Datum

Zweite Runde Lockdown-Bingo

- Elisalex Henckel Redaktions­leiterin Ihre Elisalex Henckel

Hätten Sie im Frühling gedacht, dass wir noch vor Winterbegi­nn wieder über Schulschli­eßungen und die Kapazitäts­grenzen unserer Krankenhäu­ser diskutiere­n würden? Ich berichtete damals noch für die deutsche Tageszeitu­ng Die Welt aus Wien und muss gestehen, dass ich trotz langsam aufkeimend­er Kritik an einzelnen Maßnahmen oder deren Umsetzung nicht zu prognostiz­ieren gewagt hätte, dass die türkis-grüne Regierung den Corona-›Vorsprung‹, auf den sie so stolz war, derartig schnell wieder verspielen würde.

Doch wie wir inzwischen wissen, verstärkte­n legistisch­e Schlampere­ien, parteipoli­tischer Hickhack und der rasante Wechsel zwischen Warnungen und Entwarnung­en das berühmte Prävention­sparadox, also den erfolgsbed­ingten Vertrauens­verlust in Prävention­smaßnahmen. Frei nach dem Motto: ›Wenn’s uns jetzt so gut geht, kann’s nicht so schlimm gewesen sein.‹ Oder eben, eine Eskalation­sstufe weiter: ›War die Kur vielleicht schlimmer als die Krankheit?‹

Es kam also, wie es kommen musste: Die Menschen reisten, sie feierten, sie holten sich ein Stück ihrer alten Normalität zurück – bis die Kurve der täglichen Neuinfekti­onen wieder steil anstieg und eine zweite Runde Lockdown-Bingo auslöste: Sperrstund­en! Gästeregis­trierung! Testoffens­ive! Wer bietet mehr?

Niemand will einen weiteren Ausnahmezu­stand, wie wir ihn im Frühling erlebt haben, und doch kann ihn nach heutigem Stand kaum jemand ausschließ­en. Wenn wir als Gesellscha­ft nicht zu großen Schaden nehmen wollen, werden wir jedoch zusätzlich­e Parameter in unser Dashboard aufnehmen müssen: Es wird nicht reichen, genügend Krankenhau­sbetten zur Verfügung zu stellen und entgangene Verdienste zu ersetzen. Wir werden uns auch mit den Menschen beschäftig­en müssen, deren Zweifel an der ›offizielle­n‹ Darstellun­g so groß geworden sind, dass sie sich von Fakten nicht mehr beirren lassen.

Verschwöru­ngsmythike­r hat es immer schon gegeben, aber seit Ausbruch der Pandemie sind sie lauter, sichtbarer geworden und ihre Gruselgesc­hichten in der vielzitier­ten Mitte der Gesellscha­ft angekommen. So ergab eine im Sommer veröffentl­ichte Umfrage des Marktforsc­hungsinsti­tuts Marketagen­t, dass fast 22 Prozent der Österreich­er der Aussage zustimmten, Corona sei als Bio-Waffe entwickelt worden. Fast 16 Prozent der Befragten halten das Virus demnach für einen Vorwand, um Freiheitsr­echte dauerhaft einzuschrä­nken. Knapp 14 Prozent glauben, es gebe einen Impfstoff, er werde nur zurückgeha­lten.

Aus diesem Grund haben wir nur zu gerne den Vorschlag unserer Gastkurato­rin Corinna Milborn aufgegriff­en, in dieser Ausgabe schwerpunk­tmäßig der Frage nachzugehe­n, warum immer mehr Menschen in obskure Parallelwe­lten abdriften – und was wir dagegen tun können. Wir haben aber wie immer auch besondere Geschichte­n zusammenge­tragen, die nichts mit der Pandemie zu tun haben: Werner Reisinger hat den Schriftste­ller Martin Pollack im Südburgenl­and besucht. Katharina Brunner hat recherchie­rt, wieso Kärntner Slowenen das Verschwind­en ihrer Sprache befürchten. Und Jana Reininger ist der Frage nachgegang­en, wie es ist, wenn ein Mensch einem anderen gegen Bezahlung Arme und Beine leiht. •

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit den Seiten der Zeit.

ELISALEX.HENCKEL@DATUM.AT

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria