der Medien, alt wie neu – vom Inhalt abgelenkt. Nicht Korruptionsanfälligkeit, Amtsmissbrauch oder Einschränkung der Medienfreiheit waren oder sind das Thema, sondern Straches Befindlichkeiten – auf allen Kanälen. Das reizt zu einem Gedankenspiel: Wie hätte wohl Jörg Haider Twitter zu seinem politischen Vorteil eingesetzt?
Man kann von einer Empörungsfalle sprechen, aufgestellt von allen, die in die Öffentlichkeit drängen, nicht nur von Politikern. Doch so einfach ist das nicht. Jedenfalls nicht im Politischen. Vorerst gilt es von Fall zu Fall zu entscheiden, was als erkennbarer Affront gedacht ist und was inhaltlich eine verstörende Grenzüberschreitung und damit ernst gemeint ist. Letzteres verlangt Zurückweisung, Überprüfung, Achtsamkeit. Das ist ein nahezu unbewältigbares Unterfangen in Zeiten von Twitter, Facebook und anderen sozialen Medien. Das Trommelfeuer der Meldungen ruft die meisten Teilnehmer zu spontanen Reaktionen auf. Das war auch einer der Gründe, warum ich persönlich nach einem kurzen Zwischenspiel diese Stätte der Aktion und Reaktion wieder verlassen habe. Nicht, weil ich mich von all den Lächerlich- und Nebensächlichkeiten dort zugedröhnt gefühlt habe, sondern weil ich begann, mir selbst zu misstrauen. Mehr Unbehagen gibt es nicht. Mir fehlte der Filter der Nachdenklichkeit. Nichts ist einfacher, als seiner Empörung in wenigen Sätzen freien Lauf zu lassen. Man kann ohne Korrektiv Emotionen freisetzen, dies dann auch noch als Befreiung oder Befriedigung empfinden und hat doch nichts anderes erreicht, als grimmig in die Empörungsfalle zu stürzen.
Der Verdacht, Empörung in Politik und Medien wirke wie eine Droge, war nicht mehr zu ignorieren. Die Dosis muss ständig erhöht werden. Je größer der Erfolg für Politiker, sich mittels Entrüstung als Opfer von Unterstellungen, Ungerechtigkeiten und unfairen Gegnern zu gerieren, desto schriller werden ihre Empörungstöne. Suchtopfer sind aber auch all diejenigen, die auf der anderen Seite der Falle stehen. Je stärker die Befriedigung durch den spontanen Emotionsabbau, desto radikaler die Wortwahl. Beide Seiten vereint die Sucht nach immer mehr ›Klicks‹, also nach Aufmerksamkeit.
Die Unterscheidung zwischen unreflektierter und berechtigter Erbitterung ist schwierig. Am Beispiel des Anstands: Offenbar wissen viele Menschen nicht mehr, was das überhaupt sein soll. Welche Parameter definieren Anstand? Was gilt heute als anständig, das morgen auch noch so gesehen wird? Welche Verletzungen des Anstands müssen/sollen mit Ingrimm öffentlich benannt und geahndet werden? Greift hier auch eine gewisse Beschwichtigungskultur? Alles nicht so schlimm und der Aufregung nicht wert?
Oder die unsägliche Politik des ›Wir und die anderen‹, des Aus- und Abgrenzens. Wie die aufgeregten Jahre nach der Flüchtlingskrise 2015 in Österreich gezeigt haben, fand sich nicht einmal die katholische Amtskirche zu dauerhafter Empörung bereit. Ein paar leise Worte der Mahnung da und dort. Mehr nicht! Bei jedem Versuch auf europäischer Ebene, Menschenrechte zu relativieren, fiel der Aufschrei der Politik verhalten aus. Die Entrüstung kam meist aus jenem Teil der Zivilgesellschaft, der mühelos zu diskreditieren ist, seitdem er mit dem Begriff ›Gutmensch‹ lächerlich gemacht und somit abgewertet wurde.
Schließlich geht es um die Unterscheidung zwischen der Empörung als Selbstzweck und jener, die in Aktivismus mündet. Ab Mai 2011 begann ich in diesem Zusammenhang einen Feldversuch. Nachdem sich die Zahl der empörten Presse- Leser, die mir ihren Zorn via Mail kommunizierten, sprunghaft erhöht hatte, wollte ich diesem per Handlungsanleitung ein Ventil verschaffen. Aus Kenntnis der österreichischen politischen Gegebenheiten heraus wusste ich, dass es für engagierte Bürger unzählige Möglichkeiten der Teilhabe am Politischen gibt. Alle der
Nicht Korruptionsanfälligkeit, Amtsmissbrauch oder Einschränkung der Medienfreiheit waren oder sind das Thema, sondern Straches Befindlichkeiten – auf allen Kanälen.
Mehrheit der Wahlbevölkerung unbekannt. Alle mit unterschiedlich großen ›Hürden‹ versehen, um den Betrieb in der geschlossenen Gesellschaft der Amtsträger nicht ungebührlich zu stören, im Grunde aber totes Recht. Überdies lagen jede Menge Ideen, wie Bürgerzorn in Bürgertat umzuwandeln wäre, auf meinem Tisch.
Dieser Feldversuch lief anfangs unter dem Titel ›Wutbürger‹, wurde aber nach Krawallexzessen in Deutschland unter dem gleichen Schlagwort in ›Mutbürger‹ umgetauft. Monat für Monat trafen sich erbitterte Bürger, um sich wechselseitig der Berechtigung ihrer Empörung zu versichern. Ich bat ›Experten‹ zu diesen Treffen, Aktivisten auch, Bürgerinitiativen und sogar willige Gründer von Parteien, wie etwa den NEOS. Über ein Jahr lang entstand so ein Netzwerk von Initiativen und Aktivisten, von Einzelprojekten und Arbeitsgruppen. Alle Anwesenden hätten die Möglichkeit der Vernetzung gehabt. Irgendein Herzensanliegen der Teilnehmenden wurde immer vorgestellt – sei es der Widerstand gegen die Schuldenpolitik der damaligen großen Koalition unter Werner Faymann und Michael Spindelegger; sei es die Baupolitik der Stadt Wien; oder die ›EU-Austrittspartei Österreichs‹, die (unabhängig von den ›Mutbürgern‹) im September 2011 gegründet worden war, um nur drei zu nennen.
Leider stellte sich heraus, dass die Wutbürger mit Mut nicht viel im Sinn hatten. Zwar waren sie in immer größeren Scharen von einem kleinen Hinterzimmer eines Kaffeehauses in den Saal des Café Landtmann und schließlich mit freundlicher Unterstützung des Besitzers des Burgkinos, Kurt Schramek, dort in den Großen Saal gezogen, doch nur wenige Empörte machten von den Möglichkeiten der Vernetzung Gebrauch. Der Worte waren also genug gewechselt, Taten ließen sie nicht sehen. Womit der Versuch, ihre negative Emotion in positive Energie umzuleiten, nach einem Jahr als gescheitert betrachtet werden musste. Die meisten Verdrossenen hielten ihren verbalen Emotionsfuror für eine ausreichende Tätigkeit.
Auch eine Art Empörungsfalle, in die ich da hineingetappt bin. Möglicherweise aber auch symptomatisch für mangelhaftes Durchhaltevermögen. Diesen Oktober zum Beispiel jährt sich zum zehnten Mal der Beginn der ›Uni brennt‹-Bewegung mit der Besetzung des Audimax der Universität Wien am 22. Oktober 2009. Das Internet spielte damals bereits eine große Rolle für die Kommunikation der ›Aufständischen‹, die sich über die Beschränkung des Hochschulzugangs empörten. Die Regierung Faymann reagierte kaum – in der Gewissheit, dass sich die Bewegung mit den nahenden Weihnachtsferien verlaufen werde. So war es denn auch. Zehn Jahre später ist die Zugangsbeschränkung vieler Studienfächer kein Grund für Aufregung mehr.
Aktionen dieser Art und auch Demonstrationen verlangen Entschlossenheit und Nachhaltigkeit. Zwar lässt sich via Internet in Stundenschnelle eine große Anzahl von Empörten zu einer Kundgebung rufen; zwar zeigte die Initiative ›Omas gegen Rechts‹ jüngst bei den Protesten gegen die Regierung Kurz/Strache, was Beharrlichkeit heißt, doch Wirkung haben Demonstrationen selten entfaltet. Jene unter Schwarz-Blau I ließen Wolfgang Schüssel & Co. einfach ins Leere laufen; die unter Kurz & Co. erübrigten sich nach dem politischen Selbstmord der Koalition bis auf weiteres.
Protestbewegungen erfordern in Zeiten von Facebook, Twitter und Instagram vor allem ein ›Gesicht‹, das auf jedem Smartphone, iPad und Computer zur Empörung aufruft – wie Greta Thunberg und die Jugendbewegung ›Fridays for Future‹ beweisen. Allerdings lassen sich Gesicht wie Bewegung ebenso rasant und flächendeckend diskreditieren. Die Auswirkungen des gegenwärtigen Thunberg-Bashings können noch nicht abgeschätzt werden. Sicher ist jedoch, dass es in Österreich wahrscheinlich eines globalen Demonstrationszuges bedarf, auf den es aufzuspringen gilt, um dauerhaft in Fahrt zu kommen. Mit dem Bummelzug österreichischer Provenienz kommt man nicht weit.
Damit Empörung politisch und gesellschaftlich nachhaltig Wirkung entfalten kann, sind ganz bestimmte Faktoren notwendig: Eine Galionsfigur, entschlossener Einsatz der neuen Technologien, ganz wenige konkrete Anliegen und Ziele.
2010 hatte der ehemalige französische Widerstandskämpfer, Diplomat und Aktivist, Stéphane Hessel, in seinem viel bejubelten 14-seitigen Essay aufgerufen: ›Empört Euch!‹ – über die politische Entwicklung, über die Finanzkrise 2008, über die Gefährdung der Menschenrechte, über Diskriminierung etc. Der Aufruf verhallte bald und wurde von neuen Empörungswellen übertönt. Hessel war damals 93 Jahre alt. Würde er heute twittern? •