Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?
Bücherstory
Unsere Realität erwärmt sich langsam für die Fiktion: Das Genre heißt ›Climate Fiction‹.
Im Jahr 1975 hatte der überaus populäre TV-Showmaster Rudi Carrell einen Radiohit: ›Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?‹ Darin trauert er Hitzewellen mit ›bis zu 40 Grad im Schatten‹ nach. Im selben Jahr sagte die Anthropologin und Feministin Margaret Mead bei einem Symposium über globale Erwärmung: ›Wenn die Völker nicht allmählich die ungeheuren langfristigen Folgen von Entscheidungen begreifen, die jetzt so harmlos wirken, gerät womöglich der gesamte Planet in Gefahr.‹
Diese Diskrepanz zwischen populären Meinungen, die schließlich auch auf politischer Ebene wirksam werden, und wissenschaftlichen Hard Facts, kennzeichnet die Debatte der letzten vier Jahrzehnte. (Abgesehen von der Verwechslung von Wetter und Klima.) In dem 2019 erschienenen und auch auf Deutsch vorliegenden Buch ›Losing Earth‹ schreibt der US-amerikanische Autor Nathaniel Rich eine Chronik der Ignoranz am Beispiel mehrerer, meist US-amerikanischer Wissenschaftler, die vergeblich gegen Verharmlosung und Leugnung ihrer Erkenntnisse kämpften.
Hin und wieder schienen sie Erfolg zu haben. So gab es gegen Ende der Regierungszeit des US-Präsidenten Jimmy Carter Fortschritte im Bestreben, sich mit der CO2-Problematik auf politischer Ebene zu befassen. Am 3. April 1980 fand zum Beispiel die erste Kongressanhörung zum wachsenden CO2-Anteil in der Erdatmosphäre statt. Doch am 4. November des Jahres wurde Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt, und dessen konsequent neoliberale Wirtschaftspolitik machte die ökologischen Fortschritte Carters rückgängig. Trotzdem veröffentlichte noch eine Abteilung des Weißen Hauses einen Bericht, der davor warnte, dass es bei einer weiteren unbegrenzten Verbrennung fossiler Brennstoffe zu einer Erderwärmung mit katastrophalen Folgen kommen könnte.
Die Massenmedien setzten auf das Thema, sei es aus Sensationslust oder Besorgnis. Am 22. August 1981 berichtete die New York Times auf der Titelseite von einer NASA-Studie:
›Es könnte sogar ausreichen, die Eisdecke der Westantarktis zu schmelzen und zu entfernen, was schließlich zu einem weltweiten Anstieg des Meeresspiegels um 15 bis 20 Fuß führen würde. In diesem Fall würden 25 Prozent von Louisiana und Florida, zehn Prozent von New Jersey und viele andere Tiefebenen in der ganzen Welt innerhalb eines Jahrhunderts oder weniger überflutet. Die Funktionsweise des Treibhauses.‹
Währenddessen arbeitete eine noch von Jimmy Carter eingesetzte Kommission von wissenschaftlichen Koryphäen weiter an einer umfassenden Analyse des CO2-Problems, deren Report im Oktober 1983 veröffentlicht wurde: ›Changing Climate – Report of the Carbon Dioxide Assessment Committee‹. Die 500 Seiten des Berichts laufen auf folgende Zusammenfassung hinaus: ›Wir sind zutiefst besorgt über Umweltveränderungen dieser Größenordnung. Der vom Menschen verursachte Ausstoß von Treibhausgasen wird das ohnehin schon unnatürliche Klima in ungewöhnlichem Ausmaß erwärmen.‹ Dieser Schluss wird mit zahlreichen Fakten untermauert, dennoch versuchten die Sprecher der Kommission, die Gefahren herunterzuspielen, indem sie betonten, der amerikanische Erfindergeist werde das Problem in den nächsten hundert Jahren schon lösen. Dabei war zur selben Zeit ein Bericht der US-Umweltschutzbehörde zum Schluss gekommen, es gebe keine Gnadenfrist. Was in der Öffentlichkeit aber am meisten zählte, waren Schlagzeilen wie die der New York Times zum Thema: ›Wachsender Widerstand gegen Übereilung bei Erderwärmung‹.
Ein
Science-Fiction-Autor in Australien verfolgte offensichtlich die Debatten und las die einschlägigen Veröffentlichungen sehr genau: George Turner. Sein 1987 erschienenes Buch ›The Sea and Summer‹ (auf Deutsch 1991 als ›Sommer im Treibhaus‹) gilt heute als eines der ersten Exemplare eines Genres, das erst seit 2013 einen Namen hat: Climate Fiction, kurz Cli-Fi. ›Cli-Fi
widerspricht in gewisser Weise dem gesunden Menschenverstand, es ist die fiktive Darstellung wissenschaftlich fundierter Vorhersagen, die zu viele Menschen als Fiktionen werten.‹ So charakterisierte Katy Waldman im November 2018 im New Yorker die Gattung, die augenscheinlich zurzeit boomt. Waldman bespricht nämlich die Online-Kompilation ›Warmer‹, veröffentlicht von Amazon im Rahmen der ›Original Stories‹, bestehend aus sieben Kurzgeschichten. ›The climate changes us all. Fear and hope collide in this collection of possible tomorrows‹, so die Werbung. Im New Yorker wird nüchterner formuliert, ›Warmer‹ biete Gelegenheit, über etwas nachzudenken, woran wir verzweifelt nicht denken möchten: den beginnenden Tod des Planeten.
George Turner hatte in seinem Roman schon 20 Jahre früher darüber nachgedacht, aufgrund von Fakten, die man, so man es wollte, bereits Jahrzehnte kennen konnte. Er lässt eine weibliche Figur im Jahr 2061 sinnieren: ›Es war der Winter, der unmerklich aus dem Kreislauf der Jahreszeiten dahinschwand, während der magische Sommer regnerisch und bedrohlich und tropisch feucht wurde. Es gab milde Winter, dann ziemlich warme, dann kurze Winter, die schließlich in ausgedehnten Herbstperioden ohne richtigen Winter aufgingen.‹
Und sie stellt fest, dass man es hatte kommen sehen: Man wusste es. Schon in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts sei man gewarnt gewesen, aber man war sehr beschäftigt.
Tatsächlich erfuhr der Treibhauseffekt in den 1980ern in Politik und Medien der USA große Aufmerksamkeit, Abgeordnete wie Al Gore oder Joe Biden rangen im Kongress um Aufmerksamkeit für das Problem. Beide wurden später Vizepräsidenten, Durchbrüche gab es aber in der Zeit ihrer Regierungen keine. Warum Politiker, wenn sie dann in bedeutende Positionen gelangt sind, wenig bewirken, mag eine Äußerung eines Regierungsmitarbeiters aus dem Jahr 1985 erklären, die Nathaniel Rich in ›Losing Earth‹ zitiert: Das Schicksal der Zivilisation hänge von der Bewältigung des Treibhauseffekts ab, dennoch sei es kein ›politisches‹ Problem. Ohne eine erkennbare, erreichbare Lösung sei jede politische Strategie zum Scheitern verurteilt. Kein gewählter Politiker sei wild darauf, auch nur in Hörweite des Scheiterns zu kommen.
Außer den Wählern ist der Politiker schließlich auch den Lobbyisten und Geldgebern verpflichtet. In ›Losing Earth‹ wird etwa detailliert geschildert, wie Interessen der Industrie Anfang 1989 Initiativen der neugewählten Präsidentschaft George H. Bushs abwürgten. Hingenommen werden sollten nur solche Maßnahmen, die ›mit allgemeineren ökonomischen Zielen vereinbar‹ seien, mit anderen Worten: die den Gewinn nicht beeinträchtigen.
An anderer Stelle schreibt Rich: ›Die Volkswirtschaft, jene Wissenschaft, die den Wert menschlichen Verhaltens beziffert, veranschlagte den Wert der Zukunft als äußerst gering. Der schnelle Gewinn machte die Kosten langfristiger Risiken vernachlässigenswert.‹
Ein Protagonist in ›Sommer im Treibhaus‹ grübelt 2045, als die unteren Stockwerke der Wohnsilos, in die die Verlierer der ökologischen und ökonomischen Krise abgeschoben worden sind, schon unter Wasser stehen: ›Wir erkannten die Dummheit der grundlegenden Vorstellung, der Expansion sei nur von den natürlichen Ressourcen eine Grenze gesetzt, verstanden aber nicht, wie sich die Volkswirtschaftler früherer Zeiten davon hatten verleiten lassen können. Unter ihren Theorien waren keine gewesen, um den Verfall aufzuhalten.‹
In einem themenverwandten Roman, ›The Year of the Flood‹ von Margaret Atwood, erkennt eine Protagonistin um die Mitte des 21. Jahrhunderts rückblickend: ›Jeder wusste es. Niemand gab es zu. Wenn andere Leute darüber diskutierten, blendete man es aus, denn es war offensichtlich und undenkbar zugleich: Wir brauchen die Erde auf.‹ Die Flut des Titels ist eine trockene Flut, der Begriff bezieht sich auf das Aussterben aller bis auf wenige
Menschen durch eine namenlose Epidemie, verursacht durch die malträtierte Schöpfung. Der Verfall ist auch hier nicht nur ökologischer Natur.
2019 schreiben Wissenschaftlerinnen, darunter eine Beraterin der deutschen Bundesregierung, mit dem Klima kippe auch die soziale Balance. Die Kosten der Verluste an Arten, Natur, Lebensqualität und Wirtschaftsgrundlagen würden vor allem arme Menschen weltweit tragen, die nicht die Verursacher sind. Es fehle an gelebter Verpflichtung gegenüber dem Wohlergehen aller. Die Autorinnen müssen auch heute noch immer Argumente zurückweisen, wie sie seit Jahrzehnten verwendet werden. ›Trotz aller Fakten hören wir in Talkshows, Artikeln und öffentlichen Stellungnahmen nur von wirtschaftlichen Sachzwängen oder Zumutungen für die Bürger. […] Als wäre der Erhalt von Regenwäldern, Korallenriffen, Wildblumenwiesen und menschlichen Lebensräumen ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.‹
In ›Sommer im Treibhaus‹ sind die Folgen solch einer Haltung bereits weit fortgeschritten, die Menschen sind in Positivler und Negativler gesondert. Erstere haben Jobs und Einkommen, letztere, neun Zehntel der Bevölkerung, leben in Ghettos von staatlicher Fürsorge. Den abstiegsgefährdeten Positivlern und der Regierung hilft es, dass sie noch auf jemanden herabsehen können. Eine zur Vernunft gekommene Gewinnlerin des Systems erkennt: ›Wir hatten die Klassenkluft als ökonomische Notwendigkeit geschaffen, um die aus den Fugen gehende Welt in den Griff zu bekommen, und sie nicht als Müllkippe erkannt, die uns bei lebendigem Leibe verschlingen konnte.‹
Eine datensammelnde Überwachungsgesellschaft, die sich zwingend aus den Verhältnissen ergibt, beschädigt nämlich alle Mitglieder. ›Die Bullen der Finanzabteilung können alle per Armbandcomputer oder Computer ausge
führten Operationen sogar rekonstruieren, wenn sie gelöscht worden sind.‹ George Turner war nicht nur hier – Smartphone und Smartwatch gab es erst Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Buches – in den zu erwartenden Auswirkungen der Malaise ziemlich akkurat.
Margaret Atwood benötigte drei Jahrzehnte später in ›The Year of the Flood‹ weniger Extrapolation in die Zukunft, die Vorstellung einer totalitaristischen Überwachung und einer segregierten Gesellschaft, kontrolliert durch die gesichtslose Macht der Konzerne, braucht nicht allzu viel Phantasie. In einem Anhang schreibt Atwood, das Buch sei Fiktion, aber die allgemeinen Tendenzen und viele der darin enthaltenen Details seien alarmierend nahe an den Fakten. So meldet die Süddeutsche Zeitung am Tag, als diese Zeile geschrieben wurde, spanische Forscher sollen in China Mischwesen aus menschlichen Zellen und Affen erzeugt haben. Im Roman sind gentechnisch erzeugte Tierarten und menschliche Eigenschaften allgegenwärtig, erwähnt wird ein Schwein mit menschlichen Gehirnzellen.
Überwachung und ›Lug und Trug, mit dem ein monströser Staat Ordnung hält‹ bestimmen das Leben der Menschen in ›Sommer im Treibhaus‹ und in ›The Year of the Flood‹. Es Lug und Trug zu nennen, mag nur wenig übertrieben sein im Zusammenhang mit dem Eingriff des Weißen Hauses in einen Bericht an den Senat im Jahr 1987, der feststellte, ›die ganze Welt werde in den 2010er-Jahren eine deutliche Erwärmung erleben‹. Immerhin dürfte die damalige US-amerikanische Regierung die Tatsache des Klimawandels zur Kenntnis genommen haben. Heute, so Nathaniel Rich, mache sich eine ›Regierung, die Bestimmungen für kohlebetriebene Kraftwerke lockert oder wissenschaftliche Daten von einer staatlichen Webseite löscht‹ der Verbrechen an der Menschheit schuldig. Im Zeitalter der Sozialen Medien hören und lesen die Menschen solche Stimmen wahrscheinlich seltener als Verschwörungs- und andere ›Theorien‹ im Internet. Wie heißt es in ›The Year of the Flood‹: ›Das Internet war so ein Wirrwarr von Fakten und Faktoiden, dass niemand mehr etwas glaubte, oder sie glaubten alles, was auf dasselbe hinauslief.‹ Wenn man zum Beispiel ›Margaret Mead climate change‹ – siehe Anfang des Artikels – googelt, kommt als neunter Treffer ein auf den ersten Blick wissenschaftlich erscheinender Artikel, der Margaret Mead der Erfindung des ›Schwindels Globale Erwärmung‹ anlässlich der Konferenz 1975 beschuldigt.
Das ist nicht nur dumm, sondern zeugt auch von Unwissen. Der Ozeanograph Roger Revelle verwendete als einer der ersten den Begriff ›Treibhaus‹ im Zusammenhang mit Klima. Unter dem Titel ›One Big Greenhouse‹ wird er im Time Magazine vom 28. Mai 1956 mit der Frage zitiert, ›ob nicht die Fabrikschlote und Auspuffrohre des Menschen irgendwann dazu führen werden, dass die Straßen von New York und London in Salzwasser schwimmen‹.
Das könnte der Autor J. G. Ballard gelesen haben, der 1962 in ›Drowned World‹ (Deutsch 1970 als ›Karneval der Alligatoren‹) eine Zukunft geschmolzener Eiskappen und steigender Meeresspiegel beschreibt. Die Handlung spielt in einer subtropischen Lagune, auf deren Grund London liegt. Wenn im Roman auch nirgends auf eine von Menschen verursachte Katastrophe verwiesen wird, so sind ›allgemeine Tendenzen‹ der Realität, wie Margaret Atwood sie nennt, durchaus erkennbar. Das betrifft vor allem die Umweltinstabilität und die wechselseitige Abhängigkeit ökologischer Faktoren. In ›Losing Earth‹ wird immer wieder festgehalten, dass ein stabiles Klima vom ›Verhältnis von Sonne, Atmosphäre, Land und Meer‹ abhängt. In allen drei erwähnten Romanen ist dieses Verhältnis aus dem Lot.
Das Wetter ist darin übrigens trotzdem oft angenehm.